Rein in die Leere 9

Jeden Morgen und jeden Abend um sieben, wenn ich mich für eine halbe Stunde auf ein Meditationskissen vor die weiß gestrichene Wand meiner Stadtschreiberwohnung setze, höre ich sie, die Wagen der Straßenbahnlinien 1,2,4, 8, 9 und 10. Wenn mein Geist sich mal wieder in Fantasien über eine Auferstehung meines gerade verstorbenen Katers Osman verliert oder von einer Stadtschreiberschaft ohne Corona träumt, dann sind sie es, die mich zurück in die Wirklichkeit holen: ohne Kater und mit Corona, auf dem nackten Boden der Tatsachen, der in meiner Stadtschreiberwohnung aus Holz ist. Andere Zen-Schüler mögen auf ihren Atem hören, ich höre auf die Wagen der Linien 1,2,4,8 und 9.

  Am Anfang habe ich immer gedacht, sie bögen um die Ecke, warum sonst sollten sie so ächzen und stöhnen. Dann habe ich von meiner gigantischen Dachterrasse aus gesehen, dass die Wagen sich immer dann anhören, als würden sie ächzen und stöhnen, wenn zwei Bahnen nebeneinander herfahren. Ich dachte auch, sie seien viel näher, in der Ernst-Reuter-Straße und nicht auf dem Breiten Weg. 

  Auch nachts, wenn ich nicht gleich einschlafen kann, schicken sie ihre akustischen Grüße herauf in meinen 9. Stock, und das erste, was ich höre, wenn ich morgens aufwache, ist ihr bronchiales Ächzen und Stöhnen. Sie sind die Taktmesser meiner Magdeburger Stadtschreiberschaft, der Soundtrack meiner Quarantäne. An ihnen zerschellen in schöner Regelmäßigkeit meine Träume von einem Ende der Pandemie. Wobei sie ja auch weiter fahren werden, wenn das alles vorbei ist.

  Warum ich meditiere, werde ich manchmal gefragt, wenn ich mich dazu hinreißen lasse, überhaupt zu erzählen, dass ich das tue. Man könne doch auch anders entspannen oder inneren Frieden finde, als immer nur auf eine Wand zu starren. Ich verstumme dann meistens, will nicht zu pathetisch werden und von der „großen Angelegenheit von Leben und Tod“ reden, wie das der große Zen-Meister Yoko Daishi getan hat. Lieber will ich das nächste Mal von den Wagen der Straßenbahnlinien 1,2,4,8 und 9 erzählen, wie sie den Breiten Weg in Magdeburg entlang fahren und dabei so ächzen und stöhnen, als hätten sie es mit den Bronchien. Denn um ihretwegen meditiere ich. Damit ich höre, was ich höre. Immer und immer wieder. 

  Inzwischen höre ich die Magdeburger Straßenbahnen sogar auch, wenn ich sie eigentlich gar nicht höre. Ihr Ächzen und Stöhnen ist zu einer Art Tinnitus geworden, ein Beleg dafür, dass meine Magdeburger Stadtschreiberschaft in Zeiten von Corona in einer Art Fiktion abzugleiten droht. Dagegen hilft nur eins. Schreiben. Schreiben und meditieren.

Titelseiten

20. Mai 2020

BND-Abhörpraxis verstößt gegen das Grundgesetz

titelt die seriöse FAZ gewohnt sachlich

Urteil gegen BND

die sonst auch schon mal spielerische SÜDDEUTSCHE

und sogar Springers WELT listet kurz und knapp auf

Was der BND nicht darf

Das allerdings weiß dafür die MAGDEBURGER VOLKSSTIMME genau

ganz oben rechts neben einem Foto vom Herrentag mit Deutschlandfahne

BND darf auch keine Ausländer abhören

Honi soit qui mal i pense

etwa

Nicht mal die

oder

Ja was darf der denn überhaupt

Wozu haben wir dann einen BND

und in diesen altvertrauten Tönen

Rein in die Leere 8

Vor ein paar Tagen war der Aufzug in dem Haus, in dem ich zur Zeit wohne, kaputt. Dachte ich jedenfalls. Denn wie ich kurz darauf in einem von einer Hausbewohnerin im wieder funktionierenden Aufzug an die Wand gehefteten Schreiben las, hatte offenbar jemand bloß alle Knöpfe gedrückt, ohne dann einzusteigen, und den Aufzug auf die Weise blockiert.

So weit, so gut. Ich verstehe die Empörung, den Ärger, schließlich ist es ein ziemlicher Kasten, in dem ich wohne, neun Stockwerke hoch, und wer die Stufen bis ganz nach oben laufen muss, so wie ich übrigens, dem kann das schon mal die Laune vermiesen. Aber muss man deswegen denjenigen, der das gemacht hat, gleich entmenschlichen und als „Knopfdrückersau“ bezeichnen, und das gleich zweimal? Muss man mit den Worten „Zusammen finden wir dich!“ zur Jagd auf den Übeltäter blasen? So geschehen nämlich im besagten, selbstverständlich anonym gehaltenen Schreiben, unter der seltsam steif anmutenden Überschrift „Missbrauch der Aufzugsanlagen zur Personenförderung“. Und was folgt als nächstes? Einkasernieren? An die Wand stellen und…?

Es ist in den letzten Jahren viel von der Verrohung der Sprache als Voraussetzung von Gewalt gesprochen wurden, und mir scheint, als liefere besagtes Schreiben ein furchterregend perfektes Beispiel dafür. Eine Mischung aus Amtsdeutsch und Primitivität, aus Bürokratie und Brutalität. (Klingelt da was?) Ein Neologismus zudem, „Knopfdrückersau“, der auch noch ausdrücklich in der Überschrift angekündigt wird, wenn auch in Klammern. So schwer es auch fällt, ich muss es noch einmal zitieren: „Achtung: Missbrauch der Aufzugsanlagen zur Personenförderung (Täter/in im folgenden als „Knopfdrückersau“ bezeichnet). 

Wer sowas schreibt, schreibt nicht im Affekt. Er kennt sich aus. Er kalkuliert. Würde er sonst seine Beschimpfungen in Anführungsstriche setzen? Wer sowas schreibt, weiß, was er tut.

Mich empört und ängstigt dergleichen mehr als die eigentliche Aktion, die hier beklagt wird. Früher hätte man gesagt: ein dummer Jungenstreich. Eine Unverschämtheit. Ich könnte mir auch vorstellen, so jemanden, wenn ich ihn auf frischer Tat ertappte, als Arschloch zu bezeichnen (ohne Anführungsstriche.) Aber „Knopfdrückersau“? Und „Zusammen finden wir dich“? 

Als ich gestern Abend mit dem Aufzug hochfuhr, habe ich „Knopfdrückersau“ auf dem Zettel durchgestrichen. Ein Stadtschreiber, der nicht schreibt, sondern durchstreicht. „Wirklich, ich lebe in finsteren Zeiten!“

Rein in die Leere 7

Welcher Ort könnte leerer sein als ein russischer Soldatenfriedhof ein paar Tage nach dem 8. Mai 2020. So leicht wird man ihrer nicht mehr gedenken, der gefallenen russischen Soldaten, in Magdeburg nicht und anderswo auch nicht. Und so bin mal wieder der einzige, der zwischen Gräbern herumstreunt, an diesem trüben Montagnachmittag zwischen fünf und sechs Uhr.
Mein Großvater hätte hier liegen können, wenn seine Geschichte anders verlaufen wäre, wenn seine Mutter nach dem frühen Tod seines Vaters nicht wieder geheiratet hätte, einen deutschen Eisenbahner, beheimatet im westfälischen Soest. Er selber, mein Großvater, 1910 in Minsk geboren, wäre prädestiniert gewesen, gegen die Deutschen im Zweiten Weltkrieg zu kämpfen. Stattdessen hat er für sie gekämpft, gekämpft, na ja, er hatte es mit den Augen, und so konnte er die Front mit der Schreibstube vertauschen. Aber er versah ihn, wie auch immer, seinen Dienst am Vaterland, das nicht seines war, ganz im Gegenteil.
Mein Großvater war Jude, Enkel eines Rabbiners aus einem kleinen Ort südöstlich von Babrujsk an der Bjaresina. Das Dritte Reich hat er unter dem Damoklesschwert der Mischehe verbracht, die seine Mutter 1923 eingegangen war. Er hat nie darüber gesprochen.
Die Männer, denen auf den Grabsteinen gedacht wird, sind überwiegend jünger als mein Großvater. Majore, Offiziere, Leutnante, ums Leben gekommen „bei der Erfüllung der Dienstpflicht“, wie mir eine Freundin via WhatsApp übersetzt. Später lese ich, dass der Friedhof auch als Grabstätte für die Angehörigen der Sowjetarmee genutzt wurde, die während ihres Dienstes in der DDR verstarben.
Vor der zentrale Gedenktafel liegen Blumen und Kränze. Die Linke war hier, die Regionalgruppe „Aufstehen“ Magdeburg, Vertreter der Landesregierung. Ich komme mit leeren Händen. Schließlich war mein Besuch nicht geplant, ich wollte bloß ein bisschen spazieren gehen im Nordpark nach einem langen Tag am Schreibtisch, ich hatte ja keine Ahnung, dass sich dort der Ehrenfriedhof der gefallenen Sowjetkämpfer befindet. Aber was weiß man schon von tieferen Ahnungen. Ich hatte auch schon mal eine Autopanne in Remscheid-Lüttringhausen, und während ich darauf wartete, dass der gerissene Zahnriemen in einer Werkstatt ausgetauscht wurde, trank ich einen Kaffee in der Caféteria eines Krankenhauses. Wochen später erfuhr ich, dass es dasselbe Krankenhaus war, in dem mein anderer Großvater siebzig Jahre zuvor gestorben war.
Als ich wieder in den eigentlichen Park zurückkehren will, kommt doch noch jemand auf den Friedhof. Ein junges Pärchen. Die Frau im roten Mantel hat Blumen dabei. Ich will schon auf sie zugehen und sie in ein Gespräch verwickeln, da fällt mir ein, dass Abstand halten das Gebot der Stunde ist. Und der Einfall stoppt nicht nur meine Schritte, er lähmt auch meine Zunge. Dabei hätte ich zu gerne gewusst, wer sie sind und was sie, so jung noch, hierher führt. All die ungestellten Fragen, die nicht geführten Gespräche, die nicht stattgefundenen Begegnungen und die nicht geschriebenen Texte in Zeiten von Corona.
Im Park ist es dann wieder voller. Kinder enteilen ihren Eltern, Jogger drehen ihre Runden, Halbwüchsige brechen feixend alle Abstandsregeln. In Gedanken bin ich aber noch auf dem Friedhof, beziehungsweise bei dem Bild, das am Wochenende aus Moskau in alle Welt transportiert wurde: der einsame Putin im Regen an der Kremlmauer, in der Hand eine rote Rose. Es war das erste Mal, dass ich ihn irgendwie traurig sah, und ich fragte mich, ob es wegen der siebenundzwanzig Millionen toten russischen Soldaten war oder weil er so allein war, ausgerechnet an diesem Tag. Gestern hätte ich noch gesagt, wegen der Soldaten, jetzt, wo auch das junge Paar zum Ausgang geht und der Friedhof wieder genau so verlassen daliegt wie vor meinem Besuch, bin ich mir da nicht mehr so sicher.

Rein in die Leere 6

Der 1. Mai ist kein Tag für Friedhofsbesuche. Wobei ich nicht wissen möchte, wie viele der Toten, die hier auf dem Buckauer Friedhof liegen, sich totgearbeitet haben, in der Stadt des Schwermaschinenbaus. Warum also ihnen nicht mal einen Besuch abstatten. Zu den Toten muss man ja auch nicht auf Abstand gehen in diesen Tagen.
Dabei fällt mir etwas ganz anderes auf, als ich meine erste Runde mit dem Fahrrad über den Friedhof drehe. Wie viel Platz hier ist. Als beherberge der Buckauer Friedhof weniger seine alten Toten, sondern warte vielmehr auf neue. Oder als hätten emsige Friedhofsgärtner vor Wochen schon mal Platz geschaffen für die zu erwartenden Corona-Toten. Wie zur Strafe für solche unseligen Gedanken fängt es auf einmal an zu regnen.
Ich bin nicht der einzige Besucher an diesem späten Nachmittag. Wobei ein junges Pärchen den Friedhof nur als Durchgangsstation zu gebrauchen scheint. Während eine Frau mitten im Regen die Blumen auf einem Grab gießt. So als würde sie dem Klima, das es nach Wochen endlich mal wieder regnen lässt, nicht so recht trauen.
Ich bin erstens katholisch und komme zweitens vom Land. Da sind Friedhöfe bisweilen eine wuchtige Angelegenheit, zumindest in Westfalen. Riesige Familiengrüfte mit blank polierten Doppelsteinen oder spaltrau gebrannten Felsen und den Namen von Toten über Generationen hinweg, von Frank und Anja über Herbert und Adelheid bis hin zu Friedrich-Wilhelm und Franziska. Dazu alle paar Meter ein kunstvoll geschnitzter Corpus, damit ja kein Zweifel entsteht, dass der Tod noch immer eine Sache der Kirche ist.
Der Buckauer Friedhof dagegen ist eine ziemlich unchristliche Angelegenheit. Die Grabsteine, die darauf hindeuten, dass hier gute Christenmenschen begraben liegen, sind längst verwittert, die Grüfte ungepflegt, ja wie aufgegeben; es dominieren die bunten Blumen auf den Urnengräbern. Dafür entdecke ich erfreulich wenige Stätten, auf denen die Angehörigen ihren Gefühlen in Form von Maskottchen, Spielzeug-Harley Davidsons für verstorbene Rocker oder Miniaturgitarren für jemanden, der zu Lebzeiten Mitglied einer Tanzcombo war, freien Lauf gelassen haben. Alles schon gesehen.
Ich drehe noch eine Runde, dann suche ich mir eine Bank, nehme mein Handy und schaue mir ein paar Fotos von meinem Kater an, der vor zwei Tagen vom Balkon meiner Istanbuler Wohnung gefallen und anschließend gestorben ist. Vielleicht ist das ja der tiefere Grund für meinen Friedhofsbesuch ausgerechnet am ersten Mai. Auch er hat ein Grab bekommen, auf einem der wenigen Grünstreifen in meinem Viertel. Und auf einmal fühle ich mich gefangen wie nie zuvor in diesen Corona-Zeiten, weit weg von dem Ort, an dem ich inzwischen zu Hause bin. Dabei ist er so trügerisch nah. Auf der Rückfahrt entdecke ich direkt neben dem Friedhof einen Sultan-Grill.