Nach-Denker 4

JA NUN, MAGDEBURG IST AUFGESTIEGEN.

Alle Reisen gereist. Alle Lesungen getätigt. In Eupen, Aachen und Bonn den Monat Mai beendet. Nun ist es an mir, mich an die Ruhe zu gewöhnen. Nichtstun ist eine schwierige Aufgabe.

2008-11-20_Magdeburg 1981

Ich ordne Sachen, räume im Schreibzimmer auf, wasche Wäsche, koche Tee, bereite Kaffee zu, lasse ihn kalt werden, sehe fern, höre Musik, schreibe ein wenig, lese in einem fremden Manuskript, schreibe Postkarten, surfe ein bisschen im Internet, lese das Buch weiter, das ich im Zug begonnen habe, wen es interessiert: On The Road von Jack Kerouac, noch einmal nach über dreißig, fast vierzig Jahren, ein Buch, das so lange darauf warten musste, von mir ein zweites Mal Gelsen zu werden, und dann werde heute noch durch die Stadt spazieren, links und rechts sehen, mir Menschen angucken, kurze Gedanken zu ihnen haben, einige Beobachtungen machen, die dann aufschreiben, und abends bin ich dann in einem Klub beim Jazz.

Übrigens habe ich gerade 3Sat an, höre fünfunddreißig Minuten lang Strawinski, mein Lieblingsmusikstück SACRE DU PRINTEMPS, dirigiert von Kent Nagano, in der Schweiz auf dem Verbier Festival 2013. Ich war einundzwanzig oder zweiundzwanzig Jahre jung und saß bei einem Freund im Keller. Auf dem kleinen Fernseher lief das Ballett mit Pina Bausch. Ich hatte die Musik nie vorher gehört und auch kein solches Ballet je erlebt. Ich war berauscht und behielt den Zustand unter dem Wort: be-pinabauscht. Bepinatbauscht zu sein ist ein gewaltiger emotionaler Zustand, der mich ergreift und körperlich jubeln lässt. Vor drei Tagen, als ich von Magdeburg nach Aachen über Köln fuhr, kam ich kurz auch durch Wuppertal, was ich an der Hochbahn, die überm Fluss errichtet worden ist, sofort erkannte. Ich war damals mit Erich Maas und Harry Hass auf einer Lesetour in dieser Gegend. Meine Freundin Katja spielte dort später am Theater. Und einmal ist bei Reparaturarbeiten eine Klemme nicht wieder abgenommen worden und es ist ein böses Bahnunglück passiert. Mir war plötzlich bewusst, dass nun bald die Mauer so lange weg ist wie sie Bestand hatte. Achtundzwanzig Jahre. Und ich zwang mich, nicht weiter darüber nachzudenken.

In Aachen lernte ich einen Mann kennen, der viele Jahre schon an seinem Manuskript arbeitet und kein en Verlag findet. Ich bat ihn, mir sein Manuskript zuzuschicken. Ich würde ihm so gern behilflich werden. Es wird Zeit, dass wieder mehr Kleinverlage entstehen, sagte ich zum Abschied zu ihm. Ich habe kurz an Wortreich in Wien gedacht, wo ja im Herbst mein Dylan-Text erscheint. Nun werde ich mich erst einmal in die dreihundert Seiten hineinlesen.

Ach, die beiden Querflöte spielenden Frauen tragen so schönes, lockiges Haar, die eine offen, die andere zu einem losen Dutt am Hinterkopf gebunden.

Kräh a tief

Kreativer TEFFER beim KreativTREFFEN mit Fussball und Nachspeise

Ich war gestern auf dem Empfang der Kreativen im Forum Gestaltung, das war mittelprächtig besucht und fing verspätet an. Zeitgleich war ganz Magdeburg im Fussballfieber. Das Relegationsspiel gegen Offenbach. Deswegen waren ganz sicher ein paar Interessenten ausgeblieben. Im Hauptsaal (Galerie mit Werken von Schwarz) agierte eine Art Motivator am Pult, der keine Haare auf dem Kopf hatte, in einem beinahe zu engen Anzug steckte, der ihn wie einen Türwärter auf Mallorca aussehen ließ, der übers Verkaufen säuselte, alle mit „du“ ansprach a la: Kennt ihr auch und Wer von Euch hat denn schon auch einmal? Ich sage einmal so – Verkauf mag ja wichtig sein. Wichtig aber war dem da nur vor allem wie sich dieser Vorgang als solches verändert hat. Früher war früher und noch viel früher als früher. Und heute ist alles heutiger also anders. Jau, das habe ich nun kapiert. Ferner: Man soll den Kunden kaufen lassen. Man soll sich nicht ihm aufdrängen. Man soll einer Strategie knallhart folgen. Der Kunde weiß eh Bescheid, hat sich längst entschieden, will nur noch umworben sein. Fazit: Nicht mein Thema. Also Fussball.

Und da rechnete ich ja eher mit einem frühen Tor und drei bis vier Dingerchen danach. Offenbach war offen und hätte den Bach heruntergehen müssen. Magdeburg vergab Chancen auf Chancen, die es von sich selbst nicht geglaubt haben wollte. So sah es aus. Die Bälle lagen den Ballerinen im Strafraum nur so vor den Füssen. Die aber stellten sich deppert an, als würden sie Ballett tanzen, und nicht fürs Runde ins Eckige sorgen müssen. Ein Tor wurde dann errangelt und das war es dann auch. Mageres eins zu Null, statt dicke Packung sechs:eins. Ob es hinreicht? Will ich hoffen ach, alles bleibt offen in Offenbach.

Danach Buffett oder Büfett oder Catering, egal. Draußen im Hof war Gutgegrilltes im Angebot. Ich stellte mir einen kreativen Teller zusammen. Kartoffelsalat muss ja sein, dazu ein wenig Tomate, Grünzeugs, Bulgarenkäse denke ich einmal, gebröckelt oder so. Und vom Fleischlichen Huhn, Bratwurst, Fleisch (eingelegt zuvor in einer Bier+Sonstwas-Soße), ein Stück Maiskolben. Der ließ mich sofort an Ungarn denken. Ich war 19. Und der Maiskolben kam aus dem Kochtopf, wurde mit Salz bestreut und schmeckte wie, ja wie denn? Nun ich möchte sagen Maiskolben-Spezial-Eis mit gelben Stücken dran. Und weil ich so motiviert vom Vortrag des Anzugmannes war, überredete ich mich als Kunde, der sich umworben sehen will, selbst zur Nachspeise. Ich machte, was sonst nicht meine Art ist, ich entschied mich für den weißen Pudding und die frischen halbierten Erdbeeren, die Fruchtsauce mit Himbeere und eine Art Blaubeere direkt aus dem Wald zu mir gekommen. Köstlich. Magdeburg hätte mir dann sogar in den letzten fünfzehn Minuten Spielzeit beinahe die Speise noch mit schönen Treffern versüßt. War aber nicht.

Zusammengefasst hat mir der Abend unter den Kreativen recht gut geschmeckt.

Und dann war ich in meiner Schreibwohnung und habe mir den Film von der Hendel über den Rainer Werner Fassbinder angesehen. Dokumentation über was denn bitte, was nicht längst bekannt ist? Hätte ich auch gut bleiben lassen können. War auch nicht so toll das Ganze. Zweimal je einen Flop an einem kurzen Ausklangs-Abend will ich nicht sagen, denn die Musikperformance nach meiner Süßspeise, war ein bissel etwas in die Richtung gehandelt, von der sonst bei diesen Kreativen nix groß abgeliefert wurde. Und die überreizten Reden um mich herum, von so auf gebildet tuenden Schnöseln, ob nun in Hose oder Rock, gingen mir echt auf den Sender. Da war absolut nichts an den Typen, was man weltoffen und auf die Menschen (wie Ideen von einem besseren Leben zu) zu spüren. Ich fühlte mich ständig wie unter jungen Funkern, die mit Lötkolbenfinger wedeln und ihre Lippen mit Geigenfett bestrichen und mit denen dann darüber sprachen, wie weit die Null gegen eins und das Einszunull von Magdeburg gegen zwei hoch drei gehen könnte?

Und nun denke ich zu mir ganz schlimm. Dass es vielleicht alles viel, viel harmloser, beinahe lapidarer war als von mir gesehen. Und Zweifel an mir und meiner Beobachtung sehr. Und schreibe zum Schluss einfach, dass ich mich bestimmt voll geirrt habe. Die Kreativen von heute können doch nicht so tief unten agieren, wie die es taten, nein! Und dass ich so harsch dazu denke, ist auch wirklich gut so. Nun muss ich mich mit den Kreativen nicht mehr weiter im Hirn befassen und mein Kopf bleibt frei für die weniger kreativen Sachen, die ich so wie kleine bunte Welpen am Hacken habe.

Nachdenker 3

Kultur beginnt im öffentlichen Raum.

Magdeburg könnte auch die erste Stadt sein, die Kultur will und jede Form von Werbung im öffentlichen Raum abschafft, dafür weitere Kunstwerke aufstellt und Aktionen zulässt. WERBUNG BRAUCHT ES NICHT. Die Leute müssen doch nicht mehr beworben werden. Also weg damit. Die Leute haben ihre Vorlieben und es ist idiotisch zu glauben, dass Riesenplakate der Firmen wirklich von den Bürgern beachtet werden. Das ist alles GELDWÄSCHE.

Zum Beispiel ein Fussballstadion: Wie bekloppt mit buntem Flimmern die Aufmerksamkeit auf sich und den Zuschauer abzulenken. Hat mit Fussball nichts mehr am Hut oder Ball.

Heute auf gleicher Höhe auf dem Dach (Haus gegenüber) einen Mann gesehen der an der Funkanlage arbeitete. Wir ZWEI dachte ich sofort – also zeitgleich beim Arbeiten – in Magdeburgs luftiger Höhe.

Wie viel Einfluss auf die Magdeburger hat wärmeres Wetter?

Man weiß ja, dass die Eisgrenze verschwindet. Das Tal war mit Eis gefüllt und nun ist es getaut und die Eiszeit vorbei. Der Gletscher muss schrumpfen. Ich mache mir keine Sorgen. Ich denke, es gibt eine Öffnung der Stadt, aber das Eis wird sich halten. Die Weltkultur-Stadt Magdeburg? Hu, wie soll sie zu bewerkstelligen sein? Da reicht es nicht, dass nur einige paar Menschen dafür sind. Die Kultur müsste von Magdeburg ergriffen werden. Aber Kultur heisst ja auch hier nur Tee zu trinken und einkaufen und Spargel essen, der einen guten Namen hat. Die Stadt mit ihren Menschen müsste ja nach außen drängen, sich beteiligen. Jeder Magdeburger müsste ja zeigen, wer er ist. Aber ich glaube, Kultur ist in Magdeburg weiter Rarität. Alles Ziegenkäse. Die Menschen bekommen hier die Kultur von außen aufgesetzt. Alles Molke. Ich sehe in dieser Stadt keinen süßlichen Dunst, keine Menschen, denen es wichtig ist, sich offen auszudrücken und anzupacken. Sie wollen die Kulturstadt von außen ermöglichen. Aber Menschen wollen Ruhe haben. Sie wollen einfach nicht gefordert sein. Konzentration tut not. Künstler – das will ich auch werden! Dieses Denken ist doch utopisch oder? Heraus aus der Isolation.

Magdeburg kann Kunst nicht gut leben, wenn die Leute nicht Kunst sind. Wäre echt ein schönes Logo WIR SIND WEIL WIR KUNST WOLLEN. Ist aber nicht einmal ein richtiger Traum. Die Wirklichkeit ist weniger kulturell.

Was mich am Wort Provinz begeistert ist die Silbe PRO nicht Kontra.

Aber aber aber.

Nach-Denker 2

Was mir am intensivsten in Erinnerung ist, war die Zeit, in der ich losgeschickt wurde, Milch zu holen. Die Milch wurde mit einem Füllgefäß in die Milchkanne geschüttet. In den Deckel kam gelbe gute Butter, obenauf ein Blatt Pergament. Ich trug die Milchkanne mit dem Deckel verkehrt herum aufgelegt nach Hause. Wenn ich zum Bäcker ging, durfte ich mir Randstücke von Blechkuchen aussuchen. Beim Schuster, der zwei bis dreimal regelmäßig aufgesucht und mit problematischen Schuhen bestückt wurde, gab es ein Glas zum Hineingreifen. Ich durfte vier, fünf Süssigkeiten fassen, entschied mich meist für Lakritze. Ich bewunderte die Männer und ihre Kletterschuhe, die Ledergürtel um ihre Hüften, die am Telegrafenmast hochliefen wie als wäre das nichts. Und ich rannte irgendwann nicht mehr dem Schornsteinfeger nach, ihn zu berühren. Er trug einen runden Fächerbesen mit schwerer Eisenkugel versehen und klirrte mit den Ketten. Ich wurde schwärmerisch, wenn er auf dem Dach spazierte.
Lauf zum Herr Soundso, hieß es, hole das schlanke, lange Paket ab und lass es in dem großen Beutel stecken. Es sollte nicht jedermann den selbstgeräucherten Aal sehen. Mit dem Aal fuhr der Vater meines Freundes nach Dresden. Er war Böttcher, baute Fässer, Waschtröge, Holzzuber für die Badestuben und Blumentöpfe. Dafür brauchte er Kupferbänder, die es nur dort gegen Räucheraal zu erwerben gab. Dafür, dass ich den Aal beim Fischer abholte und ihn zum Vater meines Freundes schuf, bekam ich aus Pirna einmal ein paar Hausschuhe aus Lebkuchen mitgebracht. Ich hätte die beiden Pantoffel sofort aufessen dürfen, ließ es aber bleiben und erfreute mich am Anblick. Die gepfefferten Kuchenlatschen wurden steinhart. Ich lief mir in ihnen die Füsse wund und fühlte mich wie eine russische Matroschka in ihnen. Das war beim Training besonders schmerzlich. Ich hatte mir im Hinterhof eine Hochsprung-Anlage eingerichtet, wollte Olympiasieger werden und trainierte dafür eisern. Die Latten fertigte mir der Tischler im Ort an. Sie waren nicht zu dünn, nicht zu dick, zerbrachen bei ganz bestimmter Belastung und splitterten nicht, was sehr wichtig war. Der Tischler hatte sich genau beschreiben lassen, wozu ich sie zu nutzen gedachte. Die Grossmutter saß am Fenster und schaute mir beim Training zu.
Da gab es noch den Scherenschleifer. Meine Eltern schickten mich mit Besteck und Scheren zu ihm und besonders wichtig war ihnen das Wippmesser. Ein geschwungenes Eisending mit zwei rot lackierten Griffen, das auf dem Brett hin und her über Gartenkräuter geschwungen wurde. Wir sammelten alle Essensreste für die Specki-Tonne. Da kam ein Mann mit stinkendem Pferdefuhrwerk und eine Tonne, in die hinein alle Hausabfälle für die Schweine außerhalb des Ortes geschüttet wurden. Der Gestank blieb lange haften. Es gab den Mann mit den goldenen Händen, der Uhren reparierte und die Frau, die Löcher stopfte, Maschen aufhielt. Bei der Gärtnerin bestellten wir Gebinde und Kränze und große Blumensträuße auf den Tag genau und die Stunde. In der Metallfabrik stellten sie Kerzenständer her und Gartenzaunsegmente nach der vorgegebenen Zeichnung. Und eine Keramikerin fertigte für fast alle Bewohner Türschilder an, mit Name und Hausnummer versehen. Und die Frauen trafen sich zum Krabbenpulen. Sie schnackten und tratschten und behalfen sich und verdienten sich ein Zugeld.
Es gab die Umnäherei. Es gab die Heißmangel. Es gab den Fachmann für Setzlinge in der Gärtnerei. Es gab Tanzunterricht und der Nachbar dengelte noch die Sense, schnitt Gras, trocknete es zu Heu. Wir sammelten Eierschalen für die Hühner, die er aufzog und bekamen dann legefrische Eier dafür. Man ging zum Schneider wenn wichtige Feste anstanden. Man beauftrage der Polsterer, war ein Stuhl neu zu beziehen, die Sitzfläche brüchig geworden. Man holte sich eine Menge Handwerker ins Haus. Die bohrten, hämmerten, schweißten, malerten, bauten aus, rissen ein, gestalteten individuell oder nach den strengen Regeln des Handwerkes. War ein Griff von der Bratpfanne gebrochen, der Fernseher, das Radio entzwei, trug man es zum Laden und bekam es nach kurzer Zeit heil zurück. Selbst Regenschirme wurden irgendwie wieder instandgesetzt, Jacken mit Ärmelschoner versehen, wenn sie am Ellenbogen durchgescheuert waren.
Mitunter durfte ich beim Meister bleiben und er erledigte die Reparatur umgehend, weil es für ihn einen Klacks bedeutet, den Kleisterpinsel zu schwingen, die zerbrochenen Teile zusammenzufügen. Und alle meine Sinne kamen auf ihre Kosten. Meine Augen strahlten vor Aufregung, den geschickten Fingern zuzusehen. Meine Ohren hörten sich satt an den verschiedensten Geräuschen in der Werkstatt. Meine Nase vibrierte von den seltensten Gerüchen und waren süchtig nach Holzspan, Blütenduft, Lötfett, verbrannten Haaren und Bunsenbrennern. Ich fasste die fertigen Dinge so gern an, roch an ihnen, erfreute mich an ihrer Frische und Neuartigkeit. Ich hätschelte das olle Radiogerät, dass mir der Tischlermeister vermachte, weil es alle Spuren von von Handwerk und Werkstatt aufwies und mir die Gewissheit schenkte, mit seiner Musik den Arbeitstag der Leute bereichert zu haben. Ich vermisse all das Verlorene sehr.

Nach-Denker 1

Magdeburg hat längst sein Handwerk kaputt gemacht.

Nehmen wir das Aussterben von kleinen Läden wie Schusterei, Schlachter, Wurstmacher, Lederhandwerker, Böttchers und Schneider und mehr Berufe ist offensichtlich. Es gibt nur noch große Ketten. Es gibt nur noch die Herrschaft der Konzerne. Nicht mehr die kleinen Hütten, die kleiner Reparaturen ausführen. Jetzt muss man (und zahlt den Mist auch noch) im Voraus für eine sauteure Reparatur löhnen, unverschämte Wartezeiten in Kauf nehmen, unanständige Summen zahlen – und bekommt dann noch gesagt, sich lieber ein neues Gerät zu kaufen, als es in Reparatur zu geben. Und die Reichen werden reicher. So ein Millionär – das ist irgendwie nicht mehr was so einer einmal war. Der kleine Handwerker würde es für ein paar Euros nebenher erledigen und sich freundlich noch für den Auftrag bedanken. Das hat sich diese Stadt wie viel andere Städte aber auch seit dem Mauerfall konsequent und blauäugig selbst eingebrockt.

Nehmen wir den schlauen Westen. Nehmen wir Franken zum besten Verständnis, das man dort nicht so blind in die neue Zeit nach dem Mauerfall hinein gerasselt ist. Dort gibt es die kleinen Klitschen noch und in jedem Ort fast eine kleine Brauerei, und Wirtshäuser mit Pension und Handwerksläden. Alles was im Osten in den Sack gesteckt wurde. Ich habe meine Jazz-Schallplatten damals für zehn Pfennige das Stück kaufen können, weil das Label „Amiga“ = Osten war und also die amerikanische Platte plötzlich nichts mehr wert geschätzt wurde, weil Miles Davis (das muss man sich einmal ausmalen und auf der Zunge zergehen lassen) den Oststempel Amiga trug. Skandal. Aber so bereit war man damals alles wegzuwerfen und aufzugeben und sich selbst zu entmannen. Der Westen amüsiert sich scheckig über so viel Selbst-Aufgabe im gesamten Osten. Der Westen hält standhaft fest an Kleinbetrieb und Tanteemmaladen. Das Dilemma ist doch immer wieder die Gleichschaltung. Magdeburg muss auf das Eigene bestehen, retten was an selbst in Magdeburg noch vorhanden ist. Ansonsten wird Amerika alles weitere hier durchweg madeburgisieren = amerikanisieren.
Nehmen wir den Anteil Amerika, den Magdeburg bereits hat. Und sagen wir es laut: Amerika ist kein gutes Vorbild. Amerikas Menschen sind absolut zu inaktiv und lahm. Amerika lässt sich viel lieber alles von oben vorschreiben und managern. Amerikanische Man fährt bis zur Kasse vor. Man chauffiert sich durchs Leben. Man fährt selbst in die Dimension meint, man fährt bis Grube mit dem Wagen vor. Amerikas Dimension meint auch, was an Magdeburg bereits auffällig und in Zukunft störend sein muss: Schoppen und ausruhen, Eis essen und weiter schoppen. Es fehlt an allem, was Bewegung garantiert. Jugend fährt noch Rad. Wenn man es aber mit Berlin und Köln vergleicht, so gibt es in Magdeburg Radfahrer nicht nur Friseure, Fitnessklubs und Tattoo-Läden.
Nehmen wir das einfach nur die menschliche Bequemlichkeit fördernde Einkaufszentrum zum Beispiel gleich am Ausgang zum Bahnhof ist vollkommen Amerika von der schlimmen Seite her. AmerikasBevölkerung ist freundlich, faul, fusslahm, gutmütig und lebt sehr ungesund. Man muss sich die Amerikaner nur kurz ansehen, sie mit dem gängigen Magdeburgern in Verhältnis zu setzen. Beide sind sie eben leicht besser als nötig ernährt, Tendenz dicklicher als der Rest Deutschlands. Ja gut, die Männer hier können es mit sportlicher Aktivität etwas ausgleichen, jedoch nichts daran ändern, dass auch sie Magdeburger sind, also insgesamt pro Körper und Kopf mit Amerika gleichziehen und regelmäßige Pfunde auf die Waage bringen werden.
Nehmen wir die Innenräume. Es ist jammerschade, wirklich, dass Magdeburgs Innenstadt bald schon nur noch aus Parkplätzen und Einkaufsparadiesen bestehen muss. Amerika meint eben Konzertration und Hilfestellung was die Bequemlichkeit betrifft. Alles für die Unbeweglichen. Und dann hat man noch ein paar Heiligtümer. Sagen wir gute bis sehr gute Musik-Klubs. Da ist hier noch Aufholungsbedarf. Wir brauchen in Magdeburg den anerkannten über Magdeburgs Grenzen hinaus weltweit bekannten Musikklub, die Leute nach Magdeburg lockende Musikhall, das wirklich tolle Theater, das mit seinem Namen für die Stadt steht, wie es inAmerikas Städten der Fall ist. Chicago. Los Angeles. Nicht einmal diese Schnöselband Tokio hat nach Magdeburg zurück geflutet. Stattdessen haben sie ihre in Magdeburg angewöhnte amerikanische Mentalität und Bequemlichkeit nach Amerika ausgeführt. Sie allein hätten Magdeburg durch heimatliebe und so etwas einen Boom in der Kultur bescheren können, wären sie nur treuergeben genug dem Ort gewesen.
Nehmen wir die Abschottung hierzulande und in Magdeburg speziell. Es müssen auch viel viel mehr Hecken und Zäune, Maschendrahtgrenzen und Grundstücksmauern abgebaut werden. Das hat Amerika uns längst voraus. Man lebt dort freien und zwanglos ohne derartige Behinderungen nebeneinander, ist sozusagen im Kleinen bereits weltoffener als in den Wohnvierteln Magdeburgs.
So weit die paar Gedanken fürs Erste – das Nachdenken aber wird fortgesetzt

Ich habe den Bahnstreik beendet oder MAGDEBURG IST BEINAHE SO WIE AMERIKA

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Schöner Tag heute. Studio-Arbeit beendet. Nun müssen unsere Töchter ran, Mädchen im Chor singen, dass die Musikstücke den gewissen Tick bekommen. Oh, welche Freude, Vorfreude.

Sehe gerade einen Film über die Indianer, Amerika. Bin ja der Meinung, Magdeburg ist nur mit amerikanischen Dimensionen zu betrachten. Breite Strassen, nur nicht so hohe Häuser, die an den Wolken kratzen. Unbebaute Flussufer. Fährdienst, der ans letzte Jahrhundert erinnert. Brachland wie in Detroit, das ich Distroid nannte. Leerstand, wo einst Industrie den Ton angab. Hier zeugen davon genauso viele Ruinen, Abraum, entkernte Freiflächen. Man hat immer eine gewissen Ahnung von einer damaliger Blütezeit hier. Pionierzeiten. Glücksrittertum. Der stahlharte Osten. Das romantische Bild der edlen Arbeiter. Magdeburg löst Manie aus. Große Einkaufszentren mitten im Stadtkern. Das ist Magdeburg. Bahnen helfen Strecken überwinden. Es gibt das Innenstädtische, die funktionale Stadt und Außenbezirke. Das Leben der Leute läuft hier ab. Es wurde somit also eng und enger in dieser Stadt.

Heute ist davon nichts mehr zu spüren. Heute gibt gibt es diese lächerlichen kleinen Grüppchen, die streiken. Kindergärtnerinnen ausgenommen, die sollen mehr Geld bekommen. Kinder sind Zukunft. Die Hausmädchen, die fürsorglichen Kitafrauen – all sie ermöglichen diese Zukunft, halten ehrgeizigen Eltern die Rücken frei.

Wenn ich an Streik denke, denke ich an weit, weit früher die Zeiten. Damals waren das noch behelmte Massen, Arbeiter fest miteinander eingehakt gehen in breiter Front die Straßen ab und schwenken Fahnen und sehen kampfentschlossen, leidenschaftlich aus. Und sie brauchten damals keine selbstgefälligen Sprecher, wie diesen Kasparkopf mit süßen Schnauzer zur Oberlippe, die er nicht einmal riskiert – he, die werden immer mehr, diese Typen, die sich so gern in die Medienwanne stürzen und es toll finden, die Macht zu haben, für Massen reden zu dürfen. Und Klar ist nur die Ungewissheit.

(Eben, als ich es schreibe, meldet man das Ende der Witzveranstaltung Bahnstreik genannt.) Ich bin jetzt noch mehr als fest davon überzeugt, dass meine Reisepläne den Streik beendet haben. Ja doch. Magdeburg-Berlin-Magdeburg ist die wirkliche Streikbrecher-Strecke. Beweis: Hätte morgen rasch wieder einmal nach Berlin herein gemusst. Die Bahn muss Wind bekommen, den Streik eigestellt haben, damit ich aus Magdeburg heraus komme – und den Tag darauf auch fein wieder zurück reisen darf, ganz ohne streikbedingte Probleme.

Fern vom Modell „Magdeburg“ im Berliner Studio

Zurzeit ist Studio-Zeit. Zwölf neue Songs werden von mir eingesungen, von Dirk Schlömer musikalisch umgesetzt und gewissenhaft eingespielt. Titel wie:

4C0EAA46-9E4C-43F2-B1CE-BAE2FE903090_v0_hRabenTod. Fressnapf. Steter Rabe. Främdä Fädärn. Warmes Nest. Brut A. Brut B. MaschinenRabe. Schweben. Haxen. RabenGericht. The Tick. Juhu.

Und am Abend bin ich abgelaufen, aber recht froh. Treffen mit Achim und Susa aus Klagenfurt, wegen einem neuen PROjekt und so. Auch atmosphärisch die Freundschaft pflegen. Wie viele Magdeburg-Lieder es wohl gibt, bin ich gefragt worden? Erst dachte ich eines, eben das Magdeburg-Lied. Dann fielen mir zwei weitere Lieder ein, nun interessiert mich das, und ich habe mein Thema, wenn ich übermorgen aus dem Studio zurück im Leben bin. Magdeburger Lieder ergründen.

Heute morgen um sechs Uhr einen Beitrag über DDR-Fernsehen angeschaut: Mit mir nicht, Madam hieß ein Film, der vorgestellt wurde. In diesem Mode-Film gibt es das Modell „Magdeburg“. Ein Film mit Rolf Römer und der großen Annekatrin Bürger. Das Modell „Magdeburg“ tritt an einem schönen Strand auf. Es ist orange bis zum Knie, klassisch geschnitten, kurzer Ärmel und weist so kleine Puschel aus orange Stoff als Hingucker auf. Nach dem Modell „Magdeburg“ folgte das Modell „Dresden“.

WIEDER STREIK. WIEDER ERSATZ-FAHRPLAN. WIEDER KOMME ICH MIR WIE ERSATZbürger vor.

Es gab einmal ErsatzKaffee in der DDR. Ein Freund fährt morgen in die Nähe von Magdeburg = Es gibt also die vage Hoffnung, dass ich morgen in die DOM-Stadt chauffiert werde. Wie hochherrschaftlich das Ganze dann insgesamt wäre? Oder: Maultiere sollte ich mir anschaffen, mit ihnen nach Magdeburg unterwegs sein, die Kultur der Wanderschaft wieder aufleben lassen. Man ist ja durch die Bahnfahrten und so schon auch ziemlich verwöhnt, nichtwahr – einen anderen Ort zu erreichen. Die Bahn fördert andere Motoren. Maultiere lassen die Flucht aus Berlin dann persönlicher erscheinen.

Ja, ich bin mit dem Radel aus, singe ich

Ab zehn Uhr bei besten Bedingungen, Sonne, Sonntag, wenig Wind, treffe ich mich vor der Tür mit Herrn Besten. Er bringt mir, weil ich keines habe, ein Fahrrad mit. Und dann halten wir Ausschau, ob sich ein besserer Platz findet für mein Manuskript, das in Magdeburg spielen wird. Am Bahnhof stehen Polizisten. Magdeburger Fans rücken an. Sie werden wohl heute verreisen, auswärts die Daumen drücken müssen. Ein paar Tage lang habe ich mein Notiz- und Terminbüchlein vermisst. Nun fand ich es in einer zweiten Tasche, die ich in den Schrank gehängt habe. So kann es kommen. Keinen Termin verpasst. Alles glimpflich ausgegangen. Demenz liegt nicht vor.

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Radfahr Bericht Nummer eins

Am Bahnhof kann man sich Räder ausleihen. Ich entscheide mich für das Rad Nummer 03232. Der Anruf bringt nur die Botschaft, das Rad, vor dem ich stehen, sei bereits vergeben. Das zweite Rad mit der Nummer 3224 ebenfalls. Nun wird es spannend. Das erste Rad besetzt, das zweite, das dritte muss gefangen sein. Siehe an, es klappt, die Schlossnummer wird übergeben, das Fahrradschloss öffnet sich mit dem Code 1204. Das ist der 12. April. Ich weiß nur, dass an diesem Tag meine erste Frau, durch Heirat war ich an sie nahezu sieben Jahre gebunden, drei Kinder immerhin habe ich mit ihr gezeugt, wobei das zweite auch gleich Kind Nummer drei war, Zwillinge eben. Es klingt wie ein Märchen wir haben nun ein Pärchen, sang ich damals gut gelaunt. Schwamm drüber, Zeit weggewischt wie eine peinliche Tagespfütze. Abhaken. Kommen nie wieder diese Tage. Nun ist Magdeburg angesagt. Radeln.
Vorbei am Café Amsterdam, Geheimtipp, geh heim, Tipp. Molls Laden gegenüber dem Flüsschen namens Schrote. Dann Ecke Klopstock/Freiherr von Stein, ein dreieckiger unspektakulärer Platz. Keine Bank zum sitzen, kein Hocker oder Stuhl, wo man sich setzen und miteinander beschäftigen, kuscheln, knutschen kann. Halt, doch. Eine Sitzgelegenheit entdeckt der Herr Beesten dann zwischen Autos. Ein großer Baumstumpf, frisch gesägt, Durchmesser locker über einen Meter breit. Kreissägenrund. Sitzhöhe noch im Rahmen von machbar. Man sitzt etwas tiefer gelegt wie in einem schicken Rennauto, nur eben im freien auf Holz, aber man sitzt wenigstens. Der Baum, der da weggemacht worden ist, könnte älter als alle Häuser um ihn herum gewesen sein.
Nächste Kneipe zum schon einmal vormerken und später aufsuchen: Schöne Ecke. Soll urig sein. Liegt in der Schopenhauer. Notiert. Wie auch die Kunstvitrine, Sitz des Vereins für irgendwie Kunstförderung. Sollen auch Lesungen möglich sein, heißt es. Kann sein, ich trete da auf. Kann man sich Übersicht unter geraldobaiano.com verschaffen, plappert die Schrift auf der Schaufensterscheibe vorlaut daher.
Ecke Immermann heißt die Kneipe NachDenker. Den John, der sie mit einem Jan, Jan & Jon vielleicht? Das ist doch das Doppel oder? Kennengelernt habe ich die beiden in der FeuerWache, als Moderatorenteam am Dylan(Bob nicht Thomas)-Abend. John schmiss nur so mit Gummibärchen um sich.
Und dann sind wir an dem Platz, von dem mein Radfahr-Unterrichter meint, der könnte für meinen Roman Bedeutung erlangen. Erlangt er beim ersten hinsehen auch. Alles da, was mein Magdeburger Platz braucht. Übersichtlich angelegt. Nicht zu groß, nicht zu winzig. Blumen-Pavillon, große Erdbeere, aus der heraus Erdbeeren in Schalen angeboten werden sollten. Heute Sonntag geschlossen. Heute Sonntag, nur gut bestückt der Container für Weißglas. Stehen da wie Fans, leer, durchsichtig, von unterschiedlichen Wuchs, Größe und Form, wie nicht abgeholt, säuberlich gereiht auf dem Container. Mehr geht nicht, dichter können sie sich nicht aneinander drängen. Die weißen Flaschen.
Nebenan der Container hat nichts abbekommen.
Heißt Olvenstedter Platz. Und der Pavillon schimpft sich Ihre Blumeninsel. Okay. Geht auch. DHL Packstation ist ganz in ihrer Nähe. Lauter gelbe Kästen in Reihe aufgestellt. Das werde ich genauer beobachten müssen, das Leben hier. Wie es sich entwickelt? Ob die Leute auch genügend hier vorbei huschen und nur das Nötigste erledigen? Und dann auch rasch wieder weg sind mit der Bahn oder ihren Hunden an Leinen?
In der Nähe soll noch die Kneipe Klamauk sein. Das ist ja auch so ein Name des Vertrauens. Da möchte man gern versacken. Beschlossenen Sache. Ich werde hier sitzen und darüber nachdenken, was für eine Birke das sein könnte da direkt vor der Blumeninsel? Bäume möchte ich in meinem letzten Lebensabschnitt noch hersagen können. Und alle Singvögel auswendig aufsagen, an ihrem Gesang die Callas erkennen, die Diva insgesamt anhören, alle 52 CDs, die ich mir gekauft habe. Liegen im Karton für mich bereit. Werden angehört, sobald in Magdeburg die Stadtschreiberei abgewickelt worden ist, der Herbst kommen will und es dann auch schnell Winter wird und somit Hörspielzeit.
Die Straßenbahn hält hier. Mal sehen, wer so einsteigt, ausstiegt? Besungen oder dadaistisch vertont ist der Platz längst von Herrn Beesten. Hat ihn künstlerisch beackert, kann man auch dazu sagen. Wir stehen inmitten eines flachen Kreises. Soll Brunnen gewesen, nur eben zugeschüttet worden sein oder bald schon hoffentlich noch zuLebzeiten Brunnen werden. Leitungen seien bereits verlegt, nur müsste der Bau beginnen. Ob das je was wird. Vielleicht, wenn ich den Platz romanberühmt gemacht einmal ernsthaft beginnen. Fühle ihn, den Strom, den elekelekkekelekelekktrischen Strom, in den Außenbahnen meiner Elekronen, den quasi freien Elektonen, aber nur quasi – rezitiert zittrig und durchgeschüttelt der Herr Beesten plötzlich kurze Sequenzen aus seinem Poem Klagelied einer einsamen Straßenbahnschiene. In dem Text geht es dann darum, dass immer zur besten Nachtzeit Männer daher kommen, sich über die Schiene hermachen, ihr Funkenflug entlocken, sie mit ihren Schleifgeräten vergewaltigen, sie kreischen, heulen, rufen, jammern ließen, einen Höllenlärm veranstalteten, dass Herr Beesten nicht der einzige war, der wegzog, sondern von allen der klügste, weil zuerst die Haken in die Hand genommen, dem Leid entkommen.
Wir unterhalten uns über den Platz, dass er so ist wie ich mir ihn gewünscht habe. Und rätseln, was in der Annastraße 37 die Leute darauf gebracht haben könnte, Cafe & Milchar 108 zu nennen? Ganz einfach, mischt sich ein junger Vater neben Kinderwagen und frischer Mutter ein, Postleitzahl. Eben drum, sagt Heer Beesten, hätte er selbst darauf kommen können, der unkonzentrierte Mann aber auch. Danke danke. Und weiter zur Festungsmauer. Heikel und mutig einfach die Räder abgestellt und unter den Bauzaun gestiegen, hinein in die abgesperrte Natur bis da noch größerer Sperren und sichere Tore uns den Weg versperren. Aber immerhin, bekommen ich von Zeiten erzählt, als hier noch die Post abging, Aktion war und Musikkonzerte abgehalten wurden. Wau.
Und ein wenig über Jessica D. gesprochen, die beim Seminar in Arendsee genauso fehlte wie ich. Opfer des Bahnstreikes. Und von Mark Kelly Smith in Chicago, der dort eine Kneipe und Slampoetik betreibt. Ein Urvater dessen, sagt Herr Beesten, nennt das Green Mill oder Miles? Muss ich googlen wie jeder andere auch. Und dann sind wir im Museum. Heute ist weltweiter freier Eintritt und Sonderprogramm. Und Heer Beesten muss hier einen Tanz einüben mit Hebefigur. Sechzig Kilo soll die Dame schwer oder leicht sein. Man kann sich an ihr verheben, warne ich. In unserem Alter ist es besser sich Tänzer anzusehen und nicht anzuheben, die Callas zu hören, als sie nachsingen zu wollen.

HERRENTAG OHNE HERRENKRUG

Was man so alles bei einer Stadtführung erfährt. Otto Guerickes Grab, seine letzte Ruhestätte, ist nicht bekannt. Niemand weiß genau zu sagen, wo er nun begraben liegt. Die Variante, er könnte in einem wiedergefundenen Sarg nach einer Auslagerung von den Toten seines eigentlichen Friedhofes unter den Ausgelagerten gewesen sein, ist vage Vermutung, und auch nur kurz angedeutet.

spruch

Wir treffen uns am Denkmal für ihn. Wasser plätschert aus Löwenköpfen. Er hält ein Buch, stützt sich eher auf das gigantische Werk mit dem linken Ellenbogen auf. Buch und Kugel für den Test, der ihn berühmt gemacht hat, liegen eng beisammen. Er hat ja auch die Luftpumpe erfunden, der gute Mann, erfahre ich.

Es gibt Sekt zur Begrüssung. Wir feiern heute schließlich Herrentag, nicht am Herrenkrug. „Kreislaufmittel“ nennt es der Erklärer mit dem Zylinder auf dem Kopf. Fliederbüschel am Revers. Nadja Gröschner ist mit einem hellen Hut versehen, vorne hochgeklappt. Sie trägt schwarz zu rot und einen Steifrock, der kurz über den Boden mit ihr davonschwebt. Mit der Verkleidung und dem Drumherum kommt wohl allen zugute und ihrem kindlich gebliebenem Spieltrieb. Lust und Laune, Wissen und Witz schimmern bei den Machern immer wieder durch. Gut so. Nadjas Eltern sind heute mit von der Partie. Normalerweise tritt sie mit blonder Perücke auf, sagt Nadja zu ihrem Outfit, die ist ihr abhanden genommen worden. Der Sohn, vermutet sie, hat sie für eine Verkleidung ausgeborgt. Okay so. Die Jugend wollen Fun haben.

Sie hat einen Kofferlautsprecher geschultert. Über das Mikrophonkabel ist sie mit dem Zylindermann an ihrer Seite verbunden. Beide können sie nicht weit auseinander driften, will er etwas erzählen, muss sie nahe bei ihm dran bleiben.

Die Leute greifen gut zu. So viel Orangensaft bleibt sonst nicht übrig. Und los geht es mit Bollerwagen ganz traditionell plus Fahrradhupe am Lenker. Rüber zum Rathaus. Dem Roland, erst seit zehn Jahren dort an seinem Platz. Nachbau. Eine gewisse Bettina zeichnet dafür mit ihrem Namen. Siegerin eines Wettbewerbs war sie wohl. Wo genau der alte Roland gestanden hat, zeigt uns der Redner, in dem er plötzlich auf den Marktplatz läuft, einen Sprit hin und auch zurück hinlegt. Hinterm Roland versteckt sich klugerweise der Till Eulenspiegel. Er hat Magdeburg des öfteren besucht und an der Nase herumgeführt. Hat ihnen die Schuhe entlockt, jeweils einen von einer Person, und alle Einzelstücke dann  in den großen Sack gesteckt und behauptet, er könne jeden Schuh blind seinem Besitzer zuordnen. Dann schüttete er den Sack aus und, die suchen heute noch in dem Riesenberg.

Und dann werden uns Editha und Adelheit vorgestellt, beide vergoldet dem goldenen Reiter zur Seite gestellt. Die Rathaustür weist Geschichtliches auf. Unter anderem den ersten Flugpilot damaliger Zeiten. Und jener Hirsch an der Seite vom Rathaus ist das Symbol fürs Paradies. Ob er deswegen hier am Rathaus steht, ist nur zu vermuten. Er trägt Kettchen um den Hals wie die großen Zuhälter im Rotlichmileu.

Ein Stück weiter das Denkmal der fünf Sinne. Da muss einer nicht bei Sinnen gewesen sein, als er die Säule umfuhr. Die Figuren blieben erhalten. Gut nur, dass sie aus unfallsicherem Material gegossen sind. Von Luther heisst es, dass er in Magdeburg zur Schule ging, sich als Straßensänger betätigt hat, ehe ihn die Ehe adelte. Er stiftete sie auch zur Flucht aus dem Kloster an. Sie folgte seinem Rat und ging dann ihren Begabungen nach. An dieser Stelle gibt es in dem Vortrag den ersten Versprecher. Kirche = Küche. Warum nicht.

Und schnell an dem Allee Centre vorbei gehuscht und etwas über Richard Assmann erfahren, der das Wetter zwar nicht erfunden, aber Berichte und Prognosen einführte. Er flog auch Ballon und das vierzigtausend Meter hoch, wo der dann die Stratosphäre entdeckte. Was Magdeburg von den ersten Wetterberichten hielt wird in einem Brief verlesen. Es gibt Beifall. Hin zu dem erst vor eineigen Tagen eingeweihten Denkmal Basedow. Der wollte nach Magdeburg umsiedeln, reiste an, sich eine Wohnung zu suchen und erlitt fünf Tage später einen Blutsturz. Das passierte Telemann nicht, der heiratete eine sehr junge Frau, die ihn und viele Kinder, sowie auch die ständig im Haus lebenden Musikschüler umsorgte, dann aber die Nase voll hatte und sämtliches Geld am Glücksspieltisch verzockte. Kann man irgendwie verstehen, dass sie sich für ein Glücksventil entschied.

Man hat während der Führung ständig Skulpturen im Rücken. Magdeburg besitzt einige mehr als andere Orte davon. Sie sprießen hier wohl besser. Auch wäre das Lied der Deutschen, die Nationalhymne, ohne Magdeburg und die Liebe zu einer Frau gar nicht entstanden. Ich begegne nach langen Jahren Fritz Cremer wieder. Der Aufsteigende war Schulbuchbild. Und dann ist da die Mechthild, die auf einem runden Sockel steht und mit der Zeit, allein durch die Sonneneinwirkung eine rosa Färbung angenommen hat. Muss man sich merken und vielleicht bei der Luxemburg auch so handhaben. Wird alle paar Jahre gereinigt die Gute, dann verliert sich die rosa Färbung wieder, heisst es. Passt aber gut zu den Geländern an der Brücke über die nahe Straße hin. Oder war erst die Mechthild in rosa da und danach erst das Geländer?

Abschluss bildet ein Picknick mit Kartoffelsalat, Bier, Würstchen und zwei Akkordeonspieler, die wie Hein und Dödel aus Friesland aussehen, das Lied: Wir kommen alle in den Himmel schmettern. Hinten am Baum, eine Eiche, soll bei Ausgrabungen ein Klo und in ihm eine original leere Flasche mit Napoleons persönlichem Etikett und Signum gefunden worden sein. Schön der Gedanke, dass er sich hier betrunken und dabei ausgedrückt hat. Im Rücken des Magdeburger Schlosses. Zusammenfassend sage ich: Sollte jeder Magdeburger mehrmals tun, sich verführen und rumführen lassen. Schöne zwei Stunden, die einem wie vier vorkommen.

Der BOB nur angedylt

DIE NACHT IN DER FEUERWACHE

peter-wawerzinek-540x238-q90Ich leibhaftig und mein Freund Dylan Thomas aus Bronze in Swansea.

Ich saß lange einsam draußen herum. Dann war Konzert und es sprach mich eine junge Frau mit meinem Namen an. Danach war Pause und ich verlor sie aus den Augen, lief herum, fand sie nicht mehr. Blieb. Mein Fazit: Fast vier Stunden Musik, zwei kurze Pausen mit Bier und Leuten im Innenhof und zum Schluss alle Beteiligten auf der Bühne zusammen zu Knocking Havens Door. Das hatte Stil und wurde von den Musikern, Sängern und Instrumentalisten mit viel Herz und Gefühl so vorgetragen und voll beabsichtigt. Für meinen Geschmack insgesamt dann doch zu ruhig und getragen, zu besinnlich und zu sehr nur die eine sanfte Seite Dylans angespielt. Denn wir wissen, dieser Robert Zimmermann, der sich Bob nannte, rockte mitunter deutlich heftiger als hier nicht einmal angedeutet wurde. Für mich war das Konzert mehr ein stimmiges Stimmungsbild, eine Art Aufführung von Wasserfarben und einfach gestrickter Lautmalerei mit den Mitteln der Musik aus dem kontrollierten Anbau. Ich sah manchmal Feuer auf der Bühne. Klänge sorgten für den Rauch. Ich sah vereinzelte Funken aufsteigen und hörte dem Gesang zu. Ich vernahm den gesamten Abend bis Mitternacht leises Summen über der Bühne wie gedämpftes Lachen. Musikalische Duos traten artig ans Lagerfeuer, die Umstehenden zu unterhalten, die Nacht zu illustrieren. Jedes Stück lauthals bejubelt. Meine Sachen, dachte ich, werden hoffentlich morgen noch etwas nach Bob Dylan riechen? Sie rochen am Morgen mehr nach der Moderation. Ja, die war schon speziell und trug zur guten Laune bei. Gummibärchen wurden ins Publikum geworfen. Von Interpretation, Improvisation, Experiment und Neugestaltung, sowie Auseinandersetzung und andere Umsetzung des riesigen dylanschen Angebotes kein Hauch, nichts nicht einmal im Ansatz zu spüren. Ich sage die Wahrheit, wenn ich damit heimlich gerechnet hatte, es mir aber bald abschminken konnte. Ein muntere menschliche Musik-Box das Ganze mit vorwiegend sanften Stücken. Einfühlsame Stimmen, weltweit geläufige Songs auf dem Plattenteller. Nächstes Mal, hieß es zum Ende hin, gibt es eine Nacht für Neil Young. Die Ansage wurde genauso stürmisch beklatscht wie alle Titel des Abendas. Ich hatte sowieso ab dem dritten Paar auf der Bühne das innere Raunen im Hirn, hier eher in musikalischer Familie und bei Leuten unter sich zu sein, die den Bob abkulten. Ich weiß nun wieder, warum ich eine ganz bestimmte Form von Lagerfeuerstimmung nicht so gerade so irre finde, mich der Gesang am Feuer dann oft genug nicht mehr erreicht. Bob Dylan nuschelt einfach angriffslustiger und führt sich weniger erbaulich bis gar nicht entspannt auf.