Nach-Denker 2

Was mir am intensivsten in Erinnerung ist, war die Zeit, in der ich losgeschickt wurde, Milch zu holen. Die Milch wurde mit einem Füllgefäß in die Milchkanne geschüttet. In den Deckel kam gelbe gute Butter, obenauf ein Blatt Pergament. Ich trug die Milchkanne mit dem Deckel verkehrt herum aufgelegt nach Hause. Wenn ich zum Bäcker ging, durfte ich mir Randstücke von Blechkuchen aussuchen. Beim Schuster, der zwei bis dreimal regelmäßig aufgesucht und mit problematischen Schuhen bestückt wurde, gab es ein Glas zum Hineingreifen. Ich durfte vier, fünf Süssigkeiten fassen, entschied mich meist für Lakritze. Ich bewunderte die Männer und ihre Kletterschuhe, die Ledergürtel um ihre Hüften, die am Telegrafenmast hochliefen wie als wäre das nichts. Und ich rannte irgendwann nicht mehr dem Schornsteinfeger nach, ihn zu berühren. Er trug einen runden Fächerbesen mit schwerer Eisenkugel versehen und klirrte mit den Ketten. Ich wurde schwärmerisch, wenn er auf dem Dach spazierte.
Lauf zum Herr Soundso, hieß es, hole das schlanke, lange Paket ab und lass es in dem großen Beutel stecken. Es sollte nicht jedermann den selbstgeräucherten Aal sehen. Mit dem Aal fuhr der Vater meines Freundes nach Dresden. Er war Böttcher, baute Fässer, Waschtröge, Holzzuber für die Badestuben und Blumentöpfe. Dafür brauchte er Kupferbänder, die es nur dort gegen Räucheraal zu erwerben gab. Dafür, dass ich den Aal beim Fischer abholte und ihn zum Vater meines Freundes schuf, bekam ich aus Pirna einmal ein paar Hausschuhe aus Lebkuchen mitgebracht. Ich hätte die beiden Pantoffel sofort aufessen dürfen, ließ es aber bleiben und erfreute mich am Anblick. Die gepfefferten Kuchenlatschen wurden steinhart. Ich lief mir in ihnen die Füsse wund und fühlte mich wie eine russische Matroschka in ihnen. Das war beim Training besonders schmerzlich. Ich hatte mir im Hinterhof eine Hochsprung-Anlage eingerichtet, wollte Olympiasieger werden und trainierte dafür eisern. Die Latten fertigte mir der Tischler im Ort an. Sie waren nicht zu dünn, nicht zu dick, zerbrachen bei ganz bestimmter Belastung und splitterten nicht, was sehr wichtig war. Der Tischler hatte sich genau beschreiben lassen, wozu ich sie zu nutzen gedachte. Die Grossmutter saß am Fenster und schaute mir beim Training zu.
Da gab es noch den Scherenschleifer. Meine Eltern schickten mich mit Besteck und Scheren zu ihm und besonders wichtig war ihnen das Wippmesser. Ein geschwungenes Eisending mit zwei rot lackierten Griffen, das auf dem Brett hin und her über Gartenkräuter geschwungen wurde. Wir sammelten alle Essensreste für die Specki-Tonne. Da kam ein Mann mit stinkendem Pferdefuhrwerk und eine Tonne, in die hinein alle Hausabfälle für die Schweine außerhalb des Ortes geschüttet wurden. Der Gestank blieb lange haften. Es gab den Mann mit den goldenen Händen, der Uhren reparierte und die Frau, die Löcher stopfte, Maschen aufhielt. Bei der Gärtnerin bestellten wir Gebinde und Kränze und große Blumensträuße auf den Tag genau und die Stunde. In der Metallfabrik stellten sie Kerzenständer her und Gartenzaunsegmente nach der vorgegebenen Zeichnung. Und eine Keramikerin fertigte für fast alle Bewohner Türschilder an, mit Name und Hausnummer versehen. Und die Frauen trafen sich zum Krabbenpulen. Sie schnackten und tratschten und behalfen sich und verdienten sich ein Zugeld.
Es gab die Umnäherei. Es gab die Heißmangel. Es gab den Fachmann für Setzlinge in der Gärtnerei. Es gab Tanzunterricht und der Nachbar dengelte noch die Sense, schnitt Gras, trocknete es zu Heu. Wir sammelten Eierschalen für die Hühner, die er aufzog und bekamen dann legefrische Eier dafür. Man ging zum Schneider wenn wichtige Feste anstanden. Man beauftrage der Polsterer, war ein Stuhl neu zu beziehen, die Sitzfläche brüchig geworden. Man holte sich eine Menge Handwerker ins Haus. Die bohrten, hämmerten, schweißten, malerten, bauten aus, rissen ein, gestalteten individuell oder nach den strengen Regeln des Handwerkes. War ein Griff von der Bratpfanne gebrochen, der Fernseher, das Radio entzwei, trug man es zum Laden und bekam es nach kurzer Zeit heil zurück. Selbst Regenschirme wurden irgendwie wieder instandgesetzt, Jacken mit Ärmelschoner versehen, wenn sie am Ellenbogen durchgescheuert waren.
Mitunter durfte ich beim Meister bleiben und er erledigte die Reparatur umgehend, weil es für ihn einen Klacks bedeutet, den Kleisterpinsel zu schwingen, die zerbrochenen Teile zusammenzufügen. Und alle meine Sinne kamen auf ihre Kosten. Meine Augen strahlten vor Aufregung, den geschickten Fingern zuzusehen. Meine Ohren hörten sich satt an den verschiedensten Geräuschen in der Werkstatt. Meine Nase vibrierte von den seltensten Gerüchen und waren süchtig nach Holzspan, Blütenduft, Lötfett, verbrannten Haaren und Bunsenbrennern. Ich fasste die fertigen Dinge so gern an, roch an ihnen, erfreute mich an ihrer Frische und Neuartigkeit. Ich hätschelte das olle Radiogerät, dass mir der Tischlermeister vermachte, weil es alle Spuren von von Handwerk und Werkstatt aufwies und mir die Gewissheit schenkte, mit seiner Musik den Arbeitstag der Leute bereichert zu haben. Ich vermisse all das Verlorene sehr.

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