Heute vor 46 Jahren

Um ein Haar hätte ich vergessen, welcher Tag heute ist. Und was heute vor genau sechsundvierzig Jahren um 21 Uhr 03 im Hamburger Volksparkstadion passiert ist. Muss ich noch mehr sagen? Ich kann auch gar nicht mehr sagen. Wo ich um diese Zeit war, steht schon an anderer Stelle in diesem Blog. Ich war der Zeit voraus, zumindest während meiner Magdeburger Stadtschreiberschaft. Und so denke ich an den Mann, für den sich an diesem Tag mehr verändert hat als für die beiden deutschen Staaten. Oder will jemand ernsthaft behaupten, der 22. Juni 1974 habe eine Wende in der Beziehung der beiden deutschen Staaten eingeleitet? Letztlich ist dieser Tag nur eine Fußnote in den Geschichtsbüchern. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass das, was der Geschichte nur eine Fußnote wert ist, für andere Schicksal geworden ist. „Wenn man auf meinen Grabstein eines Tages nur ‚Hamburg 74‘ schreibt, weiß jeder, wer darunter liegt“, hat der Mann gesagt, für den sich an diesem Tag sein ganzes Leben verändert hat. Möge es ihm gut gehen, an diesem und an allen anderen Tagen.

Rein in die Leere 10

Ich hatte in den vergangenen beiden Wochen gleich zweimal Besuch: erst kam ein kanadischer Freund für einen Sonntag mit seinem 900-Euro-Rad aus Berlin rüber, dann ein alter Schulfreund gleich fürs ganze Pfingstwochenende mit seinem handgemachten 5000-Euro Rad aus NRW. Und so geschah es, dass ich, der ich im übrigen hier in Magdeburg über ein dreigängiges Damenrad mit Einkaufskorb verfüge, ihnen die Stadt zeigte. Der Einäugige lehrte die Blinden das Sehen. Beziehungsweise der mit dem Drahtesel fuhr den Edeltretern voraus.
Was auch immer dabei herauskam – ich sage nur Dom und Hassel, Buckau und Stadtfeld, Mückenwirt und Treibgut, Riesenrad und Gierfähre, Alte und quasi Neue Elbe -, es löste Begeisterung aus. Nicht nur Erstaunen, so nach dem Motto „Ach, das hätte ich jetzt aber nicht gedacht“, Verblüffung („Donnerwetter!“) oder Verwunderung („Meine Güte!“), nein, regelrechte Begeisterung. Der Kanadier bedauerte, kein Autor zu sein, denn sonst hätte er sich umgehend für die Stadtschreiberschaft im nächsten Jahr beworben, und der Westfale ließ sich beim Sonnenuntergang auf der Zollbrücke zu den Worten „Alter Schwede!“ hinreißen; wer um die legendäre Zurückhaltung der Westfalen in Sachen Gefühlsäußerung weiß, wird diesen schieren Begeisterungstaumel entsprechend zu würdigen wissen. Und beide wollen sie im übrigen wiederkommen, so lange ich noch der Schreiber dieser wunderbaren Stadt bin.
Und das Seltsame daran ist: es hat mich nicht mal gewundert. Im Gegenteil, ich hatte sie bereits am Telefon mit den Worten „Es wird dir gefallen“ eingestimmt; da ich ebenfalls Westfale bin, könnte man auch behaupten, ich hätte gesagt: Es wird der schiere Wahnsinn!
Natürlich kenne ich die beiden seit Jahren bzw. Jahrzehnten, weiß also, was in der Lage ist, ihre Seelen zu erwärmen. Dann hatte ich in den vergangenen drei Corona-Monaten selbst Gelegenheit genug, mich von den zahlreichen Vorzügen Magdeburgs zu überzeugen. Aber mal ehrlich: war ich dabei wirklich immer so begeistert wie die beiden Freunde? Okay, es ist was anderes, ob man an einem Samstag im Corona-Monat April zu einer Elbwanderung aufbricht oder nach Ablauf der Quarantäne im Juni sich mit einem 5000-Euro-Rad ins Getümmel der Pfingstausflügler stürzt, aber rechtfertigt das allein das Gefühlsdefizit? Denn schließlich bin ich hier der Dichter, also der schon von Berufswegen zu Oden, Hymnen und Anbetungen Verpflichtete.
Damit wir uns hier nicht mißverstehen: ich mag Magdeburg. (Mit dem Wort „lieben“ geht unsereins vorsichtig um, fragen Sie mal meine Frau.) Ich bin gerne hier. Mir gefällt es. Und ich weiß schon jetzt, dass der Abschied mich wehmütig machen wird. Aber mit den Gefühlsausbrüchen meiner beiden Freunde kann ich auf Anhieb nicht mithalten. Hätten meine beiden Freunde mich damit beauftragt, schon mal den Wohnungsmarkt für sie zu sondieren, es hätte mich auch nicht gewundert. Eine Zweitwohnung an der Elbe, zumindest der mit dem 5000-Euro-Rad könnte sie sich leisten. Und was den Kanadier angeht, der hat immerhin ein Haus am Wannsee.
Was ich mit all dem sagen will – inzwischen eine beliebte Wendung in meinen Texten, denn schließlich schreibe ich sonst keinen Blog, tue dies also ausdrücklich für meine Lese*rinnen -: Magdeburg ist eine Stadt, die Begeisterung auslösen kann. Halten wir das mal ganz deutlich fest. Auch oder vielleicht gerade bei Westdeutschen. Selbstverständlich ist Magdeburg auch der haushohe Favorit meiner beiden Freunde auf den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“. Denn die anderen Städte kennen sie natürlich, Hildesheim, Hannover und Nürnberg, und, man höre und staune, sogar Chemnitz. Aber kein Vergleich mit Magdeburg.
Ich gebe zu, dass das, was meine beiden Freunde vor allem an Magdeburg begeistert hat, die Elbauen sind. Aber das tut der Sache keinen Abbruch. Denn was wäre Istanbul ohne den Bosporus, Köln ohne seinen Dom, Hamburg ohne seinen Hafen? Und so wie die Kölner neben dem Dom auch noch den Rhein haben, haben die Magdeburger neben der Elbe den Dom. Und da muss sich der Hamburger Michel schon gewaltig strecken, um da mithalten zu können.
Erst jetzt, während ich dies schreibe, fällt mir auf, dass meine beiden Freunde meinem zentralen Bezugspunkt zu Magdeburg so gar keine Bedeutung geschenkt wurde, nämlich der Leere. Ich vergaß sie, und meinen Freunden fiel sie möglicherweise gar nicht auf. Hätte ich ihnen gesagt, dass sie im Zentrum der Magdeburger Bewerbung für den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“ stehe, sie hätten mich vermutlich gar nicht verstanden. „Wie Leere? Was soll denn hier leer sein? Selbst der Himmel ist voller Wolken.“ Wecken wir also keine schlafenden Hunde. Lassen wir Magdeburg sein, wie es ist. Unterschätzt, ja, oft genug buchstäblich links liegen gelassen auf dem Weg nach Berlin, aber jederzeit bereit, Begeisterung auszulösen. Und das bei Menschen, die schon viel rumgekommen sind, mit Fahrrädern, die soviel kosten wie Gebrauchtwagen. Aber das heißt eben auch – und damit wäre ich doch wieder bei meinem Lieblingsthema – : lassen wir Magdeburg ruhig in der Leere verweilen. Denn vielleicht (und meiner Ansicht nach sogar ganz sicher) ist diese Leere die wahre Fülle.

Die Sonne und ich

Allerspätestens ab Juni geht die Sonne vor mir auf. Heute sogar eine knappe halbe Stunde. Will sagen, die Sonne ist um 4:53 aufgegangen, ich erst um 5:21. Dafür ist die Sonne aber gestern Abend auch schon eine Stunde früher untergegangen als ich, nämlich um 21: 33. Wir brauchen also beide ungefähr gleich viel Schlaf, die Sonne und ich.
Dafür scheine ich schneller als die Sonne. Viel schneller. Während die Sonne erst so langsam aufzieht, sitze ich schon gleich um 5:38 am Schreibtisch und schreibe an meinem Blog. Dafür bin ich dann auch mittags, wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat, so um 13:21 schon längst verglüht. Beziehungsweise leiste ich mir dann meistens eine kleine Sonnenfinsternis, auch Mittagsschlaf genannt.
Jetzt, um 5:41, schauen wir uns gegenseitig beim Aufgehen zu. Die Sonne scheint zwar noch nicht, aber sie lässt immerhin ihr Licht auf meine Computertasten fallen. Während ich meinen Blick auf sie fallen lassen, wie sie so langsam hinterm Hotel Ratswaage aufzieht. Mir fällt ein Lied von Udo Jürgens ein, „Die Sonne und du.“ Klar, dass ich sowas als Sonnenanbeter in meiner I-Tunes-Mediathek habe. Für Udo Jürgens ist der Sommer schon vorbei („Das war ein Super-Sommer, in jedem Augenblick.“), während meiner noch gar nicht begonnen hat. Doch in einem Punkt muss ich ihm recht geben: „Und wenn mich heute einer fragt, wie definierst du Glück, dann brauch ich gar nicht lang zu überlegen: Die Sonne, die Sonne und du, uhuhuhu, gehören dazu, huhuhu.“ Du ist gerade ziemlich weit weg. Aber für mich tun es auch die Sonne und ich. Sie aufgehen zu sehen am Morgen, ist wirklich, im wahrsten Sinne des Wortes, ein Geschenk des Himmels. Und einer der vielen, vielen Gründe, warum es sich zu leben lohnt.
Es ist jetzt 05:48. Zeit für einen Kaffee. Ich würde der Sonne ja auch gerne einen einschenken, damit sie etwas in die Gänge kommt, aber aus jahrzehntelanger Erfahrung weiß ich, dass sie keinen Kaffee zu sich nimmt. Keinen Kaffee und auch sonst nichts. Aber das ist ihre Sache. Ich brauche jetzt mein Quantum Koffein. Damit ich weiter scheine. Und über dem, was ich nach dem Frühstück schreibe, erst so richtig aufgehe.

P.S. 6:03. Die Sonne hat sich verzogen. Ob ihr nicht gefallen hat, was ich geschrieben habe?

Angela Merkel

Ich weiß noch, wie meine Patentante Waltraud, Oberstudienrätin a.D., voller Verachtung zu meinem Vater sagte: „Die Merkel? Die stellt doch nichts dar.“

Es muss Anfang der Nullerjahre gewesen sein, Helmut Kohl war gerade über die Parteispendenaffäre gestolpert, die nächste Bundestagswahl stand ins Haus, und man unterhielt sich am Rande einer Familienfeier über den bestmöglichen Kanzlerkandidaten der Union. Stoiber war zu ungelenk, verhaspelte sich ständig oder nuschelte, Volker Rühe war zu dröge und außerdem ein Gewährsmann Kohls, dessen Zeit auch in meiner rückwärts gewandten Familie abgelaufen war, Schäuble saß im Rollstuhl, Jürgen Rüttgers war eine rheinländische Kopie Stoibers und Christian Wulff einfach noch zu jung. Und Angela Merkel, wie gesagt, stellte nichts dar.

  Denn darum geht es in meiner Familie bis heute: ob einer was darstellt. Was hermacht. Sich sehen lassen kann zumindest. Egal, ob er korrupt ist, möglicherweise ausländerfeindlich oder das Arbeitslosengeld kürzt. Hauptsache, er stellt was dar. Ach ja, und von der Union muss er natürlich auch sein. Das ist sogar das Allerwichtigste. Nur so ist es zu erklären, dass Tante Waltraud 2005 dann doch Angela Merkel gewählt hat. Und mein Vater es bis heute tut. Eine Frau aus dem Osten, die ihren Badeanzug zum Trocknen auf den Balkon hängt und zum Wandern in die Berge geht. Aber das hatte Helmut Kohl ja auch schon getan; das mit dem Wandern natürlich nur.

  Als meine Mutter meinen Vater kennenlernte, hatte ihr Vater nur eine einzige Frage: „Ist er katholisch?“ – „Ja“, antwortete meine Mutter. Und damit war alles klar. Nun ist Angela Merkel evangelisch, aber das sei ihr verziehen, schließlich war ihr Vater Pfarrer. Und vor allem ist die CDU noch immer katholisch, zumindest in Westfalen, wo meine Eltern leben.

  Und so haben sie über die Jahre ihren Frieden mit Angela Merkel gemacht. Meine Mutter schimpft manchmal über ihre Kostüme, auch diese komische Merkel-Raute gefällt ihr nicht, und mein Vater meint, nun sei es aber langsam auch mal genug. Ihr gemeinsamer Favorit auf die Merkel-Nachfolge ist übrigens Friedrich Merz. Der stellt was dar. Egal, ob er als Millionär den sozial Schwachen ans Leder will oder die letzten Jahre kein politisches Amt hatte, auch als langer Lulatsch macht er immer noch mehr her als der kleine pummelige Türken-Armin aus Aachen, über den schon seine Frau sagte: Hab halt nichts Besseres gefunden.

  Und selbst ich, der Angela Merkel nie gewählt hat, kann ihrem Politikstil in der Zwischenzeit etwas abgewinnen, vor allem vor dem Hintergrund von selbstverliebten Autokraten, unberechenbaren Selbstdarstellern oder vollmundigen Eintagsfliegen. Die Frau ist unaufgeregt, zäh und gibt einem nicht das Gefühl, sie würde die Hand aufhalten.

  Warum ich das alles aufschreibe? Weil mir in Magdeburg und Umgebung, seitdem ich hier bin, ein regelrechter Merkel-Hass entgegenschlägt. Es scheint nicht zu genügen, ihre Politik abzulehnen, sich einfach nur frisches Blut an der Spitze des Landes zu wünschen oder auch nur mehr Führung und Emotion, nein, man muss sie auch noch hassen. Mir ist dieser Merkel-Hass an den unterschiedlichsten Orten entgegengeschlagen: bei Behördengängen genauso wie auf Demos gegen Corona-Beschränkungen auf dem Alten Markt, in Gesprächen mit Pensionswirten, Friseuren und Gemüsehändlern. Wenn ich Freunden und Bekannten davon erzähle und wir gemeinsam nach den Ursachen forschen, dann landen wir immer wieder bei der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015. Aber ich will mich damit nicht zufrieden geben. Schröder hat Hartz-IV eingeführt und wurde trotzdem nicht gehasst. Empörung, Wut, Entsetzen in den eigenen Reihen, bis hin zur Abspaltung, zur Gründung der Linkspartei, das ja, aber Hass? Helmut Kohl hat man mal mit Eiern beworfen, vor dem Stadthaus in Halle, aber ich war dabei, als er in Leipzig ein letztes Mal Wahlkampf führte, eine Weihestunde, der Atem der Geschichte wehte über den Marktplatz, als die Nationalhymne gesungen wurde und die Deutschland-Fahnen geradezu andächtig im frühen Herbstwind wehten; kein Vergleich mit dem sachlichen Auftritt von Gerhard Schröder ein paar Wochen zuvor auf dem Hallenser Marktplatz, der übrigens nur spärlich besucht war, während Kohl noch immer die Massen anzog. Woher also diese persönliche Konturierung, wenn es um Merkel geht, dieser human factor, den ich vor allem im Osten und in den Monaten meiner Stadtschreiberschaft so oft in Magdeburg spüre? Warum dieses Gefühl, hier werde Politik geradezu persönlich verübelt? Etwa doch, weil sie eine von hier ist, weil sie den Osten verraten, gar vergessen hat, wo sie herkommt? 

  So sitze ich auf einem Rätsel, von dem ich gar nicht weiß, ob ich es lösen möchte. Vielleicht weht mich die Antwort ja noch an, auf meinen Streifzügen durch die Stadt, die mir den Jahren der Merkelschen Kanzlerschaft – 2004 war ich zuletzt hier, da war sie noch nicht mal im Amt – jedenfalls nicht verloren zu haben scheint.