Nellja Veremej: Kleine Eiszeit in Magdeburg oder Alle Wege führen ins Paradies

Es wird einfach nicht wärmer, Magdeburg friert. Die raren Menschen laufen schnell, bis an die Nase in dichten Schals vermummt. Das, was man sich unter dem Wort „Straßenleben“ vorstellt, verlagert sich in die verschachtelten Labyrinthe der Einkaufszentren.
Eine Allee, sagt Wikipedia, ist eine auf beiden Seiten von Bäumen begrenzte Straße oder Weg. Das trifft auf unser Allee Center nicht ganz zu, denn hier sind die Wege von beiden Seiten von Läden begrenzt. Da wo an den Kreuzungen das Jungvolk schwärmt, ist die Luft zum Schneiden dick von unsichtbaren, von Hormonen getriebenen Energie – und Magnetschwingungen.
Die Alten flanieren artig die Alleen entlang, bleiben vor Schaufenstern stehen, beraten sich leise, ob man dies und jenes nicht doch brauche. Ich studiere die Konditoreivitrine. Es riecht gut hier, es ist warm und hell und es gibt Palmen und Brunnen. Der Winter in diesem Paralleluniversum ist heiß, und der Sommer – kühl. Hier ist alles bis ins Kleinste optimiert, wie im Paradies. Oder wie in einem Gewächshaus, wohin wir gelockt und wo wir verwöhnt, präpariert und betäubt werden und ganz unmerklich ausgenommen.
Solche überdachten Labyrinthe erobern unseren Planeten, sie breiten sich unaufhaltsam aus wie eine ansteckende Flechte und sie verstümmeln unsere Innenstädte.

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Der Frost gibt auch in der zweiten Woche nicht nach, und dennoch schicke ich mich zu einer Stadtführung, in der stillen Hoffnung, dass niemand anderes es wagt und ich mit reinem Gewissen zurück in die warmen Alleen flüchten kann. „Aber die Führung findet statt, auch wenn sonst keiner mehr kommt, außerdem kommt immer jemand“ – die Frau im Touristenzentrum war zuversichtlich, und sie hat Recht behalten. Um Elf starten wir – ein siebenköpfiges Trüppchen der Tapferen und Wissbegierigen – die Stadt Magdeburg zu erkunden.
Immer suchen wir in den fremden Städten als erstes nach Superlativ- und Komparativ- Formeln – wir messen das Fremde mit dem, was wir kennen, Goethes Ausspruch, etwas anders formuliert.
Mir schmeichelt, dass Magdeburg – meine Heimatstadt auf Zeit – viel älter ist als alle anderen Orte, wo ich davor zu Hause war.
Karl der Große hat mit Sicherheit nichts von Leningrad oder Novi Sad gehört und selbst von Berlin hatte er keine Ahnung, von Magdeburg schon – denke ich mit Genugtuung.
Noch eine kleine Überraschung – ich habe mir die Stadt wegen ihres Namens und Wappens als einstiges Revier einer gnädigen, einflussreichen Magda gedacht, nun erfahren wir, dass Magdeburg einst „magadoburg“ war, was in der damaligen Sprache so etwas wie „Großburg“, bedeutete, „Mega – Burg“ sozusagen, und Magda hat damit nichts zu tun.
„Können Sie es noch aushalten, geht es noch? “ fragt die Stadtführerin, als wir auf der Brücke Halt machen, um den Ausblick auf den Turm an der Elbe zu genießen, jenen Turm, durch den einst,
an einem Maitag 1631, die Katastrophe in die belagerte Stadt einsickerte.
Es ist klirrend kalt, aber wir schütteln tapfer die Köpfe. „Es geht!“
„Und Sie?“ – die Stadtführerin schaut zu einem alten Mann, dessen Gesicht rot und lila ist, wie ein Truthahnbart, weshalb seine Augen unnatürlich blau, hell und klar wirken, wie Aquamarine, oder Eis -Klümpchen.
„Er kann noch“ – sagt seine Frau zu uns und schaut streng zu ihrem Mann: „Es geht dir gut, nicht wahr?“
„Ja.“ – er nickt und an der Nasenspitze wabert ein Tropfen.
Dieser Tropfen – klar und durchsichtig – macht mich unruhig, ich kann nicht aufhören, zu warten, bis er sich von der Nase trennt, er hypnotisiert mich regelrecht. Ich senke den Blick.
Atmungsaktive Trekkingkleidung, Rucksäcke, solides Schuhwerk – adrettes Ansehen, nur die Schuhe des Mannes sind falsch rum angezogen – der Mann hat Entenfüße. Sonst sitzt alles und stimmt alles: die beiden Rentner (weit über siebzig) sind erfahrene und wissbegierige Touristen.

„Wir haben viel gesehen! Jedes Wochenende ein Ausflug in eine andere Stadt“, sagt sie stolz.
Nichts, keine Entenschuhe gehen mich an, sage ich mir, hör lieber zu, wie kaiserliche Soldaten in die Stadt eindringen und der erste Untergang Magdeburgs beginnt – was nicht verbrannt wird, wird geplündert, wer dem Feuer entkommt, wird geschlachtet, geschunden oder vergewaltigt. Die schöne Handelsstadt an der Elbe wird vernichtet. Der 20. Mai 1631 ist der blutigste Tag in der Geschichte des Dreißigjährigen Krieges, ein trauriger Magdeburger Superlativ.
„Diese Stadt, so zuvor an Reichtum, Stärke, Kaufmannschaft und anderer Nahrung der berühmtesten eine gewesen ist, ist innerhalb 10 Stunden so erbärmlich ruiniert, ihr Gedächtnis erloschen, der Reichtum zerschmolzen und auf den Grund ausgebrannt, dass manch Übergebliebener die Stätte, da sein Haus gestanden nicht zu finden weiß“- schrieb ein Chronist.
Ein Tag, der seinen Shakespeare noch nicht gefunden hat, oder seinen Homer. Ich erhebe meine neue Heimatstadt in meinem Geiste auf ein Podium neben Troja, Jerusalem oder Jericho, und mitten in diese erhabene Vision drängt sich immer wieder der Wunsch, dem alten Mann mit der blauen Nase ein Taschentuch zu reichen und ihn auf die Entenfüße hinzuweisen.
Daher verpasse ich einiges, als wir in der warmen Johanniskirche über Luther reden, wie er 1524 Magdeburg besuchte und bekehrte. Wir stehen im Kreis, alle Blicke sind auf die sitzende Schönheit aus Stein gerichtet, die in der Ecke sitzt – sie soll aus Worms stammen, aber warum sie hier ist – verpasse ich – auch bei dieser Geschichte bin ich nur mit einem halben Ohr dabei, beim Kloster unserer Lieben Frauen – mit einem Viertel, meine Gedanken sind anderswo.
Spüren seine Füße die Verwechselung nicht, weil sie vielleicht taub vor Frost sind?
Diese Entenfüße sind eine Kleinigkeit, die langsam Oberhand über mich gewinnt – wie ein zarter Mückenstich – wenn man sich nicht kratzen darf, kann man an nichts anderes denken. Der imaginäre Juckreiz verschwindet auch nicht, als wir uns vor dem Magdeburger Dom verabschiedet haben und vor Frost schlotternd in entgegengesetzte Himmelsrichtungen flüchten.

Als ich am Nachmittag wieder das Haus verlasse, sehe ich die beiden alten Touristen zum Bahnhof eilen – sie haben mich auch erkannt und winken mir zu. Ich schaue verstohlen nach unten – es ist alles in Ordnung mit den Schuhen und ich entgegne den Gruß aus vollem Herzen, und schreite – froh und erleichtert – in das City Carré hinein.
Ich kenne niemand, der nicht auf die Carrés, Arkaden und Alleen schimpft, und niemand, der sie meidet.

Nellja Veremej: Wo Kafka drauf steht, ist auch Harras drin.

Mein neues Zuhause in Magdeburg ist nicht zu übersehen – ich wohne in einem der Moskauer Türme, ganz oben auf dem Dach. Mit dem Fahrstuhl zur letzten Etage, und dann noch höher zu Fuß – noch ein Treppenmarsch, eine neue Tür in das Unbekannte, nur den passenden Schlüssel finden…Hinter der letzten Eisentür liegt ein großes Foyer, eine Art Vorraum für zwei Gästewohnungen. Meine ist unauffällig, die Tür der Nachbarwohnung gegenüber ist mit einem mannsgroßen Kafka-Porträt in Pechschwarz verziert.

Die schwarze Figur an der Tür ist allgegenwärtig – wenn ich das Foyer betrete oder meine Wohnung verlasse – sie springt ins Auge. Und wenn ich aus meinem Spion hinausschaue, verwandelt sich mein Vis-a -Vis in einen schwarzen Fluchtpunkt und wird zum Herzstück der kalten leeren Außenwelt – die ersten Märztage sind klirrend kalt.

Immer, wenn ein vages Geräusch von außen in meine Wohnung durchdringt, laufe ich zur Tür und schaue hinaus – jemand da?

Aber im Foyer ist nur mein gespenstischer Nachbar zu sehen – seine Ohren sind spitz und sein Blick angestrengt, forschend, fast fordernd.

Was sehe ich noch? Fahles Licht, ein totes mehrstämmiges Bäumchen im Topf, eine leere Sektflasche, eine gepolsterte Sitzecke und den Ausgang zur großzügigen Dachterrasse, welche die kleinen Gästewohnungen rundherum umströmt und verbindet.

Die Außenwände in meinem Zimmer sind aus Glas – ich bin hier allen Winden ausgeliefert und den Blicken meiner unbekannten Nachbarn, aber ich klage nicht. Ich klage nicht, schließlich kann ich aus meinem Glaskasten einen Panoramablick auf Magdeburg mit seinen Türmen genießen, schmuck wie eine Postkarte.

Es schneite in der Nacht und die Terrasse ist nun mit flauschigem, frischem Schnee bedeckt.

Die Versuchung, entlang der weißen, antik wirkenden Balustrade auf dem Dach herum zu flanieren ist groß, aber die Angst, ungebeten in den durchsichtigen Alltag meiner Nachbarn zu brechen ist größer. Ich lasse es lieber.

Aber wenn mein Nachbar nicht so ängstlich ist wie ich, kann er jederzeit vor meinem Schreibtisch erscheinen, einen ausgestreckten Arm von mir entfernt. In der Dunkelheit hinter den Jalousien unsichtbar, kann er meinen Telefongesprächen lauschen, wenn ich durchs beleuchtete Zimmer auf und ab laufe, mit der Hörmuschel am Ohr. Oder er könnte mir in den Rücken blicken, wie ich mich in meiner winzigen Kochecke mühe, wie ich esse und wie ich schlafe.

Ich schließe die Augen mit Unbehagen, und plötzlich fällt mir der Name ein, der Name dessen, der mich unentwegt beobachtet und ausspäht – er heißt Harras und er kommt aus einem Buch.

Das war einer der ersten literarischen Texte, die ich im Original auf Deutsch las, es ist eine Ewigkeit, ein Zeitalter her:

 

Franz Kafka, beim Bau der Chinesischen Mauer. Gustav Kiepenheuer, Leipzig und Weimar, DDR. Der dünne Band in solidem Leinenmantel befindet sich immer unweit von meinem Schreibtisch, er hat ein Ehrenplatz in meinem kleinen Gefolge von Büchern, denen ich einst Treue geschworen habe.

Als ich heute das alte Buch in die Hand nehme, schlägt die Erinnerung eine lange Seilbrücke über mehr als ein viertel Jahrhundert zurück – sie nimmt ihren Lauf in Petersburg auf, wo ich mich mit Bleischrift und Wörterbuch über dem Büchlein mühte und führt via Berlin nach Magdeburg, wo mich Kafka nun selbst empfängt.

Ich knipse das Licht aus und werde unsichtbar. Der Wind pfeift und heult über den mit Raureif bedeckten Dächern. Die Stadt schläft, und ich horche noch in die Stille. Das erste, was ich morgen tue – denke ich vor dem Einschlafen, ich gieße das Bäumchen im Foyer – vielleicht ist es gar nicht tot, sondern nur ausgetrocknet. Und danach klingele ich bei Harras. Und wenn er nicht antwortet, gehe ich über den frischen Schnee entlang der Balustrade einmal auf dem Dach herum.