X Abschied & Wiederkehr

Und dann heißt es Abschied nehmen, von einer Stadt, die kein weißes Blatt mehr ist, weil sich Erinnerungen einschrieben – dies war der Platz, an dem …, dies die Hausecke, an der …, dies das Theater, in dem … und dort hörte ich / sah ich / traf ich …

Wir gehen immer fort, wandern weiter, in uns der Bilderbogen all der Begegnungen, der Eindrücke; und womöglich bleibt auch ein Teil von uns in anderen an jenen Orten zurück. Sie erinnern sich, danach, im Lesen der literarischen Arbeiten, die daraus entstanden – das war doch der Platz, an dem …, dies die Hausecke, an der …, dies der Fluss, in dem … 

Und manchmal kehren wir zurück, später, um dann zu sagen, ja, das war der Platz, die Hausecke, das Museum: Ich notiere mir 18.11., Literaturhaus Magdeburg im Kalender.

Seltener kommen wir nicht wieder.

Dazwischen aber liegt immer: der Abschied. 

IX Über die Kunst

So präsent in Magdeburg die bildende Kunst ist, so flüchtig dünkt einen in dieser Stadt die Wortkunst zu sein. Ein Eindruck, der trügerisch genannt werden muss. Nicht nur wirken Literat*innen konstant an diesem Ort, auch kreative Köpfe in Theater und Film leben oder lebten in der Stadt an der Elbe. Wer Magdeburg in Wort und Bild entdecken will, dem seien hier einige Hinweise dazu mitgegeben.

Die letzten Tage meiner Zeit als Stadtschreiberin nahen in ihren Siebenmeilenstiefeln. Schon drängt sich der ansonsten übliche Alltag aus fünf, sechs, sieben parallel laufenden Jobs in den Arbeitsalltag. Die Abschlusslesung am 22. September im Schauspielhaus will vorbereitet sein, die Lehrinhalte des Wintersemesters suchen ihre Referenztexte, der Buchstapel mahnt kritische Essays ein: Wessen bedarf ein Roman, ein Gedicht, um zu gelingen?

Das werde ich oft genug von Leser*innen und Studierenden gefragt, und je nach Tag und Nacht könnte ich über diese Erkundigung lachen oder wüten. An den Guten versuche ich zu erläutern, dass ich durchaus verstünde, man wünsche sich ein Kochrezept. Nur: Welches auch immer ich nennen würde, es könne unmöglich umgesetzt werden, da sich bereits die Zutaten ›Einfallsreichtum‹ und ›innovative Kraft‹ jeglichem Nachahmen entziehen. An meinen enervierten Tagen hingegen knurre ich lieber ›Welch sonderbare Frage!‹, verweise auf ›den ersten Satz, den letzten‹, füge die Werkzeugkiste der Literaturkritik hinzu, bevor ich nach einem mürrischen Verweis auf die ›Seite 33‹ das Weite suche.

Man könnte auch die Zahl der teuflischen 66 für diese Wort-für-Wort-Betrachtung nennen oder welche auch immer; jede nach der Zehnten ist gut geeignet. Es ist bloß eine Frage der Vorliebe.

Ebenso muss die Antwort auf die nächste Frage – ob ich zu Beginn der Arbeit an einem literarischen Werk zu sagen wisse, dass mein Vorhaben glücken werde – abschlägig ausfallen, ist man der Wahrheit verpflichtet: Niemand weiß das. Wir hoffen es bloß und beobachten, was sich entwickelt, mal um den Ausgang besorgter, mal gewisser, vielleicht an einigen Tagen sogar restlos von unserem Tun überzeugt. Im Grunde genommen wissen wir Literat*innen nur eines mit Sicherheit zu sagen: Wir erzählen uns selbst eine ›Geschichte‹, im weitesten Sinn, deren Stimme unseres Erachtens im Chor und im Gewimmel des bislang bereits Erzählten noch fehlt. Und hoffen auf einen glücklichen Ausgang des Unterfangens; unser Happy End ist keineswegs dasjenige der Leser*innen. Es heißt bloß, dass der Ideenkeim, den wir von der ersten Sekunde an nährten, wuchs, sein Faszinosum sich verbreiterte, es von Arbeitsstunde zu Arbeitsstunde an Kraft gewann. Mal rascher, mal verhaltener, sich womöglich während einiger Tage auch gänzlich in Schweigen hüllte, weil das angedachte und im Entstehen begriffene Projekt Zeit zum Reifen brauchte. Gut Ding will eben Weile haben; und ein Erzählprojekt erst recht.

Selbst im Danach, an irgendeinem Tag X, an dem wir schon Wochen, Monate, Jahre mit dieser Narration verbracht haben, können wir nicht sagen, ob sie gelingen wird beziehungsweise ob sie gelang: Uns hat bloß die Hoffnung nicht verlassen!

Ja, nicht einmal zu jenem Zeitpunkt, da wir das Erzählwerk an Agent*in oder Lektor*in weiterreichen, sind wir uns dessen sicher, dass unsere Arbeit gut war. Ich würde sogar sagen, dieser Moment ist der besorgteste: Eine Achterbahnfahrt ist ein müder Sonntagsspaziergang an der Elbe, verglichen damit. Kaum weniger zittrig empfinde ich die letzten Stunden vor dem Druck. Sage mir alsdann morgens, mittags, abends, dass mein*e Lektor*in und ich – abwechselnd sowie gemeinsam – Wort für Wort, Satz für Satz um- und umgedreht haben, bedacht und reflektiert, dass ich jede meiner Entscheidung zu Arrangement, Stilmittel, Duktus begründen kann. Nun wird bald alles zu spät sein: Kein Komma kann mehr verändert werden. Kein ›kein‹ wird noch ein tastendes ›kaum ein‹; von größeren Veränderungen ganz zu schweigen. Wir haben es zu akzeptieren. Selbst wenn wir vielleicht in einem Monat oder in zweien noch dieses oder jenes misstönende Wort bemerken könnten, einen Strang anders arrangieren möchten, einen Absatz streichen wollten: Vertrag ist Vertrag und ohne Abgabe kein Buch; ohne Buch keine Lesungen … Es gilt, sich zu trennen. Ob uns das gefällt oder nicht.

Man übt sich in diesen Abschieden, aber leichter werden sie deswegen keineswegs; was wohl für alle Abschiede im Leben gilt …

Erst Jahre nach der Trennung von jenem Werk ist Autor*in in der Lage zu erkennen, was es taugt. Dann kann es geschehen, dass man sich in der Relektüre wahrhaftig verliebt, sich womöglich sogar ein Glücksgefühl einstellt: ›Das habe ich geschaffen, und gut ist es.‹

Meist fügt sich in diesen Satz der begrenzende Einschub ein: ›dieser Abschnitt‹. Oder: ›dieses Strukturelement‹. ›Dieser Erzählton‹. Denn häufiger als überbordender Jubel ist die Erkenntnis, dass es zu jenem Zeitpunkt das Beste wurde, was man zu leisten imstande war. Auch das: kann keineswegs ein Drama genannt werden. Es ist gut; auch weil sich nach einem wahrlich perfekten Werk jedes weitere erübrigen würde. Schließlich ist ›perfekt‹ nicht mehr zu steigern, es könnte daher nur schlechter ausfallen, und wer würde das schon wollen?

Es ist gut, und ›gut‹ ist in dieser Angelegenheit das Beste.

Der Befund nach zeitlicher Distanz wäre höchstens dann eine Tragödie, hätte man wider besseres Wissen, wider eigenes Bauchgefühl, wider leise Ahnung geschlampt, geschludert, sich zur Eile drängen lassen, hätte sich an den sogenannten ›Publikumsgeschmack‹ anzubiedern versucht – was auch immer das sein mag; und die ursprüngliche Idee, die anfängliche Geschichte, die es zu erzählen galt, weil sie unter all den bereits erzählten, noch fehlte, deswegen verraten.

Am Tisch vor mir, neben dem Buchstapel, liegt der Korrekturausdruck des Erzählprojekts, an dem ich in Magdeburg arbeitete, aus dem ich in Bälde bei der Abschlusslesung vorlesen werde, weil sich diese Stadt einschrieb, ihre sakralen Räume, die keine mehr sind, mir Recherchematerial wurden: Die in der Wallonerkirche existente Dauerausstellung zu den »Verlorene Kirchen« mit ihren Schautafeln und Miniaturnachbildungen der Gebäude, die Initiativen zur angedachten anderen Nutzung oder zur Wiedererrichtung – wie diejenige, die gerne das Portal der Ulrichkirche am gleichnamigen Platz erneut aufgebaut wissen würde; oder die Johanniskirche mit ihren beeindruckenden Glasfenstern von Max Uhlig …

In der letztgenannten durfte ich übrigens meinen Kurzfilm »Schatten & Licht« über die Frage nach dem Wert der Kunst für uns Menschen drehen. Auch er soll – nicht in allen finalen fünf Sprachen, aber wenigstens auf Deutsch – in diesen Tagen noch fertiggestellt werden und seine Premiere im Schauspielhaus Magdeburg erleben. Den Uhr- und Glockenturm der Johanniskirche bestieg ich an einem Tag, der nicht unbedingt der geeignetste war, um in Ruhe einen Blick rundum zu werfen, der böigen Witterung wegen, die bereits davon erzählten, was da noch kommen werde, an schwarzen Wolken und heftigen Turbulenzen. Doch da es mir in keiner Weise um die Aussicht ging (Wiewohl diese beeindruckend ist!), tat dies nichts zur Sache. Im Gegenteil: Mir kam die Dramatik des Windgezerres für meinen Erzählinhalt sehr zustatten. Abgesehen von dem Faktum, dass sie das Notieren erschwerte, während ich ging und mir der Magdeburger Designer Ernst Albrecht Fiedler leidtat, der mir Tür und Tor öffnete, damit ich meiner Arbeit nachgehen könne. Von ihm stammen übrigens auch die beeindruckenden Miniaturnachbauten der verlorenen Kirchen: Wer eine Autorin bei ihrer Recherche begleitet, sei jedenfalls gewarnt: Sie spricht kein Wort, kritzelt nur manisch im Stehen in ein Notizbuch, photographiert Tausende Details, bei denen man sich fragt ›Wozu?‹ und ist völlig unansprechbar. Will man ihr etwas mitteilen, murmelt sie höchstens irgendetwas Unverständliches. Regelrecht unhöflich muss man das nennen; oder arbeitsam. Weil sich in einem währenddessen bereits eine Geschichte erzählt, die im Außen nicht wahrnehmbar ist, nicht existiert. Weil ein*e Autor*in einen Raum im Arbeitsprozess nie nur als jener Mensch, der sie ist, betritt, sondern ihr Figurenarsenal im Schlepptau führt.

So besteht im Entstehungsprozess eines Werkes durchaus eine Analogie zur Elternschaft: Man trägt die Idee zu einem Werk wie ein ungeborenes Kind in sich, geht schwanger damit, sorgt sich um sein Gedeihen davor, danach, läuft mit den Protagonist*innen in sich durch die Welt, aufmerksamkeitsfokussiert, gebiert die Erzählung irgendwann (Manchmal ist auch bloß die Zeit um, die gewährt wird.). Man lässt den Roman oder den Gedichtzyklus in die freie Welt ziehen und hofft, es möge ihm dort gut ergehen, er möge sich behaupten; oder auch nur: ohne allzu schlimme Blessuren davonkommen.

Für diese ist die Kritik zuständig, und deren Geschäft ist ein gleichermaßen der Mühe volles wie dasjenige der Autor*innenschaft wiewohl aus anderen Gründen.

Oft ist das häufigste Instrument der Kritik – das Verfassen von Rezensionen – ein Zubrot zum hauptberuflichem Augenmerk, seien es Journalist*innen, seien es Autor*innen, da ihr existenzielles Sein nur durch Mischkalkulation zu finanzieren ist. Als Literatin, die in ihrer Freiberuflichkeit überleben will, kommt man in Österreich kaum darum herum, journalistisch tätig zu sein, zu rezensieren, Vorträge zu halten, zu lehren; manchmal auch als Ghostwriter*in zu arbeiten. Außer man hat einen Vertrag in Deutschland oder einen Ehegatten, der einem das Leben finanziert. Oder ein Erbe. Ich hatte und habe keines davon. Dafür neben allen literarischen ›Kindern‹ drei durch und durch menschliche, die essen wollten, sich kleiden wollten, die eine bestmögliche Bildung verdienten …  Nun stehen sie auf eigenen Beinen und stapfen mit ihnen in die Kunstlandschaft im weiteren Sinn, einer in der Vermittlung, eine als Autorin, eine als kreativer Kopf in anderen Medien, und um die Wahrheit zu sagen, die Mutter in mir hätte sie lieber fern gewusst, in anderen Berufen … 

Wie alle anderen auch verkauft man in der Kunstwelt eigene Zeit kunstfern und bedauert dies manchmal, weil einem diejenige für all die Nebengleise Zeit und Konzentrationskraft für dasjenige nimmt, welches einem selbst am wichtigsten ist: das eigene Schreiben. Deshalb sind solche Stadtschreiber*innen-Posten wie Magdeburg sie bietet auch so ungemein wichtig und schätzenswert, insbesondere, wenn sie mehr als ein halbes Jahr abdecken helfen. Sie ermöglichen es, dem Spießrutenlauf für einige Monate wenigstens teilweise zu entkommen und einem Ort dafür etwas zurückzugeben, ihm ein literarisches Denkmal zu setzen!

Um sich nach dieser Erholung erneut die Liste aller Vorteile des Mischkalkulationslebens aufzusagen; und mit der Zerrissenheit weiterleben, die das eben obendrein bedeutet: Die Zeit reicht nie aus.

Zu den Benefits der Jobsammlung zählt auf jeden Fall, dass man sich durch all die Aufgaben, die man übernimmt, keine Gedanken um die Suche nach einem Hobby machen muss: Es fehlt schlicht der Freiraum dafür. Man setzt sich konstant mit Literatur auseinander, denkt über sie nach, vertieft persönliche Kenntnisse stetig, hinterfragt eigene Reaktionen …

Dieser innere Reflexionsdialog mit den Werken anderer nährt folglich wiederum das eigene Schreiben. Andererseits obliegt einem z. B. bei Rezensionen die Auswahl der literarischen Arbeiten meist nicht selbst, insbesondere, wenn man sie für das Feuilleton einer großen Zeitung verfasst. Und zur eigenen Beliebtheit trägt Ehrlichkeit in diesem Bereich auch nicht gerade bei: Die Kolleg*innen würden sich mehr über gelogene Lobeshymnen freuen, denn über eine kritische Betrachtung. Natürlich, das verstehe ich, aber wem wäre damit gedient? Den Leser*innen sicher nicht und meines Erachtens den Autor*innen ebenso wenig, und zwar weder der Rezensierenden noch der Publizierten. 

So nimmt diese Seite der eigenen Arbeit manchmal auch durchaus komische Züge an. Wie jüngst, als ich Magdeburg verließ, diese mir gewährte Auszeit im Alles-Zeitgleich-Bewerkstelligen-Müssen, um einige Tage an einem internationalen Autor*innentreffen teilzunehmen, zu dem man mich eingeladen hatte: Sechs Kolleg*innen debattieren je eine ihrer Arbeiten miteinander, stellen sich der Kritik der anderen. Wenige Stunden nach unserer Ankunft, wir hatten gerade die ersten beiden Essays diskutiert, platzte ein Kollege am Weg zum Abendessen damit heraus, er sei ja so froh! Erleichtert sei er, so unendlich erleichtert. Er habe wahrhaftig ein ungemein mulmiges Gefühl gehabt, wollte zuerst gar nicht hierher kommen. – Da ich nachfragte, wieso denn nicht, ob Covid und die Sorge ein Grund gewesen sei, platzte er damit heraus: Nein, nicht Corona habe ihn geängstigt. Sondern meine Person! – Danke! – Er lachte auf: Aber ich sei ja eh eine ganz Liebe, obendrein bodenständig, humorvoll und … – den Rest seiner sich überschlagenden Erleichterung dürfen wir uns hier gerne ersparen.

Wiewohl mich diese Situation herzlich lachen ließ, sie war einfach zu absurd, gab sie mir auch zu denken: Wieso in aller Welt verquicken wir wieder und wieder Kritik und Mensch, Werk und Person? Selbst wenn ich schon mal sage, dieser Roman tauge höchstens für 40 Grad-Plus im Schatten, heißt das doch nicht, jener Autor sei verachtenswert, jene Autorin ein unerträglicher Mensch!

Nie wäre ich auf den Gedanken gekommen, jemand könne sich vor mir fürchten. Gut, mir geht Literatur über alles, und ich werde niemals sagen, ein Werk sei der Lektüre wert, wenn ich dies nicht finde, und ja, es bedarf viel, damit ich überzeugt bin. Aber das bedeutet doch nicht, dass man in Panik vor mir erstarren muss …?

Sonderbarerweise ereignete sich wenige Tage später folgender Dialog mit einem Studenten, den ich als Tutorin betreue: Er sei sehr froh, dass er – ehrlich gestanden – erst jetzt entdeckte, was es mit dem Nachfolgen der Änderungen im Textdokument auf sich habe, denn ansonsten hätte ihn ›das Fehlerrot‹ vor Monaten schon dazu gebracht, das Handtuch zu werfen. Nun jedoch habe er begriffen, dass Schreiben Textarbeit bedeute – oder er sei gerade dabei, das annähernd zu verstehen …

Und ich?

Die selbst an den von mir verfassten und bereits gedruckten Werken immer noch den Rotstift ansetzt, sodass Lesungsvarianten durchaus differieren können, auch wenn es meist bloß einzelne Wörter betrifft, die hinzukommen, die wegfallen, kann ich verstehen, dass jemand jegliche Reflexion zum Erzählwerk als Bedrohung, als Angriff, vielleicht sogar als Unverschämtheit wertet?

Ich bin mir nicht sicher.

Spreche ich mit Studierenden über die Rolle des Lektorats, weise sie darauf hin, dass diese fast immer recht haben, ernte ich meist Entrüstung. Ebenso, wenn ich ihnen sage, dass es sie bedenklich stimmen solle, blieben nach ihrer Durchsicht aller Korrekturstellen vom Fingerzeig der Lektor*innen nicht mehr als ein oder zwei über: Dies sei eher ein Hinweis für persönliche Blindheit als für Perfektion. Es lohne sich, über jede ›Wellenlinie‹ nachzudenken, selbst wenn man die vorgeschlagene Lösung ablehne: Es stehe einem ja frei, eine Alternative zu suchen – ein Spiel, das versierte Tandems aus Lektor*in und Autor*in exzellent beherrschen, damit die bestmögliche Variante final gefunden werde, und Aufgabe der Lektorin oder des Lektors ist es dabei, solange zu nerven, bis sich die letzte Wellenlinie erübrigt hat. Weil deren Blick auf die Narration ein unverstellterer ist!

Der Fingerzeig der Kritik hingegen ist per se ein anderer – und weil sich ein Denken in Daumen-hoch/Daumen-runter eingeschlichen hat, fällt es offenbar vielen schwer, damit umzugehen, dass eine Rezension selten einzig euphorisch ausfallen kann, bleibt sie der (eigenen) Wahrheit verpflichtet.

Wehmut hie & dort

Vor mir am Tisch harren vier Romane ihrer Rezension, den seitlichen Blick auf das Nachtkästchen ignorieren wir lieber, es könnte bedrohlich anmuten  – ich schiebe eine Pause ein, gehe nach draußen, auf den Balkon, blicke auf das Treiben am Ulrichplatz hinab. Ein Kind läuft rund um den Springbrunnen, fällt, weint lautstark – ich denke an die ersten Tage in dieser Stadt, an das Mädchen auf dem roten Rad, welches stundenlang im Kreis fuhr, der ich in meiner Quarantäne zusah, mir ihretwegen sagte, dass die Welt dort unten real sei, keine Illusion. Mein Telefon läutet – jemand erkundigt sich, ob und wo Tickets für die Abschlusslesung erstanden werden könnten. Ich verweise den Anrufer an das Theater. Meine erste wahrhaftige Lesung vor Publikum in dieser Stadt, nicht im virtuellen Raum, nicht für ein Kameraauge. Und all die Arbeiten, die in der Ottostadt entstanden sind, wollen im Außen betrachtet werden, die ›Kinder‹ sollten flügge sein …

Sind sie es?

Mitnichten. 

Sie wären es sowieso nie, so gut kenne ich mich selbst mittlerweile. Auch das ist keine Tragödie …

Vogelschwärme kreisen über der Stadt, unzählige Krähen. Sie nähern sich als fliegender Teppich, wellen sich westlich des Doms, versammeln sich jeden Abend auf dem neu errichteten Hochhaus gegenüber der Stadtschreiberwohnung. Im Hintergrund thront die ›Albtraumschnecke‹ – ich habe sie noch immer nicht bestiegen! Sie wissen nicht, wovon ich spreche? Finden die Albtraumschnecke nicht in Ihrer Suchmaschine? Natürlich nicht! Der Name entstand eines Nachts im freundschaftlichen Geplänkel, während mein Gast und ich vom Balkon hinabblickten wie nun, weil die Form dieses Hügels an diejenige des Weichtieres erinnert, bloß albtraumhaft groß, und an manchen Abenden wie an jenem, da dieser Name entstand, umgibt ihn eine Art Aura, scheint die Luft um ihn regelrecht zu dampfen, in späterer Dämmerung zu glühen gar. Eine optische Täuschung, ich weiß, einzig und allein der Technik zur Energiegewinnung geschuldet, die auf seinem Rücken montiert ist. Unten am Trottoir verabschieden sich zwei Wort- und gestenreich voneinander. Auch diese Liste wird für mich länger und länger, denn in einem halben Jahr an einem Ort gewinnt man Freund*innen, und sagt man ihnen ›Wenn du mal in Österreichs Norden bist, dann komm vorbei, die Tür zu meinem Gästezimmer steht dir immer offen!‹, so ist es doch ein Abschied, denn die Zeit der Dialoge, des Austausches über Kunst und Leben, über Theologie und Ethik, Natur und anderes Lebensrelevantes geht zu Ende, der letzte gemeinsame Spaziergang naht – habe ich bereits erwähnt, dass ich Abschiede nicht leiden kann? Mir dünkt das Leben zu brüchig, um sie mit einem Achselzucken abzutun, und selbst ihre Häufigkeit kann mich nicht wirklich mit ihnen versöhnen. »Die Diener am heiligen Wort / sind gleich den Hirschen hie und dort«, murmle ich. Und die Diener*innen nicht minder.

Allerhand Wirken in einer Stadt

Das ist übrigens nicht meine Zeile, sondern sie stammt von Johann Block, einem gebürtigen Salzwedler, kaiserlicher Poet und Gymnasiallehrer in Magdeburg, der diese sogenannte »Andacht« 1618 verfasste, und an die ich stets denken muss, sehe ich am Alten Markt den Hirsch stehen, weil ich Blocks mahnende Zeilen, dass Dichter*innen gleich einem Hirsch über alles Gestrüpp, Dornenranken und Schlangengetier hinwegzusetzen hätten, in einem schmalen Büchlein las, welches mich bei meiner Ankunft am Schreibtisch empfing und das mich nach dem Ende meiner Quarantäne bei den ersten Stadtspaziergängen allein begleitete – ewig scheinen diese her zu sein, heute fahre ich durch die Stadt und erkenne wieder …

»Magdeburg literarisch«, so heißt der schmale Band, ein Spaziergang durch die Literaturgeschichte der Ottostadt, verfasst von Hanns H. F. Schmidt und Sigrid Eleonore Schmidt. Es lohnt sich, diese besondere Reiseführerin eines Blicks zu würdigen, will man Magdeburg nicht bloß an der Oberfläche entdecken, sondern auch seine Historie.

In diesem Band wird nicht nur der Alte Markt oder der Dom betrachtet, sondern auch auf Goethes und Telemanns Spuren gewandelt, Schillers Blick auf Magdeburg zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges gedacht, seine Darstellung jener Nacht, in der mindestens 20.000 Bürger*innen ermordet wurden und die Stadt niederbrannte. Da ist von Christian Scriver die Rede, dessen Grabstein ich studierte, weil mir seine hebräische Inschrift im Kreuzgang auffiel und mir dieser Verfasser von Kirchenliedern zuvor unbekannt gewesen war.

Ich hatte auch nicht gewusst, dass Richard Wagner einst hier gelebt hatte, am Breiten Weg, auf Höhe der ehedem dort existenten Katharinenkirche. Wagner erzählt in »Mein Leben« davon, dass er seine Verlobte zur Postkutsche brachte, just an jenem Tag, an dem die Magdeburger*innen schaulustig zu einer Hinrichtung strömten, die einen Soldaten erwartete, der seine Braut aus Eifersucht ermordet hatte. Kaum war Wagners Verlobte abgereist und saß der Komponist im Gasthof, kredenzten ihm die Magdeburger*innen unzählige grausige Details jenes Falls zum Mittagsmahl. Schreibt er. Ich denke nicht, dass Schaulust und Sensationsgier an anderen Orten geringer gewesen wären, weshalb Wagners Erwähnung umso interessanter wird. Wollte er suggerieren, dass an solchem Ort die Uraufführung seines »Liebesverbot« nur ein Fiasko werden konnte? Deswegen hatte er übrigens, hoch verschuldet, final aus Magdeburg zu fliehen …

Höchst amüsant sind gleichfalls die Anfänge Friedrich Spielhagens, damals noch ein vom Pech verfolgter Schauspieler, der die Bretter der Welt gegen Füllfeder und Tintenfass tauschen wird, weil bei seinem ersten Magdeburger Auftritt in der finalen Szene die vermaledeite Tür derart klemmte, sodass er die Bühne nicht betreten konnte, um erschossen zu werden. Weshalb sein Gegenspieler im Stück auf die klemmende Tür feuerte, doch Spielhagen bestand darauf, an der Klinke zu reißen – wer stirbt schon gerne in den Kulissen? – und wieder und wieder ›erschossen‹ zu werden, zum Gaudium des Publikums, bis der Vorhang resigniert gesenkt wurde und die klemmende Tür Spielhagens Theatergeschichte.

Heute kennt (geschweige denn: liest) diesen Autor wohl kaum einer noch. Dabei zählte Spielhagen neben Theodor Fontane zu den angesehensten Romanschriftstellern des späten 19. Jahrhunderts. Vielleicht ein wenig zu Recht, obgleich ein Werk wie Spielhagens »Problematische Naturen« es mit Bravour mit jeder Telenovela oder Netflix-Serie aufnehmen könnte: Ein natürliches Kind, leider verschollen, das jedoch ein sagenhaftes Erbe erwartet; seelenverwandte Männer, die sich in Freunde und Widersacher gliedern, natürlich außerdem Wahnsinn und Verführung, und darüber hinaus die gesamte Bandbreite obligater Liebeswirren! Es muss ja nicht immer ein Schloss in England sein, nicht? Wer weiß, vielleicht kommt ein*e Regisseur*in ja noch auf den Geschmack?

Unbekannt war mir auch, dass Adrienne Thomas während der 1920er-Jahre in Magdeburg lebte! Wie die Österreicherin Bertha von Suttner schuf sie mit ihren »Katrin«-Romanen eindringliche Mahnungen vor dem Kriegstreiben, dem Wahnsinn des Abschlachtens, die auch heute noch lesenswert sind und gelesen werden sollten!

Ja, auch darin sehe ich eine Aufgabe der Rezensent*in: Vergessenes wieder ins Licht zu holen. Oder fern der PR-Abteilung der Verlage auf seltene Blüten hinzuweisen und somit auch die gegenwärtigen Mainstream-Tendenzen auszugleichen. Oder es wenigstens zu versuchen! Denn was ohnedies mit Geld und Kontakten gepusht wird, braucht nicht noch eine weitere Besprechung. 

Als rezensierende Literat*in, kennt man also beide Seiten – die Sorge um das eigene literarische ›Kind‹, die Angst vor einer ›Vernichtung‹ nach Jahren intensiver Arbeit, das Wissen, keine Kritik habe (oder vielmehr: ›sollte ___ haben‹) mit der eigenen Person zu tun. Und man weiß um den Usus, der einen schon auch mal wüten lassen kann, dass man Kritiker*innen unwidersprochen walten lassen müsse, selbst wenn sie den Namen der Protagonistin verdrehen oder zwei Zeitebenen zu einer mischen, da sie nur flüchtig lasen, des geringen Honorars wegen; oder mangelnder Arbeitsethik, was weiß ich.

Ihnen dieses ›eigene Kind‹ zu überantworten, das bedeutet auch, es ihnen freizustellen, was sie mit diesem Roman oder Lyrikband machen, für den man sein Bestes gab und Entscheidung um Entscheidung traf. Denn das heißt Schreiben: Zwischen allen Möglichkeiten des Erzählens einer Geschichte – und es gibt Unzählige – die Beste auszuwählen. Die Beste, das bedeutet in diesem Fall diejenige, die am ehesten in der Lage ist, im Zusammenspiel mit allen anderen Elementen jener Narration, den Inhalt zu stützen, den Effekt, den man erzielen möchte, zu fördern, ein bewusst gesetztes Mosaiksteinchen im Verein mit all den anderen zu werden, sodass sie später miteinander ein Muster zeichnen, aus dem keines heraussticht, keines aufgepfropft wirkt. In der Lektüre sollte man das Gefühl haben: Ja, diese Geschichte konnte nur so erzählt werden. Eines fügt sich ins andere und alles zu einem harmonischen Ganzen. Daher mag ein Strukturelement für ein Werk genial sein – für ein anderes würde es dennoch einzig einen Störfaktor bedeuten. Die Abarbeitung aller denkbaren Strukturelemente nach To-Do-Liste führt folglich nur zum Elend, ebenso wie das unbedarfte Erzählen von ›A‹ nach ›Z‹. 

Kein Verriss macht Lektüre obsolet!

Ein Leser dankte mir einmal für eine Rezension mit den Worten, da ich ›den Kollegen verrissen‹ hätte, brauche er das Werk nicht mehr zu lesen: Auf mich sei Verlass.

Letzteres will ich auch gar nicht in Abrede stellen, das stimmt schon: Auf mich ist Verlass – mal davon abgesehen, dass mir das akademische Viertel näher ist als die sekundengenaue Pünktlichkeit. Diese Vorliebe teile ich mir mit der Deutschen Bahn … Doch gegen den Trugschluss, man brauche, weil negativ rezensiert, ein Werk nicht mehr zu lesen, will ich vehement Einspruch erheben. Insbesondere der Wortwahl wegen: Ich verreiße keine Kollegen oder Kolleginnen. Meine Reflexionen haben nichts mit der Person, die jenes Werk schuf zu tun, mag ich sie nun kennen oder nicht. Sie sind keine Aussage über sie. Weder zu ihrem Charakter noch zu ihren sonstigen Fähigkeiten, und auch im Hinblick auf literarische Arbeiten befassen sich meine Rezensionen immer nur mit jenen, die darin explizit thematisiert werden.

Das sei sowieso logisch, glauben Sie?

Ist es; und dennoch führen Rezensionen immer wieder zu höchst sonderbaren Verquickungen – mit den anderen Arbeiten eines Menschen, mit seiner Person. Erinnern Sie sich an den erwähnten Kollegen und seine Panik …

Ja, selbst wenn ich schon mal schreibe »Paulus Hochgatterer erzählt uns eine gar unglaubwürdige Geschichte, die um fünf unerhörte Ereignisse kreist. Leider ist der Roman keine Novelle.«, folgt auf diesen Satz immer die Begründung, denn Literaturkritik, wie ich sie verstehe, besteht aus einem Arbeitskatalog, dessen Schritte aufeinander aufbauen: Naturgemäß setzt sie sich mit der eigenen Reaktion auf ein Werk auseinander, aber stets indem sie die Hintergründe jener spontanen Reaktion prüft, sie reflektiert. Niemals darf die spontane Reaktion der Endbefund sein, auch nicht die persönliche Sicht oder eigene Vorlieben für einen bestimmten Erzählton, ein Genre, sondern das Werk wird nach werkimmanenten Kriterien befragt: Nicht ob mir ein Duktus ›gefällt‹, ist Kriterium, sondern ob er für ebenjenes Erzähluniversum, welches sich zwischen erster und letzter Seite entfaltet, stimmig ist. Nicht ob mir die Wahl der Erzählperspektive schlüssig erscheint, ist die Frage, sondern welche Konsequenz hat sie für jenes Werk. Deshalb kommt eine Kritik, die etwas auf sich hält, niemals zu einem ›Daumen hoch/Daumen runter‹-Urteil oder vernichtet die Person dahinter – wir sind ja nicht bei DSDS & Co. Und versteigt sich dennoch ein*e Rezensent*in dazu, weil man sich in der Rolle eines Literaturpapstes oder -gottes in Weiß gefällt, dann ist dieser ein Scharlatan, der um billiger Effekte wegen mit Mülleimern, Tischbeinen oder Feuerbällen hantiert. Lächerliche Effekthascherei. Übrigens, ich glaube nicht, dass es Zufall ist, dass alle drei derart agierenden Kritiker Männer sind, ich bin aber überzeugt, dass man sich vor diesen Zeitgenossen wahrhaftig fürchten soll, denn was sie der Literatur antun, um das Gaudium zu fördern, das ist wahrlich fürchterlich! Und dass jede weitere Blödheit ihrerseits das Feuilleton tagelang beschäftigt, ungemein traurig. Wir haben nämlich Relevanteres zu tun, als kindischer Selbstinszenierung eine Bühne zu bereiten: Über Literatur zu sprechen zum Beispiel, über die Kunst. Oder von mir aus auch über andere Wichtigkeiten wie Wetterkapriolen und Klimakrise, die Notwendigkeit des Handelns oder über den verheerenden Hunger im Jemen …

Die selbst ernannten weißen ›Götter‹ erreichen mit dieser Blödheit dennoch eine Aufmerksamkeit, die gut ihre Taschen füllt. Dessen sollten wir uns alle bewusst sein, schenken wir ihnen unsere Lebenszeit im Zusehen oder debattieren wir über sie, statt z. B. den jüngsten Diskurs-Essay auf 54books.de des Langen und Breiten zu thematisieren, die fulminant spannenden Essays zur Geschichte der Gegenwart (geschichtedergegenwart.ch). Mit Verlaub: Deren Nachdenken hätte es weitaus eher verdient Gegenstand des öffentlichen Diskurses zu sein!

Daher auch: Genug der Worte über jene Herren!

Herstory verdient Betrachtung

Ich blicke zum Lektürestapel am Schreibtisch. Obenauf ein meerblaues Buch, weil jemand fand, mein Aufenthalt als Stadtschreiberin in Magdeburg sei Grund genug, mir diese Arbeit einer hiesigen Autorin als Morgengabe zu schenken; mit wundervoller Widmung obendrein. Editha aus Wessex, Gemahlin Ottos des Großen, ist die Hauptfigur dieser Annäherung, Regine Sondermann die Autorin:

»Ihr wollt mich lieben, doch kennt ihr mich nicht.«

So lautet der erste Satz, dessen allgemeine Bedeutsamkeit in jedem Handbuch für Autor*innen gerne betont wird. Ob man einem Werk bis zum dritten oder fünften Sätzchen Geduld gewährt oder ob der erste Punkt der einzig Entscheidende sein mag, darüber kann man lange debattieren, doch nicht über den Wert dieses Intros von Regine Sondermann:

Es ist schlicht fulminant!

Nicht nur, dass es mit seinem verheißungsvollen Duktus das Interesse weckt, es triggert außerdem eine Sehnsucht in uns an: Wir wollen doch alle als Menschen gesehen werden, anerkannt, wir wollen in unserer persönlichen Individualität wahrgenommen werden. Dieser erste Satz enthält obendrein die implizite Aufforderung, ›lernt mich kennen, lasst euch in eine Annäherung auf mich ein, denn ich habe euch etwas zu sagen‹; was könnte ein gelungenerer Auftakt sein? Zudem dieses inhaltliche Versprechen jener historische Roman über Editha auch noch einzulösen versteht!

Darüber hinaus sagt diese Ouvertüre: Nur wenn ihr mich kennenlernen wollt, hat euer Gefühl für mich Bedeutung; denn ›lieben‹ heißt sich einlassen und dem Gegenüber nicht Verstellung zu oktroyieren.

»Ihr wollt mich lieben, doch kennt ihr mich nicht«, ist aber nicht nur deswegen ein Geniestreich, sondern weil man nach erfolgter Lektüre des gesamten Romans erkennt, dass in ihm die Quintessenz dieses Erzähluniversums »Editha aus Wessex« zusammengefasst ist. Er verweist also in seiner Verheißung über sich selbst hinaus, holt Lesende herein und fasst zeitgleich alles in sich zusammen: Was bitte will man von einem ersten Satz mehr? Dennoch wird dieser erste Satz nicht in der Literaturwissenschaft an die Seite von »Ilsebill salzte nach.« gestellt. Mich hat die gute Salzerei der werten Frau noch nie zu euphorischen Ergüssen ermutigt. Dafür dürfen sich meine Studierenden in diesem Herbst auf »Ihr wollt mich lieben …« freuen.

Womit wir wieder bei einer der Aufgaben angelangt sind, die ich u. a. als zentrales Anliegen der Kritik begreife: Ein Werk ins Licht der Aufmerksamkeit zu rücken, weil es diese verdient hat! (Und nicht weil ein Verlag ein Werbebudget hat oder weil man meint, an jener Autorin, häufiger: an jenem Autor, als Besprechungs-Muss nicht vorbeizukommen. Humbug!

»Editha aus Wessex« macht bereits im ersten Satz die Perspektive klar: Ein Ich spricht, es setzt sich von Beginn an in einen direkten Dialog mit einem Ihr, welches sich nicht nur als ›das Volk‹ zu Edithas Lebenszeit entpuppt, sondern sich darüber hinausgehend allen Rezipient*innen zuwendet, die während der Lektüre Edithas Wirken betrachten und beurteilen werden.

Im Zusammenspiel mit den darauf folgenden beiden Sätzen wird außerdem klar, mit welcher Sonderform der Ich-Perspektive wir es hier zu tun haben. Diese lauten nämlich: »Alles, was mit meiner Geschichte zu tun hat, ist über tausend Jahre her. Sie dauert bis heute fort.« Jenes Ich, welches hier spricht, ist folglich ein auktoriales Ich, welches aus erlebtem und erlebendem Ich besteht. Es erzählt uns von sich selbst, das Ende eigener Geschichte bereits kennend, weshalb es wiederholt zwischen damaligem Erleben und heutigem Urteil springen wird, oder ab und an sogar kommentierend in eigenes Erzählen eingreift: Wenn ich bloß, damals, als junge Frau, bereits gewusst hätte, dass … so hätte ich angesichts dräuender Ereignisse wohl … usw. usf.

Eine kluge Wahl Regine Sondermanns, da diese Form der Ich-Perspektive, mit ihren Vorgriffen in den Zeitenlauf, nicht nur spannungssteigernd wirkt, sondern obendrein der Darstellung einer historischen Person zupasskommt, will man dennoch unvermittelt und nicht-kommentierend aus dieser Figur heraus erzählen. In der Wendung »[…] sie dauert bis heute fort« klingt außerdem bereits an, dass diese Erzählung nicht mit dem Tod Edithas enden wird. 

Alles, was sich in diesen ersten drei Sätzen an Versprechen birgt, erfüllt dieser historische Roman, der wohl am treffendsten als Versuch beschrieben werden kann, Leben, Sein und Wirken einer Frau aus den Anfängen des zehnten Jahrhunderts nachzuzeichnen, uns Zugänge zu ihrem Bewusstsein zu vermitteln und obendrein unser Wissen über Ottos Anfangsjahre und über die Machtverhältnisse zu erweitern, unser Verständnis für die Alltagssorgen mittelalterlicher Welt zu nähren – seien es diejenigen eines Volkes im Kampf um sein wirtschaftliches Überleben, seien es diejenigen einer Königin, deren Lebensessenz von Kindheit an nur aus einem besteht: Irgendwann den Thronfolger zu gebären und somit den Weiterbestand eines Reiches zu sichern. Der knapp gehaltene Erzählduktus, die kurzen Sätze, deren Freundin ich als Modetorheit nicht bin, erweisen sich in diesem Roman als eindeutig gelungene Wahl, denn sie unterstreichen den suchenden Duktus, das Verhaltene, aber auch eine Klarheit, die stimmig für die erzählende Protagonistin dünkt. »Editha von Wessex« würde ich daher jedem Magdeburger und jeder Besuchenden dieser Stadt dringend zur Lektüre empfehlen, denn der Roman vermittelt, gerade auch im Verein mit einem Stadtspaziergang rund um den Dom, Einblicke in die Geschichte. Namen, die ansonsten wohl einzig Silben auf einer Erinnerungstafel bleiben, werden so zu Wesen, um die sich Geschichten ranken, sie erhalten Substanz und Bezug.

Die Sonate, zyklisch angelegte Instrumentalkomposition in drei oder vier Sätzen

Und ich gestehe, dass mein Blick seither anders zu Edithas Knochen schweift, suche ich den Kreuzgang des Doms auf, der Ruhe wegen, oder sitze ich im Dom auf einem der wahrlich unbequemen Stühle, um wie vor einigen Wochen der beeindruckenden Interpretation durch die virtuose Organistin Isabelle Demers zu lauschen. Durch fünf Werke durften wir sie als Zuhörer*innen jenes Konzerts begleiten, sie spannen einen Bogen über die Zeit vom sechzehnten Jahrhundert bis zum heutigen Tag.

Man hatte die gebürtige Kanadierin zu den Wochen der Orgelkunst in die Stadt eingeladen, und während ich – viel zu früh angekommen – noch auf den Beginn des Konzerts wartete, eilte sie an mir vorbei, eine zarte, schmale Frau, lief flugs in den Dom, in der Hand einen Sack mit etwas Obst, einer Wasserflasche. Soll auch sie eine jener Künstler*innen sein, die vor einem Auftritt niemals etwas essen können und denen das Reiseleben – wie der Hirsch hie und dort – beibrachte, man könne nicht mit Sicherheit davon ausgehen, dass allerorts im Danach noch eine Möglichkeit bestünde, das hungrige innere Knurren zu besänftigen, bevor anderntags das Frühstück im Hotel serviert werde?

Als ich in der Zeitung las, dass Isabelle Demers eingeladen sei, wusste ich, die wolle ich unbedingt hören, das solle mein erstes Konzerterlebnis Nach-Covid sein. Wer nicht das Glück hatte, ihrem Spiel zu lauschen, der kann nach dem Notanker CD greifen, wiewohl ich nicht glaube, dass dies nur annähernd ähnlich sein kann. Nicht der Tonqualität wegen, sondern es fehlt (und fehlte schmerzlich während der zahllosen Lockdowns) das Gemeinschaftliche im Kunsterleben.

Übrigens ist die Orgel, auf der sie in Magdeburg spielte, die einzige in der Stadt, welche den 30-Jährigen ebenso wie den 2. Weltkrieg weitestgehend unbeschadet überstand …

Isabelle Demers studierte und promovierte an der Juiliard, lehrt und leitet an der Baylor University in Texas den Fachbereich Orgel und spielt außerdem weltweit ihre Konzerte; auch eine schöne Mischkalkulation.

In Magdeburg jedenfalls setzte sie Bach, Sweelinck, Whitlock und Strawinsky auf ihr  Programm –  vor allem aber Rachel Laurin, eine zeitgenössische Komponistin, 1961 geboren, deren Name mir bislang unbekannt gewesen war. Das hat sich nach diesem Konzert entscheidend geändert, denn Laurins »Sonata Nr. 1« packt: Sie rollt heran, überschlägt sich tosend und wirft einen schlichtweg um, bevor sie sich in der »Berceuse Mariale« ans Einlullen macht, sanft im Wiegenlied, sodass einen die »Carillon-Toccata« danach umso gewaltiger vor sich her treibt, man darin den Nachhall des Wahnsinns der Welt wiederfindet, der im »Allegro Agitato« bereits anklang.

Sollte Ihnen diese zeitgenössische Komponistin noch unbekannt sein, lauschen Sie ihr: Es lohnt sich! Ich möchte dieses Kennenlernen ihrer Kunst durch die vermittelnden Hände Isabelle Demers keinesfalls missen.

Noch ein Wort zu den Orgelkonzerten im Magdeburger Dom, die auch im nächsten Jahr wohl wiederkehren werden: Gehen Sie hin, genießen Sie die eindrucksvolle Akustik, die dieser Raum ermöglicht, senken Sie den Altersdurchschnitt mit Ihrer Anwesenheit entscheidend, denn es stimmt einen für die Dimension einer Landeshauptstadt wahrhaftig bedenklich, wenn die Besucher*innen eines Konzerts, die unter 70 Jahre alt sind, an zwei Händen abgezählt werden können; und sollte Ihr Sitzfleisch nicht natürlich gepolstert sein, so empfehle ich die Mitnahme eines Rückenkissens, obendrein unbedingt ein wärmender Pulli. Ihr Sitznachbar und Ihr Nacken werden es Ihnen danken.

Eine weitere Möglichkeit, Magdeburg in der Kunst zu entdecken, bietet der Film »Magdeburg sein« von Mathias Max Herrmann. Beeindruckend fand ich die Einblicke in das Alltags-Erleben einiger Magdeburger*innen, die ihre Stadt in einer Gegenwart des Aufbruchs und zugleich der Stagnation porträtieren. Berührend vor allem ihr Sprechen darüber, wie die Historie der Stadt ihr Sein darin bis heute mitprägt. Es ist eine sehenswerte Doku, weil es ihr gelingt, einen Bezug zu den Menschen in dieser Stadt zu etablieren, zu ihrer Sehnsucht danach, dass alte Wunden endlich heilen mögen, damit Zukunft sich gestalten kann. Sie verabschieden, loslassen, um bewusst neues Gestalten zu erleben …  

Ich blicke aus dem Fenster. Nacht liegt nun bereits über der Stadt. So vieles wäre hier noch zu entdecken, so vieles noch zu erkunden, nur wird meine Zeit in gut einer Woche um sein. Werde ich wiederkommen? In der Ferne grüßt freundlich der Albinmüller-Turm mit seinen leuchtenden Kuben in meine Wehmut, die ›Albtraumschnecke‹ glüht mal wieder. Lausche dem Glockenschlag des Doms. Bald habe ich aufzubrechen, diese Stadt loszulassen, um anderswo weiterzuarbeiten – wir sind eben wie Hirsche, hie und dort … und manchmal kehren wir auch zurück!

VIII Sex sells. Oder: Der Liebe wegen.

Wir sind visuelle Wesen und reagieren auf optische Reize. Das wissen naturgemäß auch die Medien; und nutzen es zur Steigerung ihrer Auflagenzahlen. Dass Zeitungen überleben wollen, daran ist per se nichts verwerflich, die Krux liegt im Detail, in der Frage des Wie; vor allem aber in der Sprache, die sie zur Umsetzung ihres Wunsches nach Aufmerksamkeit nutzen. Diese verrät auch ein Weltbild, welches sie selbst vertreten und/oder das ihnen symptomatisch für ihren Leser*innenkreis erscheint.

Seien wir ehrlich, wir denken ständig daran. Manche nehmen diese assoziativen Gedanken wahr, andere verbergen sie – vor sich, vor anderen. Doch Sexualität ist stets ein Thema, welches unsere Tage und Nächte begleitet. Im Frühling und Sommer, wenn die Temperaturen steigen und die Bekleidungsvarianten luftiger werden, wird dieses Denken-an in den Hin-und-weg-Blicken offensichtlicher, während gleichzeitig die Magazine über Sommerlieben schreiben, sei es der angeblich nötigen ›Bikinifigur‹ wegen, die dieser ›Liebe‹ förderlich sein soll, was mit Verlaub ein Humbug ist. Wahrhaftige Zuwendung zu einem Du hat sich noch nie nach der Waage gerichtet, und sie wird dies hoffentlich auch in Zukunft nicht nötig haben. Und den Herren wird die Entfernung ihres Winterpelzes empfohlen, sollten sie neben dem Blick auf die Tour de France durchaus auch mal andere Bedürfnisse haben, die Damenwelt werde ihnen ihre entzündeten Haarwurzeln schon danken, von Nichts komme eben bloß Nichts. Wie auch immer man darüber denken mag, Begehren liegt jedenfalls von April bis September in der Luft – ›Liebe‹ würde ich jene Emotion eher nicht nennen. Doch Begehren ist ja auch etwas Schönes, nicht?

Mitten in den allgemein romantisch genährten Sommer-Dialog fällt auch der Christopher Street Day, am 28. Juni jährt er sich, um genau zu sein. Manchen ist dieser Gedenktag nicht unter jenem Namen bekannt, sondern unter dem Titel »Pride Parade«, welcher die Konsequenz des historischen Ereignisses in den Blick rückt: Man hat sich vorgenommen, selbstbewusste Existenz bereits in der Benennung zu vermitteln und will andere gleichfalls dazu zu ermutigen. Aus Sorge, die Betitelung mit »Pride Parade« ließe den Demonstrationszug zum bloßen Spektakel werden und den ernsten Hintergrund in Vergessenheit geraten, entschied man sich zur verweisenden Rückkehr und verwendet seither im deutschsprachigen Raum beide Termini synonym: In den frühen Morgenstunden des 28. Juni 1969 kam es in einem Lokal in der Christopher Street in Greenwich Village, New York City, zu einer Polizei-Razzia, welche durch ihre Gewalt in die Annalen unserer globalen Geschichte einging. Bullen gefielen sich darin, Menschen zu verprügeln, einzig und allein weil deren Anderssein sie von der heteronormativen Norm abrückte. Tagelange Straßenschlachten waren die Folge, denn zum ersten Mal in der Geschichte schlossen sich diese ausgestoßenen Existenzen zusammen und begehrten gegen diskriminierende Behandlung durch die Mehrheit auf. Daraus entwickelten sich im nachfolgenden Jahr bereits erste Demonstrationsumzüge. Nicht nur die Zahl der Menschen, die sich mobilisierten, wuchs, sondern der Protest griff zudem in andere Länder über, sodass acht Jahre nach den erschreckenden Ereignissen in zahlreichen Städten Protestzüge, bald schon regelrechte Paraden, Sichtbarkeit und Akzeptanz für eine andere Liebesart einmahnten. Nein, kein Tippfehler meinerseits, Liebesart, nicht Lebensart, denn sie arbeiten, ziehen Kinder groß, atmen, lieben und streiten, zahlen Steuern, hoffen und vergeben, zweifeln und ängstigen sich wie alle anderen auch. Ihr Leben in seiner Grundessenz differiert nicht; nur wen sie lieben, wählen sie anders.

Die Gründe, sich diesem Zug anzuschließen, sind simpel: Wenigstens einmal im Jahr man selbst sein, vielleicht auch nur am Rand des Demonstrationszuges – oder mitten darin, wer bereits den Mut hatte, sich zu bekennen; was gerade auch durch das Treten aus dem verbergenden Schrank durch Prominente hierzulande oder anderswo für viele andere eine mutmachende Dynamik erfuhr.

Sicherheit und Akzeptanz einzufordern, ein Grundrecht, selbst wenn das in manchen politischen Parteien bis heute nicht angekommen ist. Vor allem dann nicht, wenn sie sich selbst mit Offenheit und Ehrlichkeit schwertun und lieber als Demagogen die Geschichte unserer Welt bewegen. Nur manch ewig im Gestern verharrende Zeitgenoss*innen mag die Forderung nach Gleichberechtigung im gesellschaftlichen Alltag noch immer zu misogynen, homophoben, diskriminierenden Ergüssen ermutigen. Nimmt sie den gönnerhaften Ton an, sie dürften ja existieren, aber sie sollten bitte weder auffallend noch sichtbar sein, ist das kaum besser. Dass sich der Rest der Welt alljährlich mindestens von Juni bis August solches anzuhören hat, ob sie es wollen oder nicht, nervt nicht bloß, es ist auch ein Gradmesser für die Frage, wie es um unsere Kultur bestellt ist, in welche Richtung wir als Gesellschaft marschieren. Medien sind hierfür ein guter Gradmesser. Ich habe mich schon von mehr als einer Zeitung verabschiedet, weil ich deren Positionierung zu diesem Themenkreis untragbar finde und solch ein Blatt nicht mit meinem Geld unterstützen will. Nein, ich spreche nicht vom Boulevard und dessen bekannten, reißerischen Methoden, sondern von gemeinhin als seriös angesehenen, langjährig etablierten Medien. Nach eher zurückhaltenden Jahrzehnten, in denen es zum guten Ton gehörte, Offenheit zu signalisieren, sei sie real oder bloß geheuchelt, verändert sich erneut der Ton, der im Hinblick auf Gender und Sprache, LGBTQ und andere Liebesformen allgemein angeschlagen wird. Ein neuer Konservativismus hält Einzug in Europa, und wer ihn einzig in den Ländern des ehemaligen Ostblocks wie Polen oder Ungarn erkennt, verschließt die Augen vor weniger auffälligen Formen seiner Spielart. Das Magdeburger CSD-Team setzt bewusst ein Gegenzeichen und will sich um die »EuroPride 2025« bewerben. Im Gegensatz zum Titel der Kulturhauptstadt entscheidet darüber keine Jury aus einigen Personen, sondern alle der rund 300 Mitglieder der »Pride«-Organisation. Möge es Magdeburg gelingen, denn es wäre ungemein wichtig, die »EuroPride« in kleinere Städte, ja, ganz bewusst auch in den ruraleren Raum zu holen, und nicht bloß in Metropolen. Gerade auch wenn sich unter die befürwortenden Postings immer mal wieder homophobe Kommentare mischen oder LGBTQs, die in der Region leben, von mancher Anfeindung erzählen, deren Ton eindeutig auf eine rechtsgerichtete Gesinnung verweist, insbesondere, wenn die persönliche Form der gelebten Queerness optisch auffälliger ist, gilt es – auch als Stadtverwaltung – bewusst Stellung zu beziehen und ein Zeichen zu setzen. Ich denke an meine Lesereise nach Belgien, an die Wand, welche dort im »Citizen Garden« steht, und aus deren hunderten Zitaten ich just eines des kubanisch-amerikanischen Wissenschaftlers José Esteban Muñoz zog: »We have never been queer, yet queerness exists for us as an ideality that can be distilled from the past and used to imagine a future. The future is queerness’s domain. Queerness is a structured and educated mode of desiring that allows us to see and feel beyond the quagmire of the present.«

Der Sumpf der Gegenwart, den es zu überwinden gilt, um eine Zukunft zu schaffen … in den Medien, so dünkt mir, ist der Morast stärker denn je, vielleicht auch bloß offensichtlicher geworden, weil das Verbergen hinter selbstkreierten Namensgebungen Bedenken schwinden lässt. Und viele Medien, auch jenseits des Boulevards, diese Dynamik für sich nutzen wollen. Verräterisch sind dabei die Wahl, die ein Blatt hinsichtlich des Kolumnenwortes, des Gastkommentars oder der Glosse trifft. Allesamt Rubriken, die eine Meinung vertreten, welche polarisieren kann, darf oder sogar soll – natürlich mit schielendem Blick auf die Leser*innenzahlen, denn die Krise der Medien ist noch lange nicht vorbei. Gegenwärtig spazieren in jenen Rubriken zahlreiche Blätter haarscharf an einer Grenze entlang. Auf enthüllende Einblicke in ehedem Privates – der letzte Ehestreit, die jüngsten Kapriolen der Kinder –, folgt nun anderes. Der Voyeurismus, den man während der vergangenen Jahre bereits konstant zu befriedigen trachtete, lockt eben auch nicht ewig die Welt hinter dem Ofen hervor, werden die Töne nicht schärfer, gewagter. Mir dünkt manchmal, man nutze diesbezüglich die Lehre der nicht besonders sozialen Social Media Foren und setze zusehends intendierter Aufreger mit der Kraft des Schürhakens ein. Natürlich erreicht man jene in Postings zutage tretende Infamie noch lange nicht, will sich ja auch bloß ein wenig anlehnen – und hofft auf die zweifelhafte Kompetenz der User*innen-Kommentare darunter: Sie werden das Werkel dann schon am Laufen halten, triggert man bloß gekonnt.

Frappierenderweise beginnt die Gehässigkeit bereits bei einer Thematik, von der man doch denken könnte, sie wäre lange schon gegessen – könnte höchstens ein Aufreger für unsere Urgroßeltern gewesen sein, aber doch bitte nicht mehr heutzutage! Schließlich haben wir das alles bereits in den 1980er-Jahren des Langen und Breiten diskutiert, wie oft sollen wir es noch wiederholen? Ein letztes Mal also:

Sprache bildet Welt ab.

Und wollen wir in dieser Welt, wie sie ist, fürderhin nicht leben, weil sie uns unmenschlich dünkt, so ist es unsere Aufgabe, darauf – als bewusste Menschen – das Augenmerk zu lenken und in jenem Sinn, Sprache als Störfaktor zu nutzen. 

Ein alter Hut – würde man glauben. Aber die Welt belehrt uns eines besseren: Sie will es noch immer debattieren, selbst wenn die Einwände sich nicht weiterentwickelt haben. Dafür passen sie besser zur gegenwärtigen, konservativen Politik. ›Argumente‹ möchte ich sie aus Überzeugung nicht nennen, denn es sind Wände, hastig aufgezogen, die keinen Dialog anstreben. Sonst würden sie ihm ja in ihrer Entwicklung folgen und sich nicht bis zum Erbrechen wiederholen …

Noch immer ist der Haupteinwand gegen die Sichtbarmachung aller Menschen in unserer Welt die ignorante Aussage, man verstünde ›es‹ doch auch ›so‹, dass Frauen ›eh mitgemeint‹ seien. ›Eh mitgemeint‹, bitte, wer will ›eh mitgemeint‹ sein, so unter ferner liefen? Sie etwa?

Wer diesem Palaver heute noch anhängt, dem sei nachfolgende Denkaufgabe empfohlen – stellen Sie diese doch Ihrer Umgebung, ohne vorherige Ankündigung oder thematische Erläuterung. Die Antworten könnten aufschlussreich sein:

»Ein Vater und sein Sohn haben einen Auto­unfall. Der Vater wird dabei getötet, das Kind schwer verletzt. Als das Kind in den Operations­saal gebracht wird, sagt einer der Chirurgen: ›Ich kann die Operation nicht durchführen, dieser Junge ist mein Sohn.‹ Wie ist das möglich?«

Ein Einwand im zusehends hitziger werdenden ›Dagegen!‹ ist jedoch neu: die angebliche Verhunzung des Schriftbildes störe das Auge – ja, wahrhaftig! Eine Verhunzung des Schriftbildes. Klicken Sie sich ruhig durch ein paar Seiten, die Social Media Foren und Presseportale sind wahre Fundgruben dieses Wetterns! Ein kleines Sternchen, ein Doppelpunkt, ein großes Binnen-I erzürnt auf höchst erstaunliche Weise derart die Gemüter, weil es ›so hässlich‹ aussehe? Ich würde diesen besorgten Geistern ihre unnötigen Bedenken nur zu gerne abnehmen – ›Greifen Sie doch nach den Sternen! Das ist modern.‹ –, doch spricht Holzhammersatzbau, ignoranter Umgang mit Genitiv und Konjunktiv gegen die Behauptung der Besorgnis. Ach, würden sie sich doch mit gleicher Vehemenz darum kümmern, ihr Wissen um die Nuancen des Vokabulars zu nähren! Oder wäre ihnen wenigstens die Differenz zwischen doppelten und einfachen Anführungszeichen (vulgo: Gänsefüßchen) annähernd ein Begriff; von Orthografie und den Feinheiten der Interpunktion schweigen wir lieber, auch wenn ich wahrhaftig nicht verstehe, was an der Zeichensetzung einer direkten Rede so kompliziert sein soll oder wieso ein Satz zum Emmentalerkäse verkommen muss. Vollfett steht dann ein Wort neben dem anderen. Kirschgroße Löcher thronen dazwischen. Und dann hat Ironie mit ›on‹ / ›off‹ markiert zu werden – als würde man eigener Kompetenz darin nicht trauen. Aber Schönheit wollen sie erhalten! Weshalb ein Sternchen sie zur Weißglut bringt. Wenn das kein vorgeschobenes Anliegen ist! Vor allem wenn gleich nachgereicht wird: ›Es geht nicht nur um Geschriebenes. Nicht lesen kann man das. Nicht sprechen!‹ (Holzhammersatzbau, übrigens, exemplarisch ausgeführt. Je weniger Wörter, umso besser. – Eine ›Und dann‹-Kette konnte ich leider an der Stelle beim besten Willen nicht unterbringen, die glänzt dafür ein paar Zeilen weiter oben …)

So liegt also hier der knurrende Hund begraben! Denn im Sprechton solcher Stern bestaubten Sätze taucht nämlich plötzlich eine andere Welt auf. Von einer Sekunde zur anderen ist für schlampig gewordene Ohren nur noch von Künstlerinnen, Chefinnen und Handwerkerinnen, von Politikerinnen und Busfahrerinnen, ja, auch von Chirurginnen die Rede, denn die maskulinen Vertreter derselben Berufsgruppen sind natürlich ›eh mitgemeint‹: in der Sekundenpause vor der Endung ›-innen‹. Und eine Sekunde ist jemandem, der an ausschließliche Präsenz gewöhnt ist, natürlich zu wenig. Klar, das versteht sich von selbst.

Es geht folglich in der ganzen Debatte nicht um Sprache. Es geht um Macht. Vor allem aber geht es um die Angst vor Machtverlust; und gleichfalls um die Angst, die das Eingeständnis der Ohnmacht evoziert: Nicht genannt zu werden, nicht vorzukommen, immer nur ›eh mitgemeint‹ gewesen zu sein, sich das einzugestehen, das schmerzt und evoziert Abwehr. Ja, ich kann sie durchaus verstehen, die Frauen wie die Männer, die dagegen aufbegehren. Ebenso ist nachvollziehbar, dass der Verlust an Sprachmacht einen in Abwehr bringt: Sich zu einer Auseinandersetzung und Reflexion genötigt zu sehen, weil einige Menschen rundum behaupten, es sei ›falsch‹, so zu sprechen wie einem der Schnabel gewachsen sei, wie man immer schon gesprochen habe. Das kann einen schon in Rage bringen, fehlt es einem an Selbstbewusstsein.  Veränderungen fordern uns heraus, ja, und dennoch führt kein Weg an ihnen vorbei, wollen wir eine Welt, die alle gleichwertig mitgestalten, in der alle einander auf Augenhöhe begegnen.

Sie glauben mir nicht, weil doch eh alles wunderbar und zum Besten und diese Welt sowieso schon eine der Gleichwertigkeit sei? Dann machen Sie ruhig die Probe aufs Exempel: Verwenden Sie eine Woche oder auch nur einen Tag ausschließlich weibliche Formen, und Sie werden staunen, was Sie damit als Echo evozieren! 

Solange mehrheitlich echauffierte, impertinente, übergriffige und diffamierende Kommentare unter Artikeln landen, die gegen sprachliche Sichtbarkeit aller wettern, wird es nottun, lautstark darauf hinzuweisen: Auch ich bin da, bin Teil eurer Gesellschaft. Und es wäre wohl sogar eine Überlegung wert, unsere Weltwirklichkeit durch die Schaffung neuer Personalpronomen zu bereichern, denn Sprache ist per se – auch – kreativ und verändert sich. Weshalb also nicht erSie und sieEr, um all jenen in unserer Mitte Sichtbarkeit zu verleihen, die sich so definieren?

Darum geht es auch denjenigen, die sich alljährlich anlässlich des Christopher Street Days zu Umzügen formieren. Menschen, die entschieden haben, dass sie sie selbst sein wollen und keiner sie einen weiteren Tag zwingen kann, sich zu verstecken. Oder die ihre Kinder, ihre Partner*innen dorthin begleiten, weil sie deren Entscheidung mittragen wollen. Unter den Zaungästen der Paraden finden sich neben Neugierigen wiederholt zudem diejenigen, die noch zu viel Angst vor etwaigen beruflichen und sozialen Konsequenzen haben, denen der Mut noch fehlt. Um ihnen diesen zu vermitteln, tun sie not, die Umzüge, auch fern der großen urbanen Zentren. Gerade gegenwärtig, wenn alles wieder auf Rücklauf steht und international Bedenkliches geschieht, wie die zuletzt bereits erwähnte Abmahnung einer Buchhandelskette wegen des Verkaufs eines Kinderbuchs, in dem sich zwei Väter liebevoll um ein Kind kümmern, und das nicht den Vermerk ›gefährlicher Inhalt‹ am Cover trug. Das ist ein gefährlicher Inhalt? Ein Gefahrengut, das die seelische Gesundheit eines Kindes bedroht? Sind wir in Europa wirklich so weit gekommen?

Vor rund dreißig Jahren argumentierte Ratzinger übrigens ebenso. Grund genug für einen Austritt aus der katholischen Kirche! Wohlgemerkt: Diskussionswürdig agierten und agieren hier eine Regierung und ein Kardinal, nicht ›die Ungar*innen‹ oder ›die Katholik*innen‹, die es sowieso nicht gibt. Ja, Engstirnigkeit und Dummheit überdauern offenbar unbeschadet Jahrzehnt um Jahrzehnt in Führungsriegen und finden ständig neue Träger, die ihre Vorurteile in die Welt posaunen. Ratzinger behauptete – wie auch die ungarische Regierung –, dass homoerotische Liebe keine Liebe sei, sondern bedauernswerte Krankheit, derer man sich mitmenschlich erbarmen solle. Was solche Köpfe über Menschen sagen würde, die andere lieben, weil sie Menschen sind, das will ich mir gar nicht ausmalen … Auf jeden Fall – so der Ton dieser Epistel – soll queeres Lieben nicht selbstbewusst als Teil der Gesellschaft gesehen werden, sondern lieber beschwiegen.

Wer das in den deutschsprachigen, ach so fortschrittlichen Ländern für Schnee von gestern hält, der blättere zum Beispiel in der »Neuen Zürcher Zeitung«. Dort schlägt die Kolumnistin Birgit Schmid in gleiche Kerbe – ja, schon klar, sie wollte witzig sein. Leichtfüßig im Ton und locker aus der Hüfte schießen, um alle Welt zu unterhalten.

So liebt man Kolumnen.

So gewinnt man Leser*innen.

So erhält man den Auftrag als Kolumnistin; ich weiß.

Ein Freibrief ist das dennoch nicht.

Was dabei nämlich am 18.6.2021 herauskam, war alles andere als witzig. Im besten Fall überaus peinlich. Im schlimmsten Fall eine impertinente Grenzüberschreitung.

Ihre Kolumne hängte Birgit Schmid an einer Instagram-Äußerung eines Models auf, welches zuvor eine Beziehung zu einer Frau hatte, nun mit einem Mann liiert ist und diese neue Beziehung lapidar damit kommentierte, sie sei pansexuell. Jener Terminus, schreibt Schmid, der gehe um und zwar ›in progressiven Kreisen‹: »Fast täglich wird man darüber informiert, wer diese bei sich entdeckt hat. Wie zu erwarten ist, etikettieren sich damit vor allem die Berühmten. Ein Jugendarbeiter hat mir aber erzählt, dass sich auch immer mehr Jugendliche als pansexuell outen, die davon im Internet gelesen haben.«

Ja, meine Güte, da ist Gefahr im Verzug, nicht wahr? Wenn man schon im Internet davon liest – und verstanden haben sie es sowieso nicht, also bitte, ›gefährlicher Inhalt‹, rettet die bedrohte Jugend. Oder haltet die Klappe und versteckt euch … Ungarn ist – wie es scheint – in der Schweiz gleichfalls zu Hause, ist überall dort zu Hause, wo Menschen andere davor bewahren wollen, ihren Horizont zu erweitern, weil sie dann vielleicht auf Ideen kämen; die sie im Falle der Unrichtigkeit ohnedies nach ein paar Jahren durch neue ersetzen werden. Wozu all die Aufregung? Ich frage mich manchmal, wieso kaum einer bei Ballerspielen & Co., bei rechten Comics und erschreckenden Liedern – mit oder ohne Lagerfeuer – ›Schutz der Jugend‹ brüllt. Oder weshalb sich unsere ewigen Mahner nicht mit gleichem Elan und Aufhebens Sorgen machen, weil die Kids sich kaum mehr konzentrieren können, ihr Aggressionspotenzial zu und ihre Empathiefähigkeit abnimmt, sie sich egomanisch gebärden und bereits jetzt erkennen lassen, dass sie wohl gutes Potenzial zu den Tyrannen von morgen entwickeln. Das finde ich persönlich nämlich weitaus bedrohlicher als einige wenige Jugendliche, die sich eventuell als Pansexuelle outen, ›weil sie davon im Internet gelesen haben‹, und sich womöglich über sich selbst irren. 

Aber weiter im Text, es kommt nämlich noch besser, denn Frau Schmid weiß nicht so recht, was anfangen, mit diesem neuen Begriff, der ihr nichts sagt: »Zuerst dachte ich, es handle sich um die Neigung, sich zu allem hingezogen zu fühlen, was sich bewegt, und darüber hinaus auch zu Unbelebtem: Man verliebt sich in ein Pferd, ein Windrad, die Topfpflanze.« Was hier so salopp daherkommt, zeigt den Mangel: Wer je die Reaktionen auf ein Outing miterlebt hat oder auch nur darüber las, kennt diese oft mit einem abwehrenden Auflachen verbundenen Wendungen, die verletzen wollen: Ja, ja, jetzt verliebst du dich in eine Frau und dann wohl in einen Hund ….

Nur das Windrad, das war mir neu. Wohl der in aller Munde seienden Thematik des Klimawandels wegen. Ich sagte ja schon, Sprache ist kreativ, sie bildet Welt ab und gestaltet sie mit, sie verändert sich. 

»Pansexuelle«, fährt Birgit Schmid fort, »sind auch offen für Transmenschen, was sie auch gleich mitdeklariert haben wollen. Geschlecht, sexuelle Orientierung und Identität spielten absolut keine Rolle, sagen sie. Sie neutralisieren also jede sexuelle Präferenz. […] So betonen sie gern: Sie fühlten sich von einem Menschen als Ganzes angezogen, nicht nur körperlich, sondern auch romantisch, spirituell und emotional. Wichtig sei, wie jemand aussehe, was für einen Charakter er habe und wie er sich verhalte. […] Pansexualität ist die sexuelle Orientierung der sozial Gerechten. Sie ist ein Ausdruck der ‹Woke›-Kultur. Wer sich als pansexuell bezeichnet, schliesst niemanden aus. […] Heute trägt man sein Triebleben wie eine Auszeichnung vor sich her. Die Pansexuellen mit ihrer vorgezeigten Offenheit und Toleranz geben den anderen vor allem zu verstehen: Wir lassen eure langweiligen Liebesformen hinter uns. Hetero ist normativ und von gestern.«

Die Wortwahl, das Arrangement der Sätze, der Tonfall – all das erzählt viel, und es fragt sich wirklich, weshalb Frau Schmid sich derartig davon attackiert fühlt. Ob eine*r diesen oder jenen Menschen liebt, sich deklariert oder nicht deklariert, wieso liegt für manche eine Bedrohung darin?

Ich kann es nicht verstehen.

Sie etwa? 

Und warum in aller Welt kommt Frau Schmid zu dem Schluss ›hetero ist normativ‹ – sollte das ein misslungenes Wortspiel zu ›heteronormativ‹ sein? Zu dem Begriff also, der bezeichnet, dass eine Gruppe, nur weil sie zufällig auch die Mehrheit stellt, ihre eigene sexuelle Vorliebe über alle anderen Menschen und zur Norm erhebt. Wer einen Satz wie ›Hetero ist normativ und von gestern.‹ an das Ende einer Kolumne stellt, führt den Schürhaken nicht bloß bewusst, diese Person kalkuliert auch auf ersehntes emotionales Echo, wenn sie Leser*innen den inkorrekten Schluss nahe legt, Pansexuelle würden behaupten, Heterosexualität sei von gestern: Es ist nichts als Öl ins Feuer. Und ein Freibrief für User*innen-Kommentare, die alsdann ihren Zorn über ›abstruse Lebensweisen und Ansichten‹, ›kaputt‹ und ›dekadent‹, dem ›Untergang der Zivilisation‹ in die Tasten hämmern. Natürlich sei der Grund für ein pansexuelles Outing einzig der Wunsch ›nach Außergewöhnlichkeit und Beachtung‹, aber all das sei ›eh kein Problem‹, die stürben von alleine aus, denn ›Fortpflanzung geht nur zwischen Männlein und Weiblein‹ und sicher würden einige von ihnen bald ›ihre Haustiere ganz legal heiraten‹. Letztes Kommentar hat bizarrerweise die Lacher auf seiner Seite, sonderbar, dass es noch derart erheitert, auch diese Dummheit ist ein altbekannter Hut, zum Gähnen langweilig und seit vielen Jahrzehnten eine der Antworten, die man erhalten kann, teilt man eigener Umgebung mit, man liebe nicht den vorgesehenen Menschen der Norm, sondern jemand anderen.

Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist durchaus legitim, die Selfie-[Un]Kultur der Bekenntnisse infrage zu stellen! Es ist auch berechtigt, darüber nachzudenken, wem es etwas bringt, deklariert sich jemand von sich aus als was-auch-immer. Oder darüber nachzusinnen, ob wir wirklich so armselig im Denken sind, dass wir Schubladen und Etiketten benötigen, um uns etwas weniger bedroht zu fühlen, in dieser Welt, die sich so rasend schnell verändert hat und weiterhin verändert. Weshalb – auch das ist wenig überraschend – manche der User*innen die ›Gnade der späten Geburt‹ ins Feld führen und ›ihrem Gott‹ [!] danken, dass sie die Partner*innen-Wahl schon hinter sich hätten, denn ›was da jetzt kommt, brauch ich nicht mehr und ich schaffe es auch nicht, mich mental darauf einzustellen‹.

Denn was da jetzt kommt …?

Menschen, täte ich sagen.

Schlicht und ergreifend: Menschen. 

(Ja, Sprache war schon immer verräterisch … )

Und spricht man Menschen ihr Menschsein ab, indem man ihre Liebesart – im Scherz oder im Ernst – mit einer Beziehung zu Pferden vergleicht, sie also dessen bezichtigt, was man einst Sodomie nannte, öffnet man eine Tür, zu einer Zeit, von der ich hoffte, dass sie lange schon hinter uns liege. Was diese im Hinblick auf ein Leben mit sich bringen kann, das lehrt uns die Geschichte Deutschlands und Österreichs. Sie ist ein Exempel par excellence für alles, was dann blüht. Wer daran zweifelt oder mangelnde Kenntnisse hat, darf sich gerne lesend bereichern. Ein Blick in meinen Faction-Roman »¡Leben!«, dessen spanische Vorzeichen sich inhaltlich entschlüsseln, wiewohl sie nicht gerade zur Popularität des Romans beitrugen, könnte sich gleichfalls lohnen.

Was all das mit Magdeburg zu tun hat? Viel, denn ich kehrte in meinem Schreiben zu diesem Thema zurück, nachdem ich im Frühjahr an der Elbe entlang spazierte, ein herrlich schöner Sonntag war es, einer der ersten wirklich warmen Tage im Jahr. Der Fluss glitzerte im Sonnenlicht, die Spaziergänger*innen plauderten und lachten, vor den Eisdielen reihten sich die Schlangen, Kinder sausten über die Promenade. Friede, Freude, Eierkuchen und eine heile Welt. Vor mir spazierten zwei schicke Mädchen, denen die Begeisterung für Mangas anzusehen war. Zwei Radfahrer kamen uns entgegen, Männer um die vierzig, machten den Mund auf – und was sie sagten, verschlug mir die Sprache. Ich war zu perplex, um sogleich eine Entgegnung auf ihre misogyne Impertinenz zu finden. Und danach viel zu verärgert über meine Sprachlosigkeit. Deswegen tippte ich ihren Satz in die Suchmaschine, und was das Internet ausspuckte, ließ mich frösteln. Und ein Theaterstück schreiben, welches in Ausschnitten im Magdeburger Schauspielhaus am 22. September seine gelesene Uraufführung erleben wird … Übrigens, wer es vergessen hat: »Friede, Freude, Eierkuchen« war das Motto der ersten Berliner »Love Parade« im Jahr 1989, damals noch eine als politische Demonstration deklarierte Veranstaltung, die für Abrüstung, Völkerverständigung und eine gerechte Verteilung der Nahrungsmittel eintrat …

Aber bleiben wir noch einen Moment bei jenem Gedanken, weshalb es manche ihrem weiteren Umfeld mitteilen, weshalb es manche Promis sogar der ganzen Welt sagen wollen. Ich erinnere mich noch gut an das Echo, auf die Outings einiger prominenter Personen in den 1990er-Jahren, seien sie Politiker*innen, Schauspieler*innen oder Sportler*innen. Sie trugen Relevantes dazu bei, dass ein Diskurs in Gang kam, und ich denke, ich greife nicht zu hoch, wenn ich sage, ihretwegen kam der Gedanke in der Mitte der Gesellschaft an, dass Liebe Liebe ist, und es somit völlig irrelevant ist, wen man sich wählt. Die Abschaffung des § 175 in den 1990er-Jahren, der Homosexualität als Strafbestand diffamierte, mag ein erster Schritt gewesen sein, aber die Eliminierung eines Unrechtparagraphens allein hat noch nie die Welt verändert. Es bedarf auch der Menschen, die den Mut zur Sichtbarkeit haben. Pansexuell als Begriff kannten die 1980er noch nicht, und man kann meines Erachtens durchaus zu Recht sagen, er sei eine Konsequenz jener Entwicklung in den 1990er-Jahren. Nun haben wir also ein Wort dafür: Liebe ist Liebe. Und das ist gut so. Denn wir Menschen brauchen Termini, um uns und unsere Gedanken, Gefühle auszudrücken. Kaum etwas ist so bedrohlich und beängstigend wie Sprachlosigkeit.

Jüngst leitete ich einen Schreib-Workshop an einer Schule im ruralen Raum. Ein Kind in jener Klasse nutzte die Möglichkeit der Imagination, der Narration, um sich selbst als Mädchen zu erzählen, langsam sich voran tastend, Wort für Wort, implizit in der entworfenen Geschichte durchaus auch der Wunsch, den Klassenkamerad*innen die eigene Verwirrung deutlich zu machen, denn biologisch wurde es als Junge geboren, empfand sich selbst aber nicht so. Es war eine verständliche Suche nach Zeichen ihrer Akzeptanz – bitte sagt mir, dass es in Ordnung ist, Ich zu sein, wie auch immer ihr das nennen wollt. Eine Verwirrung, für die jenes Kind noch kein Wort hatte, nur davon erzählen konnte, sich herantasten. Es wird es finden, das Wort, wenn die Zeit dafür reif ist, dessen bin ich mir sicher, solange sich unsere Gesellschaft eine Offenheit bewahrt, die wir uns während der vergangenen vierzig Jahre mühsam Schritt für Schritt erarbeitet haben. Um diese zu nähren, ist es wichtig, rund um den Christopher Street’s Day auf die Straße zu gehen, unsere Mitmenschen zu ermutigen, sie selbst zu sein und einen Diskurs darüber zu pflegen, von mir aus auch in ›unscharfen‹ sozialwissenschaftlichen Begriffen, wie Frau Schmid meint, völlig powidl. Nur gehässige Kolumnen, die ebensolche User*innen-Kommentare nach sich ziehen, die braucht keiner. Und Printmedien sollten sich selbst respektieren und sich deshalb davon verabschieden, ihre Auflagen dadurch steigern zu wollen, dass sie solche drucken.

Ebenso wie sie sich davon verabschieden sollten, Schlagzeilen zu bringen, denen es aus jedem einzelnen Zeichen schreit, dass sie einzig dazu ausgewählt wurden, um als Eyecatcher zu fungieren. Samt dazu passendem Bildwerk. Haben unsere Medien und diejenigen, die für sie schreiben, wirklich gar kein Gefühl für meinungsbildende Verantwortung mehr? Da titulierte doch jüngst wahrhaftig ein Magdeburger Blatt »Polizei gibt Tipps für käufliche Liebe«. Mal ganz davon abgesehen, dass diese Schlagzeile sicher verkaufsfördernd ›funktioniert‹, insbesondere wenn sie prominent auf Seite 1 thront, sagt sie außerdem etwas darüber aus, wie dieses Blatt die eigenen Leser*innen einschätzt. Sie erzählt aber auch eine Menge, was manche in der Redaktion wohl lieber nicht erzählt wissen wollten, denn die Titelzeile hieß ja nicht: ›Polizei warnt Freier vor Betrügern‹ oder ›Polizei informiert Kunden der Sexarbeiterinnnen‹. Nein, da steht: Die Polizei gibt Tipps; was an ›Freund und Helfer‹ erinnert. Also, die Polizei, dein Freund und Helfer, sagt dir, wie du am besten Liebe kaufst – wie bitte? Kaufst? Kann man Liebe kaufen? Wieso diese – im besten Fall – verschämte Bemäntelung, dieser Euphemismus? Und im schlimmsten Fall: eine völlige Ignoranz für einen Diskurs, den wir gleichfalls schon seit vierzig Jahren führen. Sexarbeit ist Sexarbeit, und solange sie freiwillig geschieht, alle sozialen und rechtlichen Normen des Arbeitslebens gewahrt sind, gibt es meines Erachtens nichts dagegen einzuwenden, solange kein Ausbeutungsverhältnis vorliegt, welches Freier durch ihre Zahlung finanzieren und damit prolongieren. Seien wir ehrlich: Diese Situation ist kaum je gegeben.

Diese Debatte über Sexarbeit, Pro und Kontra, die können wir gerne ein anderes Mal führen, hier soll es um ein Nachdenken über die Frage gehen, wie ein männlicher Journalist im Jahr 2021 wirklich und wahrhaftig noch den Terminus ›käufliche Liebe‹ verwenden kann. Was geht in solch einem Menschen vor? Oder sollen wir annehmen, die einfachen Guillemets, die er zur Kennzeichnung nutzte, seien leider auf dem Weg von seinem Schreibtisch zum Druck sonderbarerweise verloren gegangen? Wohl der eiligen Schritte wegen, damit es sicher noch ins Blatt käme, sein Einser-Kastl? 

Greife ich zu weit, wenn ich sage, ›käufliche Liebe‹ sollte eine Ohrfeige sein, die ebenso schmerzt wie das N-Wort oder die diffamierende Bezeichnung, die Roma und Sinti lange mit sich herumzuschleppen hatten? Bringt man hierzulande den Kindern nicht bei, dass Freundschaft nicht gekauft werden kann, niemals? Und ist ihnen deswegen nicht klar, dass auch ›Liebe‹ kein Gut ist, mit dem Handel getrieben werden kann? Wieso schrieb er nicht, was es in Wahrheit ist: Sex. Männer kaufen Sex. Männer kaufen Frauen. Manchmal im Setting der Sexarbeit, manchmal fern davon.

Weitaus seltener: Frauen kaufen Sex. 

Doch ob Mann oder Frau: Mit Liebe hat beides im Fall des Kaufens nichts gemein. Sie kaufen einen Körper zur Benutzung. Manchmal auch zur Machtdemonstration. Liebe? Ist etwas gänzlich anderes. Ist Zuwendung und Hingabe, ist ein Wahrnehmen des Gegenübers, ein Sich-Einlassen. Verlange ich zu viel von einem Journalisten, wenn ich finde, er solle bewusst mit Sprache umgehen? Schließlich fordern wir ja auch von einem Maurer, dass er sein Zement-Gemisch beherrscht und außerdem weiß, welche Ziegel er wofür benötigt.

Schreibt einer heute ›käufliche Liebe‹, verrät er eben ungewollt auch, wessen Geistes Kind er ist, denn: Sprache bildet Welt ab.

Und Sprache verändert sich konstant, weil Begriffe hinzukommen, wegfallen. Sie verändert sich, weil Termini in einer gewissen Phase der Geschichte für einen bestimmten Zweck verwendet wurden, der sie einfärbte, der auch Jahrzehnte danach noch nachhallt, und man kann diese Wörter nicht mehr unbedacht verwenden, weil ihnen ein Rattenschwanz anhängt. Das N-Wort ist ein Paradebeispiel dafür, auch die ›Kulturnation‹; die meisten Wendungen, denen ein unangenehmer Geruch anhaftet, verdanken wir den Nazis: ›durch den Rost fallen‹ oder ›mein Kampf‹, ›jedem das Seine‹, ›asozial‹, um nur einige Beispiele zu nennen. »Wie viele Begriffe hat die Sprache des Nazismus geschändet und vergiftet!«, schrieb Viktor Klemperer bereits 1947 und brachte darin eindeutig auf den Punkt, was mit ihnen geschah: Sie sind vergiftet. Wer sie weiterhin benutzt, sollte sich der Folgen bewusst sein.

Und ›käufliche Liebe‹ ist gleichfalls ein Begriff, dessen toxische Kraft uns Anlass genug sein sollte, ihn zu meiden, wollen wir jene Emotion, die wir als eine der wichtigsten für uns Menschen ansehen, nicht vergiftet wissen. Werfen Sie mir nicht das Argument in die Sprachlandschaft, soweit denke doch kein Mensch, es werde halt so genannt, immer schon.

Gut möglich. 

Umso trauriger. Und ›immer schon‹ war noch nie vernünftig und schon gar kein Grund.

Als ich bei einer Debatte sagte, Sprachkünstler*innen wie Journalist*innen hätten auch eine Verantwortung für Sprache, sie seien diejenigen, die einen Diskurs über Sprache und Welt zu pflegen haben, die gegen ein Verarmen des Wortschatzes, gegen eine kontinuierliche Einengung des Sprachfeldes antreten müssten, indem sie ihren Leser*innen nicht nach dem Mund schrieben, sich an Alltagssprache anpassten, entgegnete man mir, ich träume wohl.

Ich gestehe: Ich träume gerne. Darin bin ich Österreicherin. (Tag)Träume sind eine höchst konstruktive Kraft, gefüllt mit tausend Ideen wie wir spätestens seit Freud und Schnitzler wissen.

Die Zeiten, entgegnete man mir des Weiteren, in denen Sprachkünstler*innen es sich leisten konnten, nicht gefällig zu schreiben, seien – ›leider, leider‹ – ein für alle Mal vorbei. 

Übrigens, diese Aussage tätigte eine Verlegerin. Der Wirtschaft wegen. Ich aber bin überzeugt, es gibt auch die anderen Leser*innen. Sich auf-Teufel-komm-raus anzupassen, das überlasse ich gerne anderen, denn nur tote Fische schwimmen grundsätzlich mit dem Strom. Ich aber, ich fühle mich noch recht lebendig. Und wenn schon ›leider, leider‹ der Grundtenor in manchen Verlagen und Medien ist, dann können wir auch bewusst den anderen Weg einschlagen, er steht uns ja gleichfalls offen: Bereichern wir das Sprachfeld wieder; sagen wir: ›Der Liebe wegen!‹

Swelch mensche wirt ze einer stunt
von wârer minne rehte wunt,
der wirt niemer mê wol gesunt,
er enküsse noch den selben munt,
von dem sîn sêl ist worden wunt.

Wird eine Mensch zu einer Stund
Von wahrer Minne wirklich wund,
So wird er nimmermehr gesund,
Er küsste denn den selben Mund
Der ihm die Seele machte wund.

(Mechthild von Magdeburg)

VII Es ist nicht das Ende, nicht einmal der Anfang vom Ende – aber vielleicht das Ende des Anfangens bald

Über eine Lesereise nach Brüssel, von der es neben dem Nachdenken über Literatur und Regierungen, die sie nach wie vor gerne verbieten, noch so manch anderes zu erzählen gibt. Nicht nur der Überschwemmungen wegen. Oder wie komme ich zeitgerecht nach Magdeburg, um die Veranstaltung vor der Grünen Zitadelle abzuhalten und die Kolleg*innen nicht hängenzulassen?

Ich fahre vom Osten in den Westen, durchbrause dieses Land im Zug, um in Brüssel zu lesen. Die Bahn war stets meine bevorzugte Art des Unterwegs-Seins, lange bevor die Notwendigkeit, das Klima zu schützen, einem diese Reiseart nahelegte. Schlicht und ergreifend, weil ich mich so ungern einschließen lasse – wie dies in einem Flugzeug der Fall ist: Sollte ich aus irgendeinem Grund zu dem Schluss kommen, dass ich nun sofort und sogleich aussteigen will, kommt die nächste Bahnstation bestimmt. Zudem gestattet ein Zug den Ausblick in die Weite der Landschaft; und in der Ruhezone ungestörtes Arbeiten.

Wären sich Tourismusmanager dessen bewusst, dass mittlerweile durchaus eine größere Zahl Reisender einem Ort als erstes über die Bahntrasse begegnet, sie würden wohl mehr Wert auf die Gestaltung dieser Region legen. Im Gegensatz zum Unterwegs-Sein im Pkw, welches sich erst nach dem Abzweigen von Umfahrungen auf neuen Einfahrtsstraßen einem Ort nähert, verlaufen die Bahntrassen auch heute noch, wo sie einst der Logik des Transports folgend, gebaut wurden: nah an Städten und Dörfern oder sogar mitten hindurch. Und auch wenn sich heute in Gleisnähe vorzugsweise Fitnesscenter und Agenturen für Arbeit befinden, ab und an blickt man dennoch in Wohnzimmer oder Küchen, in Hintergärten. Ich staune über Ortsnamen wie Minden, Herford und Hamm, die in meinen österreichischen Ohren nicht besonders deutsch klingen, beobachte, wie Landschaft und Dörfer sich verändern. Ab Köln wird im Zug Französisch parliert, eine Sprache, deren vertraute Töne mich erfreuen. Dort, in Frankreich, habe ich zum ersten Mal nicht bloß an das Schreiben als meine Art des Denkens und in-der-Welt-Seins gedacht, sondern an eine Publikation, habe begonnen, für Leser*innen zu arbeiten. Bestimmend war das örtliche Abgeschnitten-Sein von meiner Muttersprache, welches bewirkte, dass ich mein eigenstes Element forcierte. Ich denke an eine Debatte, die ich jüngst über die Beweggründe zu künstlerischem Tun führte und bei der ein Musiker meinte, es habe mit Geltungsdrang zu tun. Mein dezidiertes Veto halte ich auch heute noch aufrecht. Mir wäre es seit jeher am liebsten, könnte ich meiner Arbeit nachkommen, ohne je auf eine Bühne zu müssen, würde das stille Nachdenken genügen, das Wahrnehmen und darüber schreiben.  

Brüssel empfängt mich am Gare Central mit Regen und einem Sprachengemisch; in wenigen Sekunden höre ich Französisch und Niederländisch, Englisch, deutsches Deutsch und Italienisch. Als ich um die Ecke biege, kommt Spanisch hinzu, denn vor dem Zentralbahnhof hat sich eine Gruppe Exil-Kubaner*innen versammelt, um gegen die Polizeigewalt in ihrem Land zu demonstrieren. Ich bleibe stehen, studiere die Banner, nehme die Dynamik zwischen den Kubaner*innen im Exil und den anderen Menschen rundum wahr. Seit ich vor 16 Jahren in die exilkubanische Gemeinschaft in Wien stolperte, später auch mit diesen Freund*innen ihr Land selbst kennen- und lieben lernte, fühle ich mich dieser Insel verbunden und beobachte, was dort geschieht. Leider dringt selten Erfreuliches an mein Ohr …

Auch mein Aufenthalt in Brüssel hat eine politische Komponente – ich vertrete mein Land im Rahmen der Auftaktveranstaltung zur Aktion »EuropeReadr« (https://europereadr.eu), eine Initiative der slowenischen Präsidentschaft im Europarat. Für dieses EU-Projekt wurden aus zwölf Ländern der Union je ein Autor, eine Autorin ausgewählt, von denen eine Arbeit auf einer gemeinsamen Plattform präsentiert wird, welche sozialrelevante Fragen für die Zukunft der Welt thematisiert: »Open een boek voor een betere toekomst!«, heißt der genutzte Slogan auf Niederländisch. Oder in deutscher Übersetzung: »Öffne ein Buch für eine bessere Zukunft!«

Der Fokus der Initiative liegt dabei ganz klar auf der Auseinandersetzung mit der Frage, in welcher Welt wollen wir in Zukunft leben. Es wird eine digitale sein, es sollte aber auch eine grüne werden, und es wird wohl eine Welt sein müssen, die fern unserer Gegenwart liegt, in der wir die Erde zerstören, um des momentanen Profits wegen. Sechs Autor*innen wurden dazu eingeladen, im Rahmen einer mehrtägigen Auftaktveranstaltung im Bürgergarten vor dem europäischen Parlament ihre Sicht auf diese Frage zu äußern und miteinander sowie mit dem Publikum in Austausch zu treten.

Obgleich keiner in Brüssel, weder im slowenischen noch im österreichischen Kulturforum, wusste, dass ich gegenwärtig an einem Kurzfilm arbeite, welches die Frage zu beantworten versucht, weshalb wir – um unserer Zukunft willen – Literatur und Kunst in unserem Leben benötigen, fiel deren Wahl auf mich. Eine Ehre, die mich jedoch etwas nervös macht: Wie soll man in sieben Minuten darauf eine Antwort geben? Ich schlage dem Moderator zwei Lesepassagen vor. Er wählt sich diejenige aus »¡Leben!« (Leykam Verlag), in der es um die Ermordung andersdenkender und anderslebender, -liebender Menschen während der NS-Zeit geht. Wohl weil wir beide in diesem Europe erleben, wie in manchen Ländern der Union sich erneut ein Denken breitmacht, das uns das Fürchten lehrt. 

Und während ich diese Kolumne tippe, erreicht mich die Nachricht, dass Ungarn, Teil der EU, eine Strafzahlung über die ungarische Buchhandelskette »Líra Könyv« verhängte, weil diese ein Kinderbuch zum Verkauf anbot, ohne einen ›Warnhinweis‹ auf dem Cover anzubringen, dass darin auch ›nicht-traditionelle Geschlechterrollen‹ vorkommen. Die rechtliche Basis liefert ein Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb, da – so die Begründung – Käufer*innen des Buches dieses in dem Glauben erstehen könnten, es handle sich bei der ungarischen Übersetzung von Märchen des US-Autors Lawrence Schimel um ein ›traditionelles‹ Märchenbuch. Ein bereits im Vormonat beschlossenes Gesetz verbietet überdies Bücher, Filme und andere Medien, die Kindern und Jugendlichen zugänglich sind und in denen eine nicht-heteronormative Sexualität dargestellt wird. Untersagt ist außerdem jedes Bildungsprogramm, das über alternative Lebensformen und Geschlechteridentitäten berichtet. Und das in einem EU-Land! Ohne alarmiertem Aufschrei der Partner*innen, ohne Konsequenzen?! »Öffne ein Buch für eine bessere Zukunft!« könnte einem dann beinahe höhnisch dünken, würde man vergessen, wie immer schon Bücher unter der Hand weitergegeben wurden, das geschriebene Wort auch in jene Räume vordrang, in denen man sie verbieten, verbannen, verbrennen wollte. Aus Angst vor den Gedanken, die darin vermerkt sind.

Auf der Plattform des »EuropeReadr« äußert sich der slowenische Literaturkritiker und Essayist Aljoša Harlamov zur diesbezüglichen Rolle der Literatur in sehr klaren Worten, die ich der ungarischen Regierung, deren Kulturforum auch Teil des »EuropeReadr« ist, ins Bewusstsein rufen würde:

»I firmly believe that literature is a tool encouraging thinking. And that literature as such has to do with the future. Whoever is brought up as a reader is brought up as a thinking human being. Whoever is brought up with stories and into stories grows up to be a member of a community. When we read, even if only for ourselves and in solitude, reading is a social activity – an encounter with the other, with the different, with the world and society, with history and with ourselves. And as we read literature, literature reads us, rearranging the connections in our minds, persistently and imperceptibly adding new information, memories, ideas and opinions, offering alternatives and transposing us at will, forcing us to contemplate time and space from perspectives other than our own. This is literature’s most ingenious trick: it is able to launch into internal monologue, hijack our voice and lend it to another. When we read, we might seem utterly alone and focused inward, yet we undoubtedly communicate with others.«

Ja, die Autor*in, der Autor arbeitet in Kommunikation mit der Welt, reagiert auf sie, schreibt das eigene Denken nieder, für sich selbst und für einen Lesenden – nur so, meinte Gertrude Stein, könne sie arbeiten. Und die Leser*innen treten während der Lektüre in Kontakt mit jener Weltsicht, gehen aus dieser Begegnung verändert hervor. Es mag nur eine minimale Veränderung sein, im Sinne einer Erweiterung des Erfahrungshorizonts vielleicht oder durch einen einzigen Gedanken, der daraus mitgenommen wird, womöglich sogar, ohne es zu jenem Zeitpunkt selbst zu bemerken. Doch was uns berührt, wird stets Teil von uns, alles, was wir in uns aufnehmen. Und manchmal kann es geschehen, dass einen die Lektüre eines Werks um und um wirft, weil sich uns dabei vollkommen neue Denkräume eröffnen. So erging es mir als Kind mit Judith Kerrs »Als Hitler das rosa Kaninchen stahl«, so lernte ich in der wiederholten Lektüre der »Recherche« Marcel Prousts ›Zeit‹ anders zu verstehen, entdeckte die Schönheit kreativer Sprache als kleines Kind mit Christine Bustas »Sternenmühle«, nährte diese Begeisterung mit Friedericke Mayröckers fein gewobenen poetischen Werken. »Cry Freedom« brachte mich als Teenager in die Reflexion über rassistische Mechanismen, Franz Werfels Romane zeigten mir die Konsequenzen dessen auf, was wir heute Mobbing nennen würden, ebenso Robert Musils »Zögling Törleß«. Ja, zu meinem Verständnis der Welt trugen Autor*innen wie Djuna Barnes, Virginia Woolf, Mario Vargas Llosa, Thomas Bernhard, Elfriede Jelinek und unzählige andere Entscheidendes bei. All diese Denker*innen machen auch aus, wer ich heute bin. Sie nährten nicht nur meine Liebe zur Sprache, sie nährten mich. Ihre fiktionale Darstellung der Welt und philosophischer Fragen zu unserem In-der-Welt-Sein bewirkte zudem, dass ich mich auf abstraktere Denker*innen einließ, quasi das Quellwasser der Autor*innen in mich aufzunehmen begann, denn die Literatur ist eng verwandt mit der Philosophie.

Wer nun einen Einspruch in Gedanken formuliert, eigene jüngste Leseerlebnisse in Erinnerung paraphrasiert, die aus Topfentascherlmord und Powidlattacke bestehen oder dem Beginn einer überwältigenden Liebschaft in Florenz folgen, in Paris oder der Provence, wie die Liebesorte in ›rosaroten Schriften‹ vorzugsweise lauten, auch englische Küstenstädte haben teilweise das Potential dazu, ganz zu schweigen vom grünen Irland, wer deswegen einen Einspruch auf der Zunge hat, der sei darauf hingewiesen, dass dies keine Literatur ist.

Keine Literatur? Was denn sonst?

Oh, ich kann sie hören, die erbosten Einwürfe all jener, die mir nun elitäres Denken vorwerfen.

Ist es das, elitär?

Nein. Mitnichten. Sondern Klarheit.

Es sind schlicht zwei Paar Schuhe. Keiner, der bei Verstand ist, würde den Großglockner oder auch nur den Buschberg in Flip Flops besteigen, nicht wahr? Wodurch keineswegs eine abwertende Aussage über diesen leichten Sommerschuh getroffen wird. Flip Flops sind ausgezeichnet, um über Strände zu spazieren, weil jedes Sandkorn sich sogleich verliert und nicht zwischen Sohle und Rahmen eindringt, um danach zu reiben und zu stören. Oder das Fußgewölbe zu massieren. Eine Frage der Situation wie der Bedürfnisse. Nur weil sich etwas ›anders‹ auswirkt, spricht noch nichts per se dagegen.

Und ebenso wenig wird hierdurch eine abwertende Aussage über Regionalkrimis oder Liebesromans, über andere Genrewerke getätigt. Abwechslung tut unseren Mägen seit jeher gut, doch wir sollten wissen, dass der nährenden Gehalt von Pommes oder Eis, von Schokolade oder frittierten Hühnerbeinen aus der Massentierhaltung ein anderer ist als derjenige einer ausgewogenen Mahlzeit. So verhält es sich jüngsten Forschungsergebnissen nach auch mit der Lektüre: Das sechs Minuten währende Lesen eines durchgängigen literarischen Werkes senkt den Stresspegel um 58 %. Dreißig Minuten tägliche Lektüre und die Lebenszeit verlängert sich, des positiven Effekts auf den Herzschlag wegen, um zwei Monate. Weitaus erstaunlicher – und zugleich logisch! – ist die Aussage dieser Forschungsergebnisse zur Bedeutung der Lektürewahl: Der gesundheitsfördernde Effekt tritt bei sogenannter Unterhaltungsliteratur nicht ein, denn diese bewirkt aufgrund ihrer vorhersehbaren Plots und eindimensionalen Charakteren keine Verlangsamung, sondern das Auge eilt auf der Suche nach dem nächsten Kick über die Seite. Es ist ja völlig powidl, ob jedes Wort wahrgenommen oder drei Seiten ungelesen umgeblättert werden. Ruhe kehrt so keineswegs ein. Sie bedarf der Literatur, in der jedes Wort zählt, jeder Satz von Bedeutung ist und man in die Tiefe der Sprache, der Innenwelten, der Gedanken und des Seins eintauchen kann.

Gleiches gilt übrigens auch für künstlerisch gestaltete gezeichnete Geschichten, sogenannte ›silent books‹, deren wortlose Lektüre den Lesenden sprachlich herausfordert, weil er oder sie diese Komponente im Erfassen erst beizutragen hat, sie auch einen Dialog zwischen zwei Lesenden evozieren kann. Im »EuropeReadr« finden sich spannende Exempel zu dieser Art der Lektüre. Übrigens werden alle ausgewählten literarischen Arbeiten auf der Plattform in englischer Übersetzung sowie im Original zur kostenfreien Lektüre angeboten, und die Bandbreite der Werke reicht von Kinderliteratur und Crossover-Literatur bis zu Werken für junge Leser*innen und Erwachsene. Sie umfasst mehrere literarische Gattungen wie Graphic Novels, Essays, Erzählungen, ›silent books‹ und Lyrik. Deutschland wird bei dieser Initiative übrigens von Lukas Jüligers Graphic Novel »Unfollow« vertreten. Die Plattform enthält auch eine pädagogische Ergänzung für die Arbeit mit Schüler*innen, und anderem wohl auch da das Projekt durch die erfolgreiche slowenische Aktion »Library under the Treetops« zur Leseförderung inspiriert wurde.

Diese Idee der Bibliothek unter den Baumwipfeln findet sich auch als Skulptur im Bürgergarten in Brüssel, die im Rahmen der Auftaktveranstaltung enthüllt wurde: Die Schere führten der gegenwärtige Präsident des europäischen Parlaments David-Maria Sassoli und Dr. Anže Logar, slowenischer Außenminister, sowie die in Borna (Sachsen) geborene Gitte Zschoch, Direktorin des EUNIC (Netzwerk der europäischen Kulturinstitute). Das Studio Drevos entwarf dieses Sinnbild der Lektüre, bei dem ›Weltinhalte‹ vom Baum der Erkenntnis gepflückt werden können. Zwölf verschiedene einheimische slowenische Hölzer symbolisieren nicht nur die zwölf Partner*innen des Projekts innerhalb des EUNIC Brüssel Netzwerks, sondern verweisen zudem auf die um unserer aller Zukunft willen nötige Akzeptanz der kulturellen Vielfalt in der Europäischen Union und die Sehnsucht nach einem friedlichen Zusammenleben, welches im Miteinander Kraft schöpft und hierdurch auch weitere ›Nahrung‹ für den Geist erhält. Vielleicht sollte man die ungarische Regierung daran erinnern, woran sie sich hier beteiligten? Und ein paar andere obendrein! Denn es ist unser Europa, welches ansonsten zu Grabe getragen wird! 

Wer glaubt, der »EuropeReadr« erstrecke sich einzig auf die Europäische Union, der werfe einen Blick auf die Liste der Events rund um diese Initiative (https://europereadr.eu/en/events/), denn auch Staaten wie Ägypten und Japan, Israel und Libanon, Thailand und Argentinien, um nur ein paar zu nennen, haben die Idee aufgegriffen und tragen eigene Projekte zu diesem wichtigen Diskurs bei.

Nach dem Durchschneiden des Bandes samt dreier Reden der offiziellen Vertreter*innen ist es an uns Autor*innen, die Zuhörenden trotz des unaufhörlich fallenden Regens zu begeistern – schon moderiert uns der spanische Kollege Julio Baquero-Cruz an, ein Jurist und Autor, der sich mit uns in mehreren online Meetings und zahlreichen E-Mails auf diese Veranstaltung vorbereitete und den ich in diesen Tagen als Denker kennen- und schätzen lernen darf. An meiner Seite sitzt der Schwede Axel Lindén, der im »EuropeReadr« mit seiner Publikation »Tillstånd« vertreten ist. Jorge Carrión, der spanische Autor auf der Einladungskarte, wird leider in unserem Trio fehlen, da Spanien in diesen Tagen auf der Corona-Ampel das Rot grell entgegen leuchtet, ihm die Ausreise nicht gestattet wurde. Seine schriftliche E-Mail-Botschaft lässt mich ob ihrer relevanten Aussage seine Abwesenheit umso mehr bedauern! Ich hoffe, wir werden einander ein andermal begegnen dürfen …

Während wir – nach knappen Lesungspassagen in englischer Übersetzung – darüber sprechen, was unseres Erachtens für die Zukunft dieser Welt nottue, fällt der Regen unaufhörlich. Schon dringt er durch den blauen Teppich, auf dem unsere Stühle stehen. Den Zuhörer*innen ist anzumerken, dass ihnen die feuchte Kälte unter dem Zeltdach gleichfalls in die Knochen kriecht. Dennoch lassen wir uns davon nicht abhalten.

In der ersten Reihe fällt mir ein Herr auf, weil er mich konstant beobachtet, mal versunken, mal leis lächelnd, er – so scheint es mir – saugt jedes meiner Worte gierig auf, was insbesondere deswegen frappiert, weil er während des offiziellen Aktes ganz gerne noch in seiner Zeitung blättert: Wegen den Herren aus der Politik ist er ganz offensichtlich nicht gekommen. Ich überlege die ganze Zeit, ob ich ihn kenne oder ob er mich bloß an jemanden erinnert. Erst nach der Debatte, als er auf mich zutritt, weiß ich es: Er hat eine leise Ähnlichkeit mit dem von mir so geschätzten Kollegen Alban Nikolai Herbst, ein ausgezeichneter Lyriker und liebenswerter Zeitgenosse! Erst als mir dies einfällt, während ich ihm im plaudrigen Nachhinein lausche, kann ich mich auf seine Worte konzentrieren: Er wie auch die Dame neben ihm teilen mit mir den Geburtstag, sagt er, »der 12. Dezember, ein bedeutsamer Tag, haben Sie Dank für alles!«, und greift in seine Sakkotasche, lässt rote Rosenblätter über mich regnen. Perplex stehe ich da, kann meine Freude, meine Dankbarkeit über diese sichtbare Anerkennung kaum äußern. Obendrein ordert man mich zeitgleich zu einem offiziellen Photo in den angrenzenden Pavillon: Die Kollegen warten schon alle … Ich hasche nach einem der Blütenblätter, stecke es in mein Notizbuch, entschuldige mich – und habe zu posieren, obgleich es mir weitaus lieber wäre, diesen deutschen Herren zu befragen, mich zu bedanken oder auch nur den begonnenen Dialog weiterzuführen: über die Wichtigkeit im In-der-Welt-Sein diese im Sinne einer mitmenschlichen Zukunft zu prägen. Bevor noch die siebzehn Photos im Kasten sind, welche die offizielle Rolle verlangt, ist der Herr verschwunden.

Mit Wilhelm Pfeistlinger, dem österreichischen Botschaftsrat für kulturelle Angelegenheiten, Direktor des österreichischen Kulturforums in Brüssel, dem ich es verdanke, dass ich an jenem Tag dort lesen und reden durfte, gehe ich durch den Bürgergarten. Ich möchte die Wand des Goethe Instituts aus der Nähe studieren: In einem Holzrahmen stecken unzählige Quader, auf denen Zitate vermerkt sind. Literat*innen fügen sich an Philosoph*innen, Kafka, Hegel, Audre Lorde und Hilde Domin finden sich ebenso wie Abschnitte aus der Bibel. Es ist eine Wand, die sich auflösen soll, weshalb Passant*innen gebeten sind, sich ein Zitat ziehen. Noch gibt sie nur stellenweise den Blick auf das dahinter liegende EU-Parlament frei. Mir legt der Zufall einen Satz des niederländischen Kollegen Jeroen Brouwers in die Hand: »Nichts besteht, das nicht auch etwas anderes berührt.«

Den Abend verbringe ich mit Axel Lindén und Julio Baquero-Cruz. Wir setzen die Debatte unter uns fort, die wir zu Mittag offiziell begannen, sprechen über Autor*innenschaft und ihre Schwierigkeiten, über den Verlust des allgemeinen Glaubens an Fiktion, über ihre Notwendigkeit in unserer nüchternen Welt. Dass wir nicht einer Meinung sind, beflügelt die Debatte, welche erst die einbrechende Dunkelheit um uns endet. Den Regen? Haben wir lange schon vergessen.

Anderntags steht meine Abreise im Kalender. Ich bin sonderbar nervös, kann mir nicht erklären, woher diese Anspannung kommt. Checke viel zu früh aus dem Hotel aus, in Sorge, ich würde mich auf dem Weg zum Bahnhof verirren, könnte das Gleis nicht finden – als wäre ich in einem kafkaesken Universum und nicht in einer gewohnten Stadt. Mit Vernunft ist diesem sich heranschleichenden Unbehagen nicht beizukommen. Auch nicht mit dem Griff nach meinem Reisepass. Seit meiner letzten Reise nach Kuba ist mir bewusst, wie irrelevant dieses Dokument sein kann, wenn jemand anderer entscheidet: ›Heute fliegen Sie nicht!‹

Viel zu früh am Gare Central, es regnet unaufhörlich, ich drehe dennoch Runde um Runde, fahre von dort zum Nordbahnhof, will auf der Anzeigetafel überprüfen, ob die Gleisnummer meines Zuges mit Sicherheit nicht geändert wurde. Der Gare du Nord entpuppt sich als Irrgarten, öfter als einmal stehe ich am Ende eines Ganges vor einer Glaswand, durch die kein Weg hindurch führt. An Wegweisern wurden gespart. Endlich, in leuchtendem Gelb die Uhrzeiten, die finalen Bahnhöfe, die erreicht werden, Köln steht in drei Sprachen vermerkt, daneben die Zugnummer, doch im Feld für Gleiszahl flimmern mehrere Sterne. Mit Europa hat das nichts zu tun. Ich starre sie gebannt an, reagiere nicht. Nur mein Puls beschleunigt sich. Eine Sternchen-Zeile, was in aller Welt soll die bedeuten? Hinter mir unruhiges Stimmengewirr, ein junger Mann in Uniform erteilt an einem mobilen Informationspult gelangweilt Auskunft. Ich erkundige mich auf Französisch; und habe nach gehörter Antwort dennoch nachzufragen: »Dieser Zug fährt nicht«, sagt er nun. »Heute auf keinen Fall.« – Noch glaube ich an ein singuläres Ereignis, frage ihn, was nun zu tun sei, wann gehe der Nächste, wo könne ich umbuchen. Er zuckt die Schultern: »Bleiben Sie in Brüssel«, sagt er lakonisch. Ich denke, der hat ja leicht reden, denn wo in Brüssel solle ich in aller Welt bleiben, und was bitte ist überhaupt los? Im gleichen Moment breitet sich die Sternchen-Reihe über die gesamte Anzeigetafel aus, erfasst beinahe Zeile um Zeile. Nur einige wenige Destinationen halten mit einer Gleiszahl stand. Mir sagen die Ortsnamen nichts, aber ich weiß, ich brauche eine Bestätigung für den Ausfall, habe eine Lösung zu finden. Folglich: einen regulären Informationsschalter, ein Reisecenter der belgischen Bahn, das hat es ja zu geben – die Hand des Herrn am mobilen Pult wies geradeaus und leicht rechts. Irre erneut Gänge entlang, lande in einer Ecke, von der Treppen nach oben und nach unten führen – offenbar zu Bussen und Taxis, zu Zügen. Soll ich wahrhaftig den Koffer hoch schleppen? Hinunter sieht ja nicht besonders vertrauenserweckend aus. Je tiefer ich in diesen sonderbaren Bau vordringe, um so häufiger sehe ich Menschen, die unter Lappen, Planen oder Decken am Boden liegen, darunter auch ihre Habseligkeiten in Häufchen um sich geschart, nicht einmal ein Fuß oder ein Kopf blickt unter diesen Schutzmäntelungen hervor. Andere wiederum haben sich eine Bank ergattert, schlafen mit dem Rücken zu passierenden Reisenden. Endlich, der Informationsschalter, an dessen Betreten einem drei Angestellte in Uniform hindern. Wenigstens erfahre ich hier die Ursache für den Zugausfall: Aufgrund der anhaltenden Regenfälle kam es zu massiven Überschwemmungen, Bahntrassen wurden unterspült, brachen ein, mit einem Zugverkehr Brüssel-Köln sei erst in gut sieben Tagen wieder zu rechnen. Ein Schienenersatzverkehr wird angeboten – nein, ruft die eine Angestellte, unmöglich, der Bus fahre nicht mehr. Eventuell böte Flixbus noch einen Transport an, gelänge es mir, deren Schalter rasch zu erreichen, bevor sie schließen. Ich irre erneut durch den Bahnhof, suche den mir genannten Ausgang, steige in der Vorhalle zu jener Tür über Menschenkörper unter Planen, halte den Atem an – hinaus. Zur Nervosität des Morgens, zur Unruhe der Gegenwart gesellt sich leichte Covid-Sorge: Meine 48 Stunden sind in wenigen Minuten bereits passé. Meine privaten, täglich vorgenommenen Selbsttests dienen zwar meiner persönlichen Beruhigung, aber offiziell sind die keineswegs gültig. Auch nicht für den Fahrer eines Flixbusses. Somit ist diese Option ohne Besuch in einer Teststraße gleichfalls undenkbar geworden. Und die nächste Teststraße – ist wo?

Außerdem: sieben Tage! Das ist unmöglich. Ich habe eine Veranstaltung in Magdeburg zu bestreiten, übermorgen, um genau zu sein. Mal ganz davon abgesehen, dass sieben Tage in einem Hotel eine irre Lücke ins Budget reißen würden – und obendrein: In welches sollte ich gehen? Wie kann ich ohne Internet eines finden? Wie haben wir das früher gehandhabt? Ich starre durch die Glaswand nach draußen. Strömender Regen. Das ist kein leichtes Plätschern mehr …

In meiner Ratlosigkeit rufe ich im österreichischen Kulturforum an, man bittet mich zu kommen. Innerhalb weniger Sekunden bin ich, obgleich unter einem Regenschirm, bis in Hüfthöhe nass. Jeder Schritt drückt Wasser aus dem Fußbett der Schuhe, die Jeans klebt an der Haut. Dabei suchte ich bloß ein Taxi! Gut tut da der heiße Tee, danach ein doppelter Espresso, man füttert mich mit Brombeeren und Schokolade, während ich ihr  Internet nutze: Die Deutsche Bahn bestätigt: Keine Züge in den nächsten Tagen. Und weil kein Unheil je alleine kommt, hat auch mein Wertkartentelefon sich entschieden, den Dienst einzustellen – als Dank für die zahlreichen Auslandsgespräche, die ich ihm an diesem Morgen zumutete. Nicht auszudenken, wie turbulent die Situation geworden wäre, hätte es diesen Beschluss gefasst, bevor ich die Botschaft erreichte! Ich schreibe meiner Tochter in Wien eine E-Mail, sie eilt in den Laden, ersteht einen Bon, photographiert ihn – wenigstens dieses Problem ließ sich mit ein wenig Hilfe flink aus der Welt schaffen. Wie aber komme ich von hier nach dort, und wo soll ich schlafen?

Wilhelm telefoniert und organisiert mir ein Hotelzimmer, während seine Assistentin Anna sich mit unzähligen anderen Auslandsösterreicher*innen und -deutschen vernetzt: Wer fährt Richtung Köln?

Das Warten beginnt.

Langsam trocknen die Hosenbeine, die T-Shirt-Ärmel; von den Socken, aus denen das Wasser tropft, verabschiede ich mich bis morgen Mittag. Die Schuhe werden nass bleiben. Niemand nimmt auf eine dreitägige Lesereise Wechselklamotten für alle etwaigen Notfälle mit. Wilhelm versucht mich damit zu trösten, es gäbe in Brüssel durchaus feine Läden, die Belgier und Belgierinnen hätten einen guten Geschmack. Zur Not müsste ich halt … »Zur Not.«

Nach seinem Arbeitsende begleitet er mich zu einem Hotel in der Nähe des Gare Central, und ich bin heilfroh, die Verantwortung für ein paar Stunden abgeben zu dürfen, erschöpft wie ich bin. Und weil er der Meinung ist, dass das ja wohl gar nicht gehe, vor Anspannung nichts zu essen, erkundigt er sich an der Rezeption nach einem Restaurant, welches aller Voraussicht nach weitere glutenfreie Speisen auf der Karte kennt als bloß Salat. So verbringen wir einen weiteren Abend miteinander, parlieren angeregt über Lektüreerlebnisse und Lesefreuden, tauschen uns über die literarische Landschaft aus, woran ich gerade arbeite, was wir lesen … als würde er ahnen, dass es mir in dieser momentan noch immer ausweglosen Situation hilfreich ist, mich mit dem zu beschäftigen, was neben der Liebe das Leben lebenswert macht: die Literatur.

Am nächsten Tag das Warten erneut. Nicht auf Züge. Die habe ich bereits abgehakt. Eine einzige Transfer-Option tat sich bislang auf, via Facebook – ja, für solche Katastrophen sind die sozialen Netzwerke ein wahres Wunder! Eine Mitarbeiterin der »Österreich Werbung« fahre nach einem beruflichen Termin in Brüssel am kommenden Tag zurück nach Köln und erreiche die Stadt um ca. zehn Uhr vormittags. Zu spät für mich, wenn ich am gleichen Tag um 14 Uhr einen Public Poetry Scream  vor der Buchhandlung »Fabularium« moderieren soll: Kolleg*innen versetzt man nicht; höchstens, wenn die Welt untergegangen ist. Aber an dem Punkt sind wir noch lange nicht, es wäre doch gelacht, gelänge es nicht, eine private Mitfahrgelegenheit zu finden! Mag der Kerl am Steuer nun Michal, Pavel oder wie auch immer heißen. Weshalb bieten ausschließlich Männer ihre Rückbank und ihren Beifahrersitz an? Berufspendler? Ich weiß es nicht. Mir fällt nur auf, dass sie fast ausnahmslos eine finale Destination in Polen angeben.

Wer je diese Portale benutzte, kennt den Stresspegel, den sie evozieren, wenn eine Fahrt, gerade eben noch im Angebot, erlischt, bevor man noch ein höfliches ›Ja, ich will mitfahren‹ vermerken konnte. Gegen Mittag werde ich das Hotelzimmer verlassen müssen; oder eine weitere Nacht buchen. Ich starre auf den Zeiger, sehe seinem Vorrücken zu, weiter, weiter, immer weiter auf die Zwölf. Mittlerweile habe ich leise Zweifel, ob es sich bei ihr wirklich um solch eine herausragende Zahl handelt, wie der Zuhörer im Bürgergarten meinte. Um zwölf vor zwölf mache ich mich auf den Weg zur Rezeption. In Gedanken baue ich im Lift hinab Satz für Satz: die Lage schildern, um Kulanz bitten, um einen Aufschub von zwei Stunden ersuchen – ich komme gar nicht so weit. Schon winkt die Rezeptionistin ab: Natürlich, das sei überhaupt kein Problem, die Situation sei dem Hotel seit gestern bekannt, zahlreiche Gestrandete hätten hier Zuflucht gesucht, ich hätte Zeit bis vierzehn Uhr, auch fünfzehn Uhr genüge noch, und sie wünsche mir alles Glück der Welt!

Um zwölf nach eins läutet mein Telefon – Anna, sagt das Display: Ein Mitarbeiter der EU fahre mit dem Auto nach Köln, er habe schon zwei weitere Frauen im Wagen. Ich sage sofort zu, rufe ihn an, checke aus, flitze mit der Metro 1 zur Endstation Stockel. Er wisse nicht, wann er genau komme, es werde noch dauern. Ich bin mittlerweile zu gebeutelt, um mich aufzuregen oder zu ängstigen: Er wird kommen, dieser Max, irgendwann.

Um vier Uhr entpuppte sich Max als freundlicher junger Kerl, kaum älter als mein Sohn. Knallrot gefärbte Haare, und neben ihm seine Freundin, die er an die Grenze fährt, damit sie der Großmutter Beistand leiste, deren Dorf zwar gegenwärtig noch nicht im Überschwemmungsgebiet liege, doch sicher sei sicher, und wer wisse zu sagen, wie lange der Damm den Wassermassen standhalte. Wir tauschen uns über das vergangene Jahr aus, wie es sich auf uns auswirkte, wie wir mit der Beklommenheit umgehen lernten. Irgendwann sagt er den höchst klugen Satz, eines habe ihn die Pandemie gelehrt: Es helfe niemandem, laute die Antwort auf die Frage, wie es einem gehe, ›Gut!‹, ist es nichts als eine Lüge, weil Ängste und Panikattacken einem die Kehle zuschnüren, die Nächte schlaflos geworden sind. Weder dem Betroffenen selbst noch dem Gegenüber, der sich sonst natürlich gleichfalls gezwungen fühle ›Gut, gut!‹ zu sagen, selbst wenn ihm oder ihr das Wasser bis zum Hals oder höher steht. Nur die Ehrlichkeit helfe, nur sie ermögliche Nähe, antworte ich ihm.

Wir sausen über die Autobahn, dann über Land, liefern die junge Frau zur Großmutter, fahren weiter – je näher wir der Grenze kommen, desto mehr verändert sich die umgebende Landschaft. Es ist nicht mehr bloß so, dass Wiesen und Weiden Pfützen aufweisen, nein, Bäche schießen über die Straße, wo nie ein Bach war, der Asphalt in den Ortschaften ist braunverschlammt, Straßen sind gesperrt, wir haben zu wenden, eine andere Route zu nehmen. Bäche wuchsen zu Strömen an und überfluteten angrenzendes Gebiet, führen Blattwerk, Gestrüpp, entwurzelte Baumstämme mit sich. Zahllos die Häuser, neben deren Wänden sich Mobiliarberge schichten – Polstermöbel, Matratzen, aufgequollenes Sperrholz. Müllsäcke bergen, was einst zum Leben nötig schien. Schweigend fahren wir durch diese Dörfer. Auch das: unsere Zukunft, wenn wir nicht hurtig lernen umzudenken! Denn nur ein Ignorant, eine Ignorantin kann noch behaupten, solches habe es immer schon gegeben, um weiterhin zu ignorieren, dass Handlungsbedarf besteht. Nicht irgendwann, nicht in ein paar Jahren mit ein paar Zielen, sondern jetzt: Wenn Sturzbäche in wenigen Stunden vom Himmel fallen und eine Region versenken, während ein paar Kilometer östlich Dürre herrscht, über den Landstrich gleich daneben zuvor ein Tornado fegte, Waldbrände da und dort alles Leben auslöschen, dann haben wir keine Zeit für unsinnige Debatten über CO2-Ausgleich und Klimaziele-im-Irgendwann.

Ich erreiche Köln am frühen Abend. Der Angestellte der Deutschen Bahn sagt mir, es gäbe noch einen Zug, der fahren werde, in etwas mehr als zwei Stunden – und er lacht über meinen Jubel samt Freudentanz.

Diese Zeit vergeht flink. Kurz nach 23 Uhr steige ich in den Waggon, der mich direkt nach Magdeburg bringen wird. Was interessiert mich die Verspätung – fünfzehn Minuten, zwanzig, dreißig, achtzig am Ende, powidl ist es, powidl bleibt es …  dann irgendwann, im Morgengrauen, da tauchen sie auf, die Türme des Magdeburger Doms, stehen dunkelgrau mitten im Regen. ›Wenn ich den Dom sehe, weiß ich, ich bin zu Hause‹, sagte man mir mehrmals in dieser Stadt. Ich weiß, dass ich ankomme, sehe ich die beiden Türme des Doms, und ich weiß, ich bin zu Hause, weil mich ein geliebter Mensch am Bahnsteig überrascht und in die Arme nimmt.

V Von vereinten Kochtöpfen und dem Wissen, dass wir alle voneinander lernen.

Wegen meines Dokumentarfilms »Arbeit statt Almosen«, der in Magdeburg bis 20. Juni im virtuellen Kinosaal des Moritzhofs läuft, trete ich mit Journalist*innen in Österreich sowie in Deutschland in Kontakt. Von einer von ihnen erhalte ich auf meine finalen ›Grüße aus Magdeburg‹ die erstaunliche Antwort, dass ihre »wunderbare Großmutter«, lange schon verstorben, aus Magdeburg stamme, ihre Mutter noch ebenda zur Welt gekommen sei, während sie als waschechte Oberösterreicherin lange schon in Linz lebe – sie hoffe, mich mit diesen Zeilen nicht allzu sehr mit Privatem belangt zu haben. So entschuldigte sie sich für die zwei, drei Erinnerungen an ihre Ahnin, die sie in ihrer e-Mail vermerkt hatte.

›Ganz im Gegenteil‹, lautete meine Antwort. Denn das interessiere mich … 

Ihre Zeilen waren mir Grund genug den wohlbekannte Spieß umzudrehen und ausnahmsweise sie um ein Interview zu bitten, der »wunderbaren Großmutter« wegen. Solch ein Zufall sollte doch wohl genutzt werden, nicht?

Überraschenderweise war sie dazu bereit. Wir vereinbarten ein online-Meeting, bei dem sie mir alsdann eine Stunde lang Einblicke in ihre Erinnerungen gewährte und auch Bildmaterial zur Verfügung stellte

Die Straße, in der ihre Großmutter Ingeborg einst lebte, die wisse sie heute nicht mehr mit Sicherheit zu benennen, aber selbst in den Jahren in Österreich sei Magdeburg immer als Sehnsuchtsort präsent geblieben: ein Synonym für eine wundervolle Kindheit und Jugend. Eine Turmspringerin und eine ausgezeichnete Schwimmerin sei Ingeborg gewesen, die gerne davon erzählte, wie sie in der Elbe den Schiffen nachgeschwommen sei. Erstaunlich sei dies, denn später, bei ihren Enkel*innen, dominierte eher die Sorge, ein Unglück könnte geschehen.

Ingeborgs Vater sei in der heute offenbar nicht mehr existenten Lessing-Apotheke tätig gewesen, ihre Mutter war Hausfrau. Das Wohnhaus der Familie habe sich durch eine ungemein angenehme und verlässliche Hausgemeinschaft ausgezeichnet; beinahe wie eine Großfamilie lebte man miteinander, half aus, wenn es not tat, und unterstützte die anderen, wie man auch selbst von ihnen Unterstützung erfuhr. Dieser soziale Zusammenhalt sei für Ingeborg sehr prägend gewesen, und wohl auch aufgrund dieser Erfahrung, habe sie Zeit ihres Lebens immer Menschen mit offenen Armen aufgenommen, sich um andere gekümmert, sich auf sie eingelassen.

Während ihrer letzten Jahre in Magdeburg, arbeitete sie, bereits eine junge Frau, in einem feinen Geschirrgeschäft am Breiten Weg, vor dem zweiten Weltkrieg der Prachtboulevard der Stadt. In diesem Laden war es Alltag, die Kundschaft in Handschuhen zu bedienen. Auch in späteren Jahren, habe Ingeborg immer wert auf ein gepflegtes Äußeres gelegt, war stets sehr adrett gekleidet – selbst in jenen schweren Zeiten nach Kriegsende, als sie kaum etwas besaß und die finanziellen Verhältnisse allgemein mehr als beengt waren. Da lebte sie bereits im Ausland, im oberösterreichischen Hausruckviertel, in Attnang-Puchheim, um genau zu sein. Darüber wie sie das Unrechtsregime der Nazis empfunden habe, ob sie dagegen, dafür oder indifferent eingestellt gewesen sei, darüber hatte sich Ingeborg ihrer Enkelin gegenüber nie geäußert – und ihre Enkelin niemals nachgefragt. Erst nach dem Tod der Großmutter trat diese Lücke zutage; wie unzählige andere auch, die nie als Frage ausgesprochen worden waren, um Antwort baten; und nun nie mehr gestellt werden konnten.

Weshalb es nicht zur Thematisierung dieses Kapitels der Geschichte gekommen sei? 

Das wisse sie nicht zu sagen, antwortet mir die Enkelin.

Auch ich schweige, denke an meine Großeltern – eine ähnliche Erfahrung. Während man miteinander lebt, ist der Alltag und das eigene Sein oftmals dominant. Sie bedingen, dass man vielmals Ereignissen und Gedanken nicht auf den Grund geht, zudem die Zeit, die im Noch der Zukunft zur Verfügung steht, endlos scheint. Zerrt einem der Tod jedoch einen geliebten Menschen von der Seite, ist das Bedauern, was alles nicht gesagt, gefragt, getan und erlebt wurde, auch Teil des Abschiedsprozesses: Die Zeit hat eben nie genügt!

Eines, so die Enkelin, wisse sie auf jeden Fall mit Sicherheit zu sagen: Der Fokus der Großmutter habe die Kriegsjahre über vor allem darauf gelegen zu überleben: Irgendwie lebendig aus all dem herauskommen, nennt es die Enkelin.

Eines Tages sei sie vor den Bomben in den Schutzkeller geflohen, gemeinsam mit ihrer Schwester und deren neugeborenem Baby. Als die Detonationen endlich abebbten, alles für dieses eine Mal wieder vorbei war, hielt die Schwester einen Leichnam im Arm …

Oft habe Ingeborg davon erzählt, wie die Stadt brannte. Durch die Straßen seien sie geirrt, ihre Mutter und sie, als die Kriegswirren sie voneinander trennten. Laut hätte sie den Namen der Mutter gerufen, in der Hoffnung, sie hierdurch wiederzufinden, allem Getöse einstürzender Häuser und Feuersbrünste zum Trotz. Mitten darin, wo nichts zu sehen war, nur Rauch und Hast und Ruinen, habe sie der Mutter antwortenden Ruf gehört: ›Ingeborg, Ingeborg!‹ So hätten sie einander – ausgebombt – wiedergefunden … Manchmal nahm sie später noch ein Photo zur Hand, auf dem nichts zu sehen war, außer ein Berg Schutt, wo zuvor das Wohnhaus gestanden hatte. 

Das Er- und Überleben des Krieges jedenfalls brachte Ingeborg zu einer Überzeugung, an der sie bis an ihr Lebensende festhielt: Nie wieder Krieg! Nie wieder dürfe es zu solchem Wahnsinn kommen! Das wünsche sie ihren Enkel*innen, dass sie derartige Zeiten niemals erleben müssen. 

Während ich diese Kolumne korrigiere, denke ich an das vergangene Wochenende: Ich verbrachte den Wahlsonntag mit Magdeburger Freund*innen. Im Hintergrund lief leise die Berichterstattung zur Landtagswahl, stündlich die Hochrechnungen. Und obgleich die Aktivitätsmöglichkeiten der diesjährigen Wahlkampagnen C-bedingt begrenzt waren, größere Partei-Veranstaltungen nicht wie gewohnt stattfanden, fiel das Blau auf, nicht bloß in der Bildgestaltung. Zwei Parteien im gleichen Farbton: Für Heimat und ›Wir‹. Samt und sonders ›Freiheit‹. Der in Wahrheit kein Boden bereitet wird, nicht nur weil diese ›Freiheit‹ schwammig bleibt, denn ihr soll auch gar kein Boden gewährt werden, schließlich hat man sowieso anderes im Sinn. Solches kann man recht deutlich auf diesen Plakaten lesen, studiert man sie, setzt man sie zueinander in Bezug: Jene ›Freiheit‹, die hier gemeint wird, bedeutet in Wirklichkeit Gefangenschaft im Irrsinn der erhobenen Hand.

Der Unfähigkeit zur Reflexion wird leider kein Ende gesetzt – ebenso wenig wie in all den anderen Nationen, die weiter und weiter nach rechts gleiten. Wir, in Österreich, können ja gleichfalls ein elendes Lied davon singen …

Man wolle, tönte man in Sachsen-Anhalt, stärkste Partei im Land werden. Nun, am Ende dieses Wahlsonntags stand fest, das gelang nicht. Aber ›beruhigend‹ würde ich es trotzdem keineswegs nennen, wenn jeder 5. das Außen im Extrem gewählt hat.

Die Stimmung meiner Magdeburger Freund*innen und meine eigene blieb und bleibt gedrückt; die Analyse, welche Jahrgänge sich für deren ewig-gestrige Botschaften, für deren Angsthetze begeistern, stimmt kaum optimistischer.  (Vgl.: https://www.tagesspiegel.de/wissen/maennlich-mittleren-alters-aus-der-mittelschicht-ein-politikforscher-erklaert-wer-die-afd-waehler-in-sachsen-anhalt-sind/27260078.html)

Nie wieder dieser Wahnsinn, war die Lehre der Generation, die den Zweiten Weltkrieg überlebte. Sie wussten, wovon sie sprachen. Und wir, ein Menschenleben später, sind drauf und dran, weltweit zu riskieren, dass zurückkehrt, wovon sie sprachen. Weil wir zu lahmarschig sind, zu sehr mit Alltagstrallala und -kleinkram beschäftigt, um uns um die entscheidenden Fragen zu kümmern. Ich nehme mich da selbst auch gar nicht aus … Zu matt und zu erschlagen oft, um tagtäglich diese Erde nicht zugrunde zu richten, um Widerstand zu leisten, um ein anderes Leben zu erdenken. Kommen wir jedoch nicht bald in die Gänge, dann dürfen wir uns wahrlich nicht wundern, wenn wir die Zukunft verspielen. Solche Reflexionen beherrschen das Gespräch, an jenem Sonntag. Eine mehr als bloß gedämpfte Stimmung macht sich breit, zieht sich in die nachfolgenden Tage …

Nie wieder solcher Wahnsinn, dem seien die nächste Generationen vor, die damit heranwuchsen. Erzählte Ingeborg ihrer Enkelin von den Kriegsjahren, so geschah dies stets ungemein fesselnd, weshalb ›der Krieg‹ für ihre Enkelin einst, als Kind, zu einer spannenden Geschichte wurde, die weit, weit zurück lag, vorerst unwirklich wie eine Erzählung aus dem Märchenbuch oder der Sagenwelt. Heute, als Erwachsene erklärt sie sich dieses Phänomen dadurch, dass es für Nachgeborene unbegreiflich sei, dass ein Mensch solche Schrecken erlebe. Schon gar nicht sei es zu begreifen, dass es die eigene Großmutter war, die solches überlebte, auch weil zwischen der Erzählung der 1940er-Jahre und jenem ›Jetzt‹ in den 1980er Jahren eine derartige Diskrepanz bestand, ein gänzlich anderer Alltag in anderer Welt, der sich einem zuhörenden Kind ohne Hintergrundwissen entzog.

Während der letzten Kriegsjahre verliebte sich Ingeborg. Eine Heirat in Kriegsarmut. Ein erstes Kind, eine Tochter. Doch der Mann stammte nicht aus Magdeburg, sondern aus heutigem Oberösterreich. Deshalb verließ Ingeborg am 21. Oktober 1946 die Stadt mit ihrer kleinen Tochter. Es war einer der letzten Züge, die noch Flüchtlinge transportierten. Bis zum 6. Dezember dauerte diese Fahrt, für die heute gerade mal sechs Stunden benötigt werden! Wiederholt wurden die Waggons auf Nebengleisen abgestellt, tagelang warteten die Menschen auf die Weiterfahrt. Kalt sei es gewesen, erzählte Ingeborg später, erschreckend kalt, und wie froh sei sie gewesen, dass ihre kleine Tochter, erst ein paar Monate alt, während dieser ewig nicht enden wollenden Fahrt so ungemein brav gewesen sei. Nicht auszudenken, wie schwierig dieses Unterwegssein sich hätte gestalten können, wäre die Kleine krank geworden oder hätte sie auch bloß den dicht gedrängten Waggon mit dauerhaftem Quängeln gefüllt …

Die ersten Jahre in der Fremde fielen Ingeborg nicht leicht – aus mehreren Gründen: Attnag-Puchheim war in den letzten Kriegstagen gleichfalls noch bombardiert worden, und wiewohl diese Erfahrung alle hätte einen können, trat eher das Gegenteil ein. Es schürte Konflikte. Als Deutsche weithin sprachlich erkennbar, schloss sich Ingeborg während jener ersten Zeit vor allem zwei ihrer Landsfrauen an, deren Bekanntschaft sie durch Zufall in Attnang-Puchheim machte und mit denen sie die Situation, neu in der Region und frisch verheiratet zu sein, ebenso teilte wie die Erfahrung eines ihr rau dünkenden Umgangstons an diesem neuen Wohnort. Hinzu kam, dass sie auch als Schwiegertochter offenbar nicht willkommen war, was den Neubeginn keineswegs leichter gemacht haben dürfte.

Der erste Unterschlupf des jungen Paares war eine kleine Zwei-Zimmer-Wohnung, in der es tagein, tagaus furchtbar kalt war. Alte Konservendosen dienten als Ersatz für Kochtöpfe – ein bitteres Erwachen für eine junge, gerade frisch verheiratete Frau mit einem kleinen Kind, so die Enkelin.

Zwei, drei Mal besuchte Ingeborg danach noch ihre Eltern in der DDR, doch habe es ihr jedes Mal das Herz gebrochen: Das Magdeburg, mit seiner tausendjährigen Geschichte, gab es nicht mehr, alles in Schutt und Asche. Wer darin lebt, sieht auch wie Neues entsteht. Wer jedoch nur für eine kurze Weile kommt, das ehedem gewohnte Bild noch immer konstant vor Augen, mit dem die Realität nicht mehr korrespondiert, den muss dies besonders schmerzen …

In späteren Jahren zog sie es daher vor, nicht zurückzukommen; postalisch aber blieb sie immer in Kontakt mit der alten Heimat, sandte Briefe und Pakete an Verwandte und Freunde, Strümpfe, Kaffee und was eben sonst noch benötigt wurde.

Das übliche Szenario bei geteilten Familien, mit einzelnen Mitgliedern im Westen, anderen im Osten, mir wohl vertraut in der polnischen, der kubanischen Variante, beobachtet auch an den ›Schatzis‹ im Kosovo (Siehe: »Kosovarische Korrekturen. Versuch über die Wahrheit.«). Es ist stets – für beide Seiten der geteilten Familien – eine komplexe Situation, die immer auch Konflikte und nicht zu lösende Verstrickungen mit sich bringt.

Nicht immer sei alles angekommen wie gedacht, erzählt mir die Enkelin, und dennoch habe ihre Großmutter Ingeborg daran festgehalten. In den späten 1970er Jahren seien manchmal auch Pakete aus der DDR gekommen, Bucheinbände aus Leder, eine Federschachtel, Puppenkleidung …

Wie das denn empfunden worden sei, frage ich. Diese Pakete aus der DDR?

Heute geniere sie sich manchmal, dass sie damals Geringschätzung empfand, für jene Präsente, doch habe man sich selbst gegenüber ehrlich zu sein, und so sei es eben gewesen: eine Irritation, ein Nicht-Wissen, was anfangen, mit diesen eher altbackenen Geschenken, die man sich selbst wohl kaum ausgesucht hätte. Kinder können darin sehr hart sein, sagt sie und verstummt für eine Weile, bevor sie ergänzt: Einblicke in die politischen Zusammenhänge seien ihr damals noch verwehrt gewesen, viel zu verwirrend, das alles: Wie sollte man verstehen, dass neben der gewohnten und bekannten eigenen Welt noch eine weitere existiere? Mal davon abgesehen, dass ihr durchaus klar gewesen sei, auch als Kind schon, dass diese Verwandten und Freunde der Großmutter in ihrer Freiheit geknebelt waren – »und schaute man einmal ›falsch‹, hatte man nichts mehr zu lachen«, formuliert es die Enkelin.

Das Federpennal besitze sie heute noch, auch zwei Puppenpyjamas seien erhalten – und die Briefe. Vor allem die Briefe. Manchmal nehme sie diese zur Hand, und die Liebenswürdigkeit darin erstaune und berühre sie bis heute. Vielleicht, so sagt die Enkelin, sei dies ein Spezifikum der Menschen aus dem Osten: eine Liebenswürdigkeit, eine Aufrichtigkeit, eine gesunde Bescheidenheit auch; und vor allem: die Fähigkeit zum Zusammenhalt – natürlich könne man das nicht so pauschalieren, es gelte nicht für alle, aber es sei eine auffallende Tendenz. Darin hätten sie uns so manches voraus! Oder auch in der gepflegten Aussprache … Auf die hätte ihre Großmutter entschieden Wert gelegt, hätte sich sprachlich in all den Jahren in Oberösterreich nie an den anderen Ton angepasst, sondern den ihren beibehalten.

Eine Kunst, dieses Nein zur Vereinnahmung, nicht aufzugehen in dominanter Umgebung, sondern man selbst zu bleiben. Auch sprachlich.

Wie schwer das fällt, davon kann ich als österreichische Literatin ein Lied singen. Schon Karl Kraus schrieb, das Problem zwischen Deutschen und Österreichern sei die gemeinsame Sprache.

Ja, der andere Ton … er macht oft die Melodie, und an guten Tagen sammle ich die Varianten, bereichere mein Vokabular und mein Weltwissen um alle Nuancen, mögen sie aus Österreich, der Schweiz, aus Deutschland stammen; an schlechten Tagen habe ich die Nase voll und summe ein verärgertes Protestlied, gegen die oft zu Tage tretende Arroganz einer zahlenmäßigen Mehrheit, die nur aufgrund ihrer Menge zu dem Schluss kommt, dass ihre Sprachvariante nicht eine von drei existenten, lebendigen und gelebten Möglichkeiten der deutschen Hochsprache sein könne, sondern vielmehr: die einzig Wahre, die Korrekte, die Standardsprache! Weshalb alles andere zur Abweichung, zum Regelverstoß, zur Mundart erklärt wird. Aller Etymologie zum Trotz. Auf die wird einfach mal gepfiffen, ist ja nicht so wichtig, wenn die Mär doch schön klingt, nicht?

Das kann dann sogar sonderbar extremistische Tonlagen anstimmen, wie das Schreiben einer Hamburger Agentin, die ein Manuskript, dessen Inhalt in Österreich spielt, dessen Dialogtext von Österreicher*innen gesprochen wird, mit der Begründung ablehnte, vor einer Publikation müsse es ›ja erst einmal übersetzt werden‹, was das koste. Als ich mich – damals noch wahrlich naiv in Punkto Arroganz – ernsthaft erkundigte, in welche Sprache sie es denn zu übersetzen gedenke, um es einem Verlag anzubieten, wir sprächen doch von der hiesigen Verlagslandschaft, nicht wahr? Oder wolle sie es zeitgleich im fremdsprachigen Ausland platzieren? Da erhielt ich die obskure Antwort: Ins Deutsche.

Zum Totlachen. Wäre es nicht derart bedauerlich.

Das Drama beginnt aber nicht jenseits der Weißwurstgrenze, wie dieses Exempel einem suggerieren könnte! Das Drama beginnt bereits in Kärnten in den 1980er Jahren, als man sich der Anbiederung an deutsche Gäste wegen entschloss, ihnen in der Aktion einer Bäckerei »6 Brötchen« zu offerieren. Sie währt bis heute in Salzburg, wenn der Quark auf die Torte kommt, die nichts anderes als eine Topfentorte aus dem Sacher-Kochbuch ist. Das Problem bei alldem sind ja nicht bloß deutsche Deutsch Sprechende, das Problem sind vor allem auch die österreichischen Deutsch Sprechenden, die keineswegs in aller Ruhe ihre Semmel Semmel nennen, den Topfen kaltstellen und ihren Kasten souverän in ihren Wohnungen öffnen und schließen können, befinden sie sich südöstlich von Schärding/Passau; nördlich davon sollte es durchaus ein Schrank sein, wohnt die Protagonistin in Berlin oder Lübeck! Und ist sie nicht eine eben erst Zugezogene – aus Österreich. ›Duktus‹ nennt sich das im Roman – und im Alltag?

Statt ein entschiedenes Veto einzulegen, gegen sprachgeschichtliche Unwissenheit, statt einen Beitrag zur Weiterbildung der norddeutschen Sprachgenossinnen zu leisten, gefallen sich Österreicher*innen offenbar im Verschluckt-Werden durch die Mehrheit. Ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, wir hätten diesbezüglich einen kollektiven Minderwertigkeitskomplex: Mit Sicherheit ist alles korrekter, besser, wahrer nördlich der Weißwurstgrenze. Eine mir unverständliche Haltung, nicht nur weil sie jede Sprachhistorie ignoriert, sondern auch weil ich die Schönheit und den Reichtum der österreichischen Hochsprache und ihrer mundartlichen weiteren Sprachvarianten viel zu sehr schätze, um darauf in der Literatur verzichten zu wollen.

Eine solche Besonderheit ist zum Beispiel die sanfte Weite der Vokale, welche Nonchalance genießt und dieses Wohlgefühl auch gerne kolportiert, statt mit ausgefahrenen Ellenbogen einher zu poltern, und jeden zu puffen und zu knuffen, der zufällig des Weges kommt. Lauschen Sie Oskar Werner, wenn Sie mir nicht glauben, wie herrlich österreichisches Hochdeutsch klingen kann. Das begriff übrigens bereits meine Mutter. Kaum war der gute Herr Werner im Radio zu hören, wurde der Befehl erteilt: ›Still, Mädels, hört zu! Das ist Oskar Werner, der spricht!‹ Und standen »Das Narrenschiff« oder »Fahrenheit 451« am Fernseh-Programm führte kein anderer Film an diesen vorbei, was auch durchaus in meinem Sinn damals war.

Eine weitere Besonderheit ist der Spiegel der Geschichte, die sich in die österreichische Sprachvariante einschrieb und ihr aufgrund von ›tu felix Austria nube‹ (›du, glückliches Österreich, heirate‹) sagenhaften Sprachreichtum brachte. Österreichisches Deutsch wimmelt von ursprünglich böhmischen und jiddischen Wörtern, verweist ab und an auf das Ungarische, zwinkert dem Italienischen zu und karessiert das Französische. Wieso in aller Welt sollten wir darauf verzichten wollen? Schon mein Großvater steckte sein Portemonnaie ein, wenn er über das Trottoir zum Salon seines Bruders ging. Manchmal auch um ebenda, nach erfolgtem Haarschnitt, frappiert festzustellen, er habe – seiner Seel! – keine Moneten darin, was sein Bruder stets als Chuzpe wertete – na warte, dir werde ich es zeigen! Aber Großvaters ›Habe die Ehre!‹ war immer flinker als das Beiseite der Schere, des Kamms, der Bürste: Auf die Mischpoche war eben (kein) Verlass …

Die dritte Besonderheit aber, die dünkt mir einen tiefen Einblick in die österreichische Seele zu geben: Wir haben die Eigenheit, die Sprachschichten zu wechseln, uns da wie dort und überall zu bedienen, sodass in einem Satz in Hochdeutsch plötzlich ein umgangssprachliches Wort vorkommen darf oder in einem umgangssprachlichen Satz ein hochdeutscher Terminus hervorblitzt. Das aber hat keineswegs damit zu tun, dass wir in den Mund nehmen, was uns gerade einfällt, sondern weil jenes eine Wort – Fremdkörper hin oder her –, in jenem Satz just die gewünschte Nuancierung mit sich bringt, eine Betonung setzt, eine inhaltliche Akzentuierung vornimmt. 

Also, liebe Österreicher*innen, schreibt’s euch das hinter die Ohrwascheln, vergesst endlich das dumme Anbiedern, nehmt euch doch ein Beispiel an den Schweizer*innen und bedenkt: Wir hätten ansonsten den Ruf der gelassenen Großzügigkeit zu verlieren! Die Vertreter*innen der deutschen Sprachvariante sind nämlich durchaus ebenso lernfähig wie wir – es dauert bloß ein bisserl länger, wie nachfolgende Magdeburger Alltagsszene zeigt:

Zwei in einer Küche, eine ist damit beschäftigt ein spätes Mittagmahl zuzubereiten.

  • Soll ich dir helfen …?

(Mitten hinein gesprochen in das Rauschen des Wassers. Spülgeklapper.)

  • Magst vielleicht die Fisolen schneiden?
  • Die … Fi-?

(Suchender Blick, Ratlosigkeit.)

  • Na, die Fisolen … (Es dämmert, dass es sich nicht um ein akustisches Problem handelt. Ein bundesdeutsches Pendant mag nicht einfallen.) … dort im Sieb, die grünen Schoten, die neben dem Kasten. Sind schon gewaschen.
  • Ah. – Wie sagt ihr dazu? Fi-?
  • Fisolen. Und ihr?
  • Grüne Bohnen. Fisolen, eigentlich logisch, wie ›fagioli verdi‹ auf Italienisch … Und in Spanien?
  • … die Spanier*innen unterscheiden – ›frijoles‹ für die Bohnen an und für sich, ›judías verdes‹ für die grünen Schoten.
  • Und was sagen die Franzosen?
  • ›Haricots verts‹.
  • Hm. Nur den ›Kasten‹, den verstehe ich nicht.
  • ›Schrank‹ sagt ihr. Und wollen wir Erdäpfel dazu? Die gab es zwar gestern schon, aber …
  • Deutsche können täglich Erd-Äpfel essen.
  • Ösis auch. Beinahe.

(Langsam versteht man einander: Frohgemutes Werken für baldigen kulinarischen Genuss.)

  • Dann rühr ich schon mal den Rahm an. Moment. Den gibt es ja nicht, den Rahm. Bloß Schmand. Geht der auch? Kann man den – kochen?

(Zu diesem Zeitpunkt, unweigerlich: Irritation auf beiden Sprachseiten; wiewohl aus unterschiedlichen Gründen.)

Bevor ich nun aber in den Ruf der Dumas’schen Zeilenschinderei gerate, schließe ich diese Küchentür. Sollen die beiden diese Knochen doch allein abnagen, sie tun es sicherlich noch seitenweise. Außerdem schaut man doch keinem beim Essen auf den Mund, oder? 

Stattdessen sei deutschen Leser*innen das Abenteuer geraten, ihre Kenntnisse deutschsprachiger Sprachgeschichte und Sprache zu erweitern: Vermutlich fände sich mancher Reichtum auch für sie darin.

Nur ein Beispiel: Es ist wohl kaum einzusehen, weshalb ein Wort wie ›Jänner‹ (Erbwort zu mittelhochdeutsch ›jenner‹, entstanden aus vulgärlateinisch ›Iēnuārius‹, welches folgsam alle Lautwandelprozesse durchlief) weniger geeignet sein sollte, die Kälte des ersten Monats im Jahr einzufangen, als der gähnende ›Januar‹, der weitaus später, nämlich erst in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts auftauchte, und seither als alleiniger Herrscher einherschreiten mag …

Alle etymologischen Studien zum Trotz wissen wir aber nun noch immer nicht, was die erste Silbe in Magdeburg soll. Ich habe im Rahmen dieser Kolumne schon einmal darauf hingewiesen, dass  wer, aus dem Schriftbild kommend, sich über die Lautgestaltung dieses Ortsnamens wagt, einen Rüffel riskiert. Dieser trifft unweigerlich auch diejenige, die ganz naiv aus junger, wackerer Maid mit Siegeskranz im Stadtwappen den Schluss zieht, man habe es mit einer ›Magd‹ zu tun, weshalb die gute Frau im Anlaut-[a:] schön offen und lang tönt, je südlicher die Herkunft des Sprechenden ist, je stärker ausgeprägt die Weite des [– a: –]: Man möge ihnen die Unfähigkeit zur ›Mgd‹ lächelnd verzeihen und rufe sich in Erinnerung, der Rest der Welt übe sich noch in hiesiger Knappheit. Irgendwann werden sie es schon lernen …

Mir persönlich gefällt unter allen Bedeutungsvorschlägen zu diesem auffallenden Ortsnamen der augenzwinkernde Ansatz der Magdeburger Sprachwissenschaftlerin Ursula Föllner, die im »Magdeburger Lesebuch« schrieb:

»Bis zur endgültigen Enthüllung des wahren Ursprunges nehmen wir doch einfach an, Magdeburg war eine mächtige Hauptstadt, in der heidnische weibliche Wesen verehrt und geschützt wurden und die von einem Blütenmeer aus Kamillen umgeben war, in dem die Honigbienen fleißig umherflogen. Das ist doch eine wunderbare Vorstellung!«

Sic est! (So ist es!)

IV Von Elefanten, Teufeln und dem hohen C: Oder bis es zur Resonanzkatastrophe kommt!

Stadtschreiberin zu sein, ist in diesen Zeiten eine Herausforderung auf mehreren Ebenen. Zufällige Begegnungen und Gespräche finden kaum statt, und wenn fallen sie knapper aus, tragen stets die Sorge in sich. Ja, der Babyelefant, den man uns in Österreich einbläute, sitzt tief: Halte Abstand, immer so viel, dass mindestens ein Elefantenkind zwischen dein Gegenüber und dich passt, sonst droht Gefahr, sonst bist du selber schuld, wenn … Und im Laufe der Wochen und Monate wuchs er, wurde größer, streckte selbst den Rüssel aus, zwei Meter-Abstand, mindestens, fast schon drei. Da gedeiht kein Recherchegespräch, ist das Gegenüber ein Mensch; und kein Baum, kein Haus, keine Skulptur, die mitten in der Landschaft stehen. Es lässt sich mit diesem Ungetüm an der Hand kein Dialog ›einfach so‹ mithören, und Windböen sowie Regentage erledigen den Rest. Museen oder andere Zufluchtsorte gegen die Unbill der Witterung sind – nach wenigen Tagen offener Türen – mehrheitlich wieder versperrt.

Spaziere ich durch die Straßen der Stadt, dünkt mir manchmal, die Magdeburger*innen seien sorgloser als ich. Oder bloß gelassener, weil sie kein fish-out-of-water sind? Womöglich sehen es die Magdeburger*innen deshalb entspannter, weil ihre Region so lange kaum betroffen war – gut möglich, nicht? Sie quetschen mir jedenfalls mit beiden Händen und freundlichem Lächeln den Babyelefanten bis er zur Gummibadeente. Oft genug habe ich die Maske zu urgieren, komme mir doof vor, wenn ich die Sessel auseinander rücke, sodass zwischen uns durchaus zwei Bücherregale, würdig einer Universitätsbibliothek, passen könnten.

Haben sie – verständlicherweise! – nach eineinhalb Jahren die Schnauze voller als ich, die ja die meisten Monate davon im Allein-Sein verbrachte, die Natur vor der Tür, meine seltenen, realen Kontakte begrenzt auf 3, 4 Menschen, die sich, ihres Berufes wegen, mehrfach die Woche testen lassen mussten, wodurch jeder Dialog so begann: ›Letzter Test heute Früh, bin negativ, wir können also unseren Spaziergang machen …‹, und die Füße stapfen los, über Kies und Wiesenweg …

Das aber kann man keine Fremden fragen!, sage ich am Telefon zu meiner Tochter. Unmöglich, die Erkundigung, wie ihr letztes Testergebnis laute und – vor allem – welches Datum es trage. In manchen Wochen bringe ich es in meiner anwachsenden Elefantensorge auf 6 Mal ›negativ‹, spotte meiner, kann mir dennoch nicht helfen, während sich gleichzeitig die Sehnsucht nach Nähe in die Träume schleicht. Stehe mancher Tage neben mir und frage mich, was da vor sich geht, in mir. Erlebe ich jetzt, was andere in urbanen Räumen in den ersten Monaten durchmachten? Ist es den Medien und ihren ewig geilen Schielen nach höheren Auflagen geschuldet? Dem stetigen Tropfen, dem die österreichische Regierung uns aussetzte, und der nun aushöhlt? Ist es die Dauer? Alles im Verein miteinander? Gerade die in meinem Land erfolgte Infantilisierung der Bürger*innen fördert erschreckend, dass sich der Teufel an die Wand  malt, und wer ihn nächtelang anstarrt, den sollte es nicht wundern, wenn einem der verfluchte Babyelefant seinen Rüssel irgendwann um den Hals schlingt und ordentlich würgt – mindestens einmal täglich. 

Sorgsam entfernen die wunderbar einfühlsamen Hände der Magdeburger Osteopathin meine Halswirbelsäule von ihrem Schmerz, rücken den Atlas dorthin, wo er gehört, nehmen mir etwas Last von den Schultern. Und der junge Apotheker lächelt mich an, als ich mich für den Kauf der nächsten Großpackung zur Befeuchtung der Mundhöhle wieder einmal bei ihm einfinde. »Hartnäckig«, sage ich. Und er: Vielleicht schlage mir diese Zeit aufs Gemüt, das gehe mittlerweile vielen so, die Nachfrage nach Halspastillen sei frappierend gestiegen, und er offeriert mir einige Päckchen einer weiteren befeuchtenden Lutschtablette als kostenfreie Probe, Geschmacksrichtung diese, doch vielleicht sei mir lieber jene, schiebt sie über den Tresen und: Alles Gute, das wünsche er mir. Und ich ihm.

Freundlich sind die Magdeburger*innen, liebenswürdig gar, tauen sie erst einmal auf. Dazu bedarf es manchmal einiger Minuten. Nein, es liegt wahrhaftig nicht an ihnen, dass mich die C-Keule während der letzten April-Tage regelrecht erschlägt, ich weiß.

Es liegt an mir; und daran, dass sich die Gespräche eingeengt haben. Als gäbe es nur ein einziges Thema für den Small Talk des Kennenlernens: Die Krise und wie sie mittlerweile nerve. Ich kann und will es nicht mehr hören. Sondern leben.

Selten wird hinzugefügt: Aber bald komme der Sommer, die Hitze werde helfen. 

Seltener: Und gut sei es, dass ein jeder, der einen Laden betreten wolle, um Druckerpapier oder Hemden zu kaufen, einen negativen Test vorweisen müsse. (Ja, da schaut ihr, liebe Ösis, was? Es dauerte zwar in dieser Stadt weitaus länger bis Tests und Teststraßen verfügbar waren, aber wenn, dann gründlich, sinnvoll, konsequent; statt Panikmache und ›eh alles freiwillig‹, während Fallzahlen steigen und steigen. Es mag einen manchmal nerven, wenn am Montag Schreibpapier nötig, der Mittwoch nach T-Shirts und der Freitag nach Kuverts verlangt, man vor Treffen obendrein auch noch Zuhause zwei Tests am Dienstag und Sonntag zu machen hat, doch sinnig scheint mir dieses System weitaus mehr statt ein schauen wir mal im ›Schau auf dich, schau auf mich‹-Helmi-Infantiliserungskram.)

Noch seltener als selten wird nicht gleich zu Beginn eines zufälligen Dialogs der C-Kram bemüht, sondern gänzlich anderes zur Sprache gebracht: Meine Sprechweise – woher ich denn sei? Ach Österreich, wirklich? Wie schön! Sie liebe dieses Land, sagt mir eine Verkäuferin, während sie meine Artikel zur Immunstärkung scannt. Ginge es nach ihr, hätte sie schon vor Jahren die Koffer gepackt, um in die Alpen zu ziehen, doch leider sei ihr Mann beruflich an Magdeburg gebunden. So warte man auf die Jahre der Rente … 

Noch weiß ich nicht, wohin dieser Dialog uns führen mag, bin ein bisschen peinlich berührt, weil ich mich wahrhaftig freue, dass da eine hinter dem Plexiglas verhangenen Tresen steht, Wunder und Schönheit der Bergwelt besingt. Ich stapfe in Gedanken die geliebte Rax hoch, denke an den Schneeberg und das Mariazellerland, welches ich ihr sogleich zur Erkundigung empfehle, Sommer wie Winter herrlich: Ja, lieber rede ich über das Erklimmen solcher Gipfel, denn über die C-Krisen. Wandere erzählend hinauf; und Skifahren, langlaufen – ich; laufen – sie. Berglaufen, um genau zu sein, darauf bereite sie sich nämlich derzeit gerade vor, habe absurderweise jedoch im Flachland zu trainieren, weil alles andere eben unmöglich sei: Wo solle sie denn in Magdeburg einen Berg herbekommen?

Stimmt. Ist ja flache Weite, wie im heimatlichen Weinviertel.

Ich denke an das ›Grüne Monster‹, auf das ich von meinem Schreibtisch aus täglich blicke. Ein Hügel, nichts als ein Hügel ist es, begrünt, und mit irgendeiner Technik bestückt, die manchmal im Abendlicht diesem grüne Rücken, der gut zu einem Nilpferd passen würde, eine strahlende Aura verleiht: als hätte das Monster einen Heiligenschein. Wer weiß zu sagen, was es ist und hängt die Definition seines Seins nicht immer vom Auge des Betrachtenden ab?

Noch habe ich es nicht erklommen, aber der Mai wird Sonnentage bringen, regenfrei. In wenigen Tagen, fährt die Verkäuferin fort,  hätte sie an den Start gehen sollen, beim Reißkofellauf in den Gailtaler Alpen, aber heute Früh habe sie die Nachricht erhalten: Er sei verschoben – schon sind wir wieder beim Thema. Ich verziehe unter meiner Maske das Gesicht, als bisse ich in den sauren Apfel: Schöne Bergwelt ade … Und dabei bleibt es auch – rundum in diesem Laden; bis ich ihn verlasse.

Verschoben, verschobener, am verschobensten, ja, seit C-Last ist ›verschieben‹ ein steigerbares Verb geworden: Verschoben wurde meine geplante Aktion zum Welttag des Buches am Alten Markt, weil durch Ordnungs- und Gesundheitsamt verboten. Es könnte ja sein, dass sich zufällig 99 Magdeburger*innen erpicht auf ein Buch, welches ihre Abende rettet zur Gruppe zusammenrottet … Meine Argumentation, Bücher seien Lebensmittel, die Distanz durch Bude und Seil zu wahren, finden sie nicht überzeugend. Verschobener ist der Kinostart meiner Doku »Arbeit statt Almosen« über die Lebens- und Arbeitsbedingungen von Künstler*innen, über den Wahnsinn in unserer Arbeitswelt, der lange schon vor C. begann: Wie kann es sein, dass der- oder diejenige, die etwas produziert, am wenigsten dafür bekommt? Sei es die Landwirtin, sei es die Künstlerin. Oder seien es diejenigen, die unsere Zukunft in Kitas und Grundschulen betreuen: die Kinder. Ist sie uns wahrlich weniger wert als ein Wertpapier, dessen Wichtigkeit sich nur in der Vereinbarung einer Druckerfarbe behauptet? Ist sie uns wahrhaftig weniger wert als das zweifelhafte Tun derjenigen, die Volksvertreter*innen sein sollten und tagtäglich darauf vergessen? 

Verschoben – lässt sich auch das Leben verschieben? Vertagen auf irgendwann? Und was macht das mit uns? Insbesondere mit denjenigen, die allein lebend in diese Zeit schlitterten? Wie sollen wir unser Bedürfnis nach Erkenntnis stillen: Das Ich begreift sich vor allem am Du. Wo endet Sorgsamkeit, wo beginnt Unvorsichtigkeit? Mehrfach erzählen mir Menschen in diesen ersten Mai-Tagen, wie sich ihr Traumleben verändert: Von Festen wird geträumt, von Ausstellungen und Konzerten, von Begegnungen und Grillabenden, vom Aufbrechen und andernorts Ankommen, und allen Träumenden ist gemein, dass sie eines wollen: leben. Und keine nächsten Absagen. Auch der Kinostart von »Arbeit statt Almosen« hat abgesagt zu werden, das »Telemann-Sommerfest«, »Rendezvous am Park«. Ich ziehe schwarze Striche durch meinen Kalender, er ist in Trauer; wie ich. Doch wenigsten kann man meine Doku nun im virtuellen Kino des Kulturvereins »Moritzhof« (https://moritzhof-magdeburg.de/arbeit/) sehen …

Von ›Virtuell‹ hat man mittlerweile auch die Nase voll … ich weiß. Was soll ich sagen: Außer, dass es nicht anders geht?

Wir wiederholen uns, in Gedanken, Worten und Werken – ist es unsere Schuld, dass wir diese ewige Wortwiederholung nicht mehr hören können? Nicht mehr hören wollen? In zahlreichen Arbeitssituationen ließen sich dafür vernünftige Lösungen finden, aber der Mensch existiert nicht um der Arbeit willen. Oder so sollte es zumindest nicht sein. Virtuell hilft jedoch im Menschlichen kaum weiter – vor allem nicht, wenn wir uns so schwer tun zu kommunizieren, was wir fühlen … Wie sollen wir nun lernen, mit diesem ewig gehegten Defizit, Menschen zu berühren, ohne sie händisch anzufassen? 

Am verschobensten aber ist meine Antrittslesung, sie wandert von Anfang März mit stetig müder werdenden Schritten Tag um Tag weiter ins Jahr. Zu gerne hätten Norbert Pohlmann vom »Forum Gestaltung« und ich sie mit einem Publikumsgespräch verbunden über die Bühne laufen lassen – warfen nach fast 8 Wochen online das sprichwörtliche Handtuch. Lieber wäre mir der Fehdehandschuh; würde er uns etwas nutzen. 

So kommt es in dieser besonderen Zeit verstärkt zu Einzelgesprächen. Sie sind anders gestrickt, brauchen mehr Zeit. Gehen dafür rascher in die Tiefe. Bekanntschaften entwickeln sich weiter, Freundschaften keimen, Bezüge zu Menschen aus dieser Stadt entstehen, die ich bald schon nicht mehr missen möchte, auch weil sie Halt geben in haltloser Zeit! Mit meiner lieben Kollegin Regine Sondermann erkunde ich die Umgebung der Stadt, vertieft in ernste Dialoge, die sich durchaus sprunghaft gestalten, vom literarischen Feld zu Besonderheiten vor unserer Nase hopsen. Und als alle Köpfe sich auf der Straße wenden, weil sie mich mit einem Jodler aus ihrem Fenster im oberen Stockwerk begrüßt, damit ich nicht weiter die Haustüre verzweifelt suche, um sie mit einem Klingelton zum Spaziergang zu rufen, wünschte ich, ihr mit einem Juchizer zu antworten, bloß ist mir nicht nach Jauchzen. Damit kommt mir auch die Dramaturgin Elisabeth Gabriel, die zudem Teil eines a capella Jodl-Trios ist (www.jodlklub.de), welches uns Alpenländler*innen mit viel Humor auf die Schippe nehmen. Dürfen sie; und das nicht nur weil die Mädels alle österreichische Wurzeln haben, sondern weil sie es können, den Zuhörenden damit zum Lachen bringen. Und das ist gegenwärtig sowieso die beste aller Ideen!  

Nähe entsteht auch im wiederholten Bezug zu Gebäuden, übrigens. Bin gerne am »Moritzhof«, stelle mir sein c-freies Leben vor. Dieser Kulturverein bespielt einen 200 Jahre alten Bauernhof, der mich durchaus an mein Zuhause erinnert, selbst wenn der straßenseitige Gebäudeteil hier einstöckig ist und meiner nur die ebene Erde kennt. Im uneinsichtigen Innenhof erzählen die Biergartentische und -stühle, dass hier im Schatten alter Bäume Menschen einander trafen, vor oder nach dem Genuss eines Filmes, um sich auszutauschen, um miteinander zu sein: Das fehlt uns. Hinterlässt eine schmerzliche Wunde … Nicht zu kaufen, ist dies Miteinander. Nicht zu kaufen, so nennt sich auch eine derzeit gezeigte Ausstellung im »Forum Gestaltung«, eine der wenigen Innenraum-Präsentationen von Kunst, die derzeit gegen Voranmeldung geöffnet ist. »Not for sale« beginnt im ersten Stock, doch packt einen sogleich im Erdgeschoß die kräftig rote »Insel II« (Jens Elgner), die einen Fragen über Fragen an sie stellen lässt, weil man sie unbedingt berühren möchte, ihre Grate, ihre Senken, und sich die Frage stellt, wie sie sich anfühlen wird, aus welchem Material sie wohl geschaffen ist, wie sie tönen mag – und was geschähe, würde man sie dreist erklimmen? 

Um sich zu retten vielleicht?

An meiner Seite mein Gast meiner Gedanken, ich darf dafür die ihren durchwandern, und sie begeistert sich sogleich für »Zwei Berliner Kontrabässe« (Manfred Butzmann), ein Gemälde, das mich unter ihrem neu gefundenen Titel – »Zwei Nonnen von einem anderen Stern« – fröhlich auflachen lässt, denn dieser Titel ist derart treffend, dass wohl nur jemand mit Sinn für Kunst, für Musik und für den Irrwitz, der sich Leben nennt, solche eine Betitelung in sich finden kann. Mir, als Frau des geschriebenen Wortes, hat es außerdem das Ausstellungsobjekt Nummer 1 angetan, nicht des nüchtern beschreibenden Titels »Fragmente und Studien« wegen: In 80 nummerierten Umschlägen aus transparentem Papier sammelte die Künstlerin Johanna Bartl Gedanken, Wahrnehmungen, Studien, Abschriften, Skizzen. Einen »Schreib-Zeichnen-Prozess mit offenem Ausgang«, nennt sie dies. Mich erinnert es an meine Arbeitssammlungen zu allen Projekten, gefüllt mit Notizen, Reflexionen, Skizzen, Kritzeleien,  Recherchen, Bauplänen … Im Gegensatz zu ihren eleganten Umschlängen wandern meine, mit Faden gebunden, in alte Schachteln, ist ein Roman abgeschlossen, eine Erzählung veröffentlicht … 

Wir lassen den Blick schweifen, meine Begleitung und ich, und staunen über die Bereitschaft, zu Lebzeiten bereits solche Einblicke in das Denken zu gestatten. Und während ich neugierig nach einem ersten Umschlag greife, meine Nase hineinstecke, ist meine Begleitung etwas irritiert über mein Öffnen, mein Studieren. Erst im Verlassen des Raumes entdecken wir eine handschriftliche Notiz der Künstlerin, die am Pult neben der Tür aufliegt: Man möge gerne in diesen Reflexionen lesen.

Draußen stürmt der Regen – wir haben keine Eile, dafür eine ganze Ausstellung nur für uns …     

Ähnlich verhält es sich auch im Magdeburger Dom, in dem ich bereits jetzt öfters bin (als ich je im Wiener Steffl war), insbesondere den Kreuzgang liebe ich. Mittig das Grün, weitläufig genug, um Einblicke in das Himmelblau zu gestatten, das Rundum gewährt den Füßen ein Zur-Ruhe-Kommen im kreisenden Gehen, kaum jemand verirrt sich hierher. Ich habe noch eine gute Viertelstunde, bevor die mittägliche Andacht beginnt. Von Montag bis Freitag lädt der Dom nämlich um 12:00 Uhr aufgrund der Pandemie zu einem gedanklichen Input ein, um die inneren Abwehrkräfte zu steigern, um Menschen zu ermutigen. Nicht das C-Unwort steht dabei im Mittelpunkt, sondern all die relevanten Themen unserer Zeit, auf die wir gegenwärtig beinahe vergessen: An diesem Tag, an dem ich mich mit drei weiteren Menschen einfinde, ist es die dringende Notwendigkeit, rasch Schritte zum Schutz unserer Erde zu setzen. Der Hut brennt nämlich lichterloh. Von der Reflexion leitet der ältere Herr am Mikrophon zur Musik über – ein Werk der französischen Renaissance. Selbst wenn es aus der Konserve erklingt, die Akustik im Dom treibt mir die Tränen in die Augen. Wie wunderschön, einmal nicht das Blechern aus dem Computer zu vernehmen! Mir ist dieses Musikstück beinahe ein Konzert. Meine Güte, wie sehr ich das vermisse! Folge jedem Ton, lausche seinem Nachhall, könnte ewig sitzen und nur eines tun: hören.

Zu rasch ist mir diese knappe Pause im Wahnsinn vorbei. Als ich den Dom verlasse, denke ich: ›Genug von diesem Schmarren!‹, und kehre zurück zu meiner ursprünglichen Haltung: Ich verbiete dem Ce seinen Auftritt; wie in »Fragmente: Die Zeit danach«. Das Ce in all seinen Varianten kann mich mal! 

Hoffentlich bleibt es dabei!  

III Was heilig ist

Während der folgenden Nachmittage marschiere ich beinahe täglich los, sei es an die Elbe, sei es durch die Stadt. Oft auch mit einzelnen Bewohner*innen, mit denen ich das Gespräch suche, um Magdeburg und die Magdeburger*innen kennenzulernen, ihre Sichtweise zu eruieren oder um mich mit ihnen über zukünftige mögliche gemeinsame Projekte auszutauschen und Ideen zu spinnen. Anders ist momentan kein Dialog möglich.

Der Vormittag also um zu schreiben, der Nachmittag für die Wahrnehmung, die Abende gehören der Lektüre, den Recherchenotizen, den Korrekturen. Außer es kommt etwas dazwischen – das Leben zum Beispiel. 

Was mich umtreibt, seit vergangenem Oktober schon und nun verstärkt, da ich diese Stadt durchstreife, ist die Frage nach dem Erinnern. Nein, ich meine nicht das Nicht-Vergessen einschneidender Ereignisse, die ganze Orte, Landstriche und Länder erfassten, sondern ich meine den rückwärts gewandten Blick des Individuums, der für mich seit jeher mit Lots Frau verbunden ist: Dieses entsetzte Erstarren über den Zusammenbruch, den Schutt, den man schaut, und im Erstarren sterben. 

Vielleicht weil mir diese Erzählung – in ihrer Angst – nahe geht, und mir das Scherbenstarren an und für sich unverständlich ist. Bevor ich auch nur einmal zurückschaue, blicke ich lieber nach vorne. Es ist das Pläne Schmieden einer Zukunft, welches mich am Leben und am Tun hält; mag sich diese Zukunft nun ereignen oder auch nicht, das dünkt mir irrelevant –  hätte ich vor einem Jahr noch in aller Ruhe gesagt. Derzeit, da die Absage schon Teil des Planens ist, fehlt sie mir, die Ruhe. Was, wenn diese Zukunft so fragil wird, dass sie kaum mehr fassbar ist, sie sich unserem Denken zu entziehen beginnt? Ab wann wankt dann der Boden derart gefährlich, dass sich in die Gegenwart dies Beben einschreibt, sodass jeder Schritt darüber schlingert? Als befände man sich an Deck eines Schiffes bei Seegang, unsicher, ob es je einen Hafen erreicht?

Solches Denken liegt momentan nahe. 

Halte ich mich deshalb fest – an Worten, an Orten? Und hier: der Marktplatz! Eine Birne für den Weg, eine für den Abend, und das Alte Rathaus zur vollen Stunde: Damit ich dort dem Carillonneur lauschen darf: 47 starre Bronzeglocken mit beweglichem Schlegel, die mit Drähten und Winkelhebel mit den ›Tasten‹ eines Stockenklaviers verbunden sind. Keine schwarz-weiß Klaviatur wie sie das Piano aufweist, sondern Holzstöcke, mittels derer die Melodien gespielt werden. Stehe am Platz und lausche, den Blick nach oben gewandt – als könnte ich sehen, was nur lesend zu erfahren ist: Der Glockenschmuck wurde geschaffen von Heinrich Apel, also von jenem Bildhauer, der diese Stadt so entscheidend mitprägte wie kein anderer seiner Kunst. Auf der größten Glocke steht ein Zitat des Autors Erich Weinert:

»Den Gedanken Licht, den Herzen Feuer, den Fäusten Kraft.«  

Weinert kennt hier offenbar jedermann. Mir war dieser Kollege bislang unbekannt. Man möge es mir nachsehen und der Historie zuschreiben. Dafür durfte ich mein Wissen im Literaturhaus Magdeburg erweitern, und den historischen Flyer zur »Gedenk- und Bildungsstätte Erich Weinert« mit leisem Lächeln studieren, aus dessen Silben der Zeitgeist seiner Entstehung um 1980 noch dampft: Ein schönes Dokument, auch wenn ich leise Zweifel habe, ob das »kampferfüllte Leben« wirklich diejenige Erzählung ist, die Literat*innen gerne über sich hören. Sehnen wir uns nicht viel mehr nach der Leichtigkeit sonnendurchfluteter Alleen – gerade weil wir oftmals dazu tendieren, das Leben und seine Angelegenheiten schwerer zu nehmen als andere? Oder wie es eine Magdeburgerin dieser Tage mir gegenüber formulierte: die erhöhte Sensibilität, die einen zur künstlerischen Arbeit befähigt, ist Segen und Fluch. Dem lässt sich nichts hinzufügen. Außer: Wer Weinert noch nicht kennt, der möge mal hineinblättern; oder sich die vertonten Varianten seiner (frühen) Gedichte anhören! Apropos Ohren: Sonntags, wenn die Stadt vormittags etwas weniger dröhnt, kann ich den Melodien des Carilloneurs zu den vollen Stunden sogar in meiner Gästewohnung lauschen. In sie mengt sich das Zwitschern der Vögel, die trotz der eisigen Winde im Verein mit Bäumen und Sträuchern davon erzählen wie grün diese Stadt in Bälde sein wird. Die Frühblüher aus ihren Gewächshauswänden schon nach draußen gebracht: Damit sie uns trotz aller Düsternis der Gegenwart in Erinnerung rufen, wie bunt das Leben sein kann. Dieser Erzählung bedürfen wir in diesem Jahr wohl dringender denn je.

Ja, das Erinnern … – Ist es, weil ich mich erzählerisch mit diesem Thema beschäftige, ist es, weil Magdeburg übervoll damit ist: Die Thematik begegnet mir an allen Orten und Ecken in dieser Stadt. Vom Alten Markt wandere ich in die Gasse rechterhand und um den Block – der Schriftzug »Rauchwaren« lockt mich. Kaum stehe ich im Laden, wächst mir aus dunklem Holz und Tabakduft die Erinnerung an meinen Großvater … und ein Kapitel der Erzählung! Nein, mehr sei an dieser Stelle nicht verraten, man wird es bei der Abschlusslesung hören, es später in Buchform nachlesen können.

Kaum ist die Szene ins Notizbuch gekritzelt, stolpere ich über die nächste Erinnerungsstätte: die Johanniskirche. Wie so viele Orte in dieser Stadt war auch sie dem Erdboden gleich gemacht worden, in jenem Jänner 1945. Apels klagende Mutter, ein Baby, schützend unter ihrem gekrümmten Körper geborgen, erinnert ebenso daran wie seine abgemagerte Trümmerfrau mit ihrer brüchigen Schaufel daneben:

»[…] Drei Jungen hatte sie der Welt gegeben.

Sie ging auf Arbeit schaffte Brot herbei.

Denn ihre armen Jungen mussten leben.

Sie hungerte; es reichte nur für drei.

& als die Söhne endlich groß geworden,

Da holte sie der Staat zum Militär.

Dann rief er auf zum großen Völkermorden.

Sie gab sie als Kanonenfutter her. […]«,

schrieb Weinert zwar bereits 1932 unter dem Titel »Die Lumpensammlerin«, doch könnte es ebenso für den tausendjährigen Wahnsinn gelten.   

Beide Skulpturen, die Mutter ebenso wie die Trümmerfrau, flankieren das Eingangsportal zur Johanniskirche, welches aufgrund seiner Gestaltung allein schon zahlreiche Geschichten erzählt wie sonst kaum ein Tor. Eine soll hier stellvertretend für alle, die rund um das Zerbrechen kreisen, wiedergegeben werden, und zwar diejenige, die sich ebenda in folgenden Worten unter dem ›Mund, der Wahrheit spricht‹ gestaltet: »Wer aber aus der Vergangenheit nichts gelernt und weiter Hass und Zwietracht sät, den klagen wir an!« Zu Hass und Zwietracht wäre gegenwärtig wohl noch ›Profitgier‹ hinzuzufügen, die unsere Erde und Zukunft zerstört …   

Was nach den Bomben am 16. Jänner 1945 von der Johanniskirche noch stand, zerfiel über gut fünf Jahrzehnte langsam vor sich hin. Bis man sich irgendwann gegen das Konzept der Ruine als Mahnmal gegen den Krieg und für den Wiederaufbau der Kirche entschied: Doch nicht als sakraler Raum sollte das Bauwerk in Zukunft genutzt werden, sondern als Kulturstätte und Veranstaltungszentrum. Die »Luther was here«-Tafel, wenige Schritte neben den beiden Frauenskulpturen, scheint mir persönlich eine zu vernachlässigende Erzählung – verglichen mit derjenigen von Schuld und Scham, Zerstörung und  ›Auferstehung‹. Zu Letzterem, zur ›Auferstehung‹ im Diesseits, brauchen wir die Kunst nämlich nötiger denn je. Gerade gegenwärtig, da wir allerorts vor verschlossenen Türen stehen, erhält auch die Kunst, die uns im öffentlichen Raum umgibt, eine relevante Bedeutung. Magdeburg, so ist man versucht zu sagen, ist diesbezüglich ein Eldorado, entschied man sich doch in den 1990er-Jahren dafür, nicht nur den Charakter einer Stadt der Kunst zu forcieren, sondern obendrein diese zahlreich im öffentlichen Raum zu etablieren: Kunst für jedermann und jederfrau quasi. Ein ketzerischer Gedanke sei es, schreibe ich von der Heiligkeit der Kunst?

Diesen Einwand riskiere ich. Des Wortursprungs des Adjektivs ›heilig‹ wegen, denn darin verbirgt sich ›das Besondere, das Verehrungswürdige‹, welches einem heilsam begegnet. Da dies in meinen Augen so ist, schlage ich diese These gerne an jede Tür: »Kunst ist heilig! Ihre Freiheit unantastbar.«

Wenn uns die Kunst, die ja gleichbedeutend mit einem Nachdenken über unser Sein ist, einem Nachsinnen über seine Essenz, nicht mehr heilig dünkt, was dann? Und wenn gleichzeitig dem Konsum alle Türen offen stehen? Nein, es komme mir bitte niemand mehr mit der Aussage, dass in solchen Zeiten die Künstler*innen wenigstens in aller Ruhe arbeiten können! Man muss schon einen hohen Grad an Ignoranz aufweisen, alle Gegenwart ausblenden, um derzeit ›in Ruhe zu arbeiten‹. Mangelndes Echo sowie Zukunftsangst schlagen sich auf die Psyche: Es ist für Künstler*innen gegenwärtig ein Sein im luftleeren Raum. Und dennoch versuchen wir im Hochseilakt unserer Leben, den Rezipient*innen Halt zu geben. #allesdichtmachen als satirischer Aufschrei sorgt in Deutschland gerade für Debatten; auch weil man die ganze Kampagne kaum anders als unglücklich nennen kann. Wie aber der Dialog geführt wird – ›Diskurs‹ möchte ich dies Geplärr lieber nicht nennen –, beweist unwiderlegbar, wir brauchen Kunst und Kultur: dringend! Und Gesprächskultur wäre ein guter Anfang! Um von dort aus ein Kunstwerk, eine künstlerische Intervention mal zuerst zu befragen, nachzudenken, wohl auch unser Kompetenzen in der Satire zu vertiefen, statt den Modus Copy-Paste anzuwerfen und eimerweise Häme auszuschütten. Oder Menschen gar zu bedrohen.

Ulrike Guérot, Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau Uni-Krems gegenüber dem Sender »Deutschlandfunk«: »›Die Kunst ist frei.‹ Das müsse erhalten bleiben. Die Künstler hätten auf die Hysterie im Diskurs um die Corona-Maßnahmen aufmerksam machen und auf gesellschaftliche Gefahren von Grundrechtseinschränkungen hinweisen wollen. ›Ich halte das für völlig legitim‹, betonte Guérot. ›Und wenn man jetzt sagt, wenn das von rechts vereinnahmt wird, dann darf das nicht sein, dann ist genau das das Problem unseres heutigen Diskurses, weil es gibt keinen Raum mehr für legitime Kritik.‹« (https://www.deutschlandfunk.de/debatte-um-allesdichtmachen-guerot-es-gibt-keinen-raum-mehr.694.de.html?dram:article_id=496222) Dem lässt sich höchstens noch hinzufügen, dass vielleicht ein anderes Genre als die Satire heiliger – im Sinne von ›heilsamer‹ – gewesen wäre. Ob auch ›sinnvoller‹, das scheint mir fraglich. Sicher ist: Wer nachdenkt, bedarf eines angstfreien Raumes, den nicht die Sorge um den nächsten Shitstorm begrenzt. Sonst wird alle Reflexion unmöglich.

Diese Maxime ist aber nicht gleichzusetzen mit einem Freibrief für Künstler*innen! Bitte mich in dieser Aussage nicht falsch zu verstehen. Ich bin absolut überzeugt, dass jede Künstler*in hinterfragen soll und für sich zu entscheiden hat, welche Grenzen sie oder er der eigenen Arbeit setzt. Die emotionale Befindlichkeit ›der Welt‹ kann in meinen Augen jedoch keine sein; die Freiheit der umgebenden Menschen hingegen sehr wohl, insbesondere im Hinblick auf Minderjährige. Oder um es exemplarisch zu sagen: Knausgårds Darstellung des Bettnässens seiner Kinder ist unethisch meines Erachtens, es steht ihm nicht zu, sein Kind dazu zu verdonnern, damit auf Dauer herumzulaufen. Kritik an politischen Verhältnissen, an Religionen, am Diskurs oder an der Politik etc. ist hingegen nicht bloß zulässig, sondern ich sehe in diesem Spiegel, den die Kunst unserer Gegenwart vorhält, auch eine der Daseinsberechtigungen und einen der Förderungsgründe von Kunst.

Ich denke an Sylvia Plath, die einst – am 12. Dezember 1958 – schrieb:

»Writing is a religious act: it is an ordering, a reforming, a relearning and reloving of people and the world as they are and as they might be. A shaping which does not pass away like a day of typing or a day of teaching. The writing lasts: it goes about on its own in the world. People read it: react to it as to a person, a philosophy, a religion, a flower: they like it, or do not. It helps them, or it does not. It feels to intensify living: you give more, probe, ask, look, learn, and shape this: you get more: monsters, answers, color and form, knowledge. You do it for itself first.« (The Unabridged Journals)

Ich bin also mit meinen ›ketzerischen‹ Gedanken über die Heiligkeit der Kunst in guter Gesellschaft. Auch für Sylvia Plath schloss sich daran die Reflexion an, wie mit diesen Dämonen und der Unsicherheit eines solchen Seins zu leben sei; doch schlimmer, schlimmer als all diese Unbill sei es, ohne das Erzählen zu leben, schließt sie, und während ich die Kirche einmal, zweimal umrunde, den kalten Winden trotze, bildet sich langsam aus all dem die erzählerische Gegenwart des nächsten Kapitels … Meinem Erschrecken über den gespenstisch Erhobenen geschuldet, der sich drohend aufzurichten scheint und mir an diesem Nebelnieseltag zu plötzlich auftaucht, sich beinahe dämonisch erhebt. Erst im näheren Betrachten und in seiner Benennung – »Gekreuzigter« – erkenne ich, was er meint und weswegen er wütet: Das bekannte Marterinstrument ›Kreuz‹ fehlt dieser Skulptur von Fritz Cremer nämlich, wodurch sie gänzlich anders wirkt als gewohnt. Oder um es mit Plath zu sagen: Kunst ist dazu da, durch Irritation eine neue Sichtweise zu gewinnen.

Umrunde ein drittes Mal diese ehemalige Kirche, staune über die Glocken, die am Boden ruhen, bewundere ihre reichen Verzierungen. 

Durchfroren wandere ich zurück in meine Gästewohnung, an Einkaufszentrum 1 und 2 vorbei, um bei Shopping Mall 3 die Straße zu queren.

Das war übrigens eine der ersten Erzählungen dieser Stadt, die ich frappiert wahrnahm: Dass mitten im Zentrum sich ein dem Konsum geweihtes Haus an das andere reiht. Wer soll ihre Existenz finanzieren? Offenbar gibt es hier deren genug.

Und wenn ich nun anmerke, dass sich gleich neben einem solchen Konsumtempel eine Tafel findet, die davon erzählt, dass hier einst eine Kirche stand – St. Ulrich –, so könnte man lesend daraus eine Kritik an den Verhältnissen schließen, doch nicht deshalb sei es notiert, sondern weil es auffällt! Städteplanerisch mag es sinnvoll sein, die Menschen zum Stillen ihrer Kauflust nicht einzig an die Ränder der Stadt zu schicken, sodass belastete Luft und zubetonierte Flächen vorprogrammiert sind, Hand in Hand mit einem Aussterben der Innenstadt, einem Leerstand der alten, kleinen Läden. Visuell sind wir Shopping Mails in Innenstädten jedoch kaum mehr gewohnt. 

Einer erzählte mir, die Magdeburger seien bezüglich des Einkaufens auch noch in einem anderen Punkt ein wenig eigen: Wenn ihnen ein Laden zusage, sie ihn seit Jahrzehnten schon kennen, dann bleiben sie ihm treu; umso mehr, wenn er sich in ihrem Kiez befindet. Der Juwelier, bei dem schon die eigenen Eltern einst die Eheringe gekauft hätten, der Optiker, zu dem man immer schon gegangen sei, die frequentiere man, bis Eindeutiges ganz entschieden dagegen spreche, denn nichts könne mehr taugen als das Altgewohnte und sowieso sei früher alles besser gewesen: Das sei die Magdeburger Form des Erinnerns, und er als echter Magdeburger durch und durch dürfe das sagen: Home is were the Dom is …

Nicht weil man religiös sei, nicht weil man sich diesem sakralen Raum so verbunden fühle, sondern weil er schlicht und ergreifend die Stadt mit seinen 101 Metern überrage, die Türme von überall zu sehen seien. Dass dem bis heute so ist, hat die Stadt der Tatsache zu verdanken, dass ein Bauvorhaben ›für verdienstvolle Arbeiter‹ der DDR für das Areal, auf dem heute ein Konsumtempel steht, nie umgesetzt wurde: Ein Wohnpalast mit allem Pipapo sollte errichtet werden. (Den Ösis unter den Leser*innen sei geflüstert, dass ›verdienstvoll‹ hier im Parteisinne und -gehorsam zu verstehen sei …)

Selbst wenn sich ein Magdeburger, eine Magdeburgerin entschlösse, Jahre auswärts zu leben, käme man zurück, sehe man den Turm des Doms, dann sei man Zuhause. Er lacht mich an, über seine Maske hinweg, streicht sich die Haare aus der Stirn: Das könne man als Ortsfremde wohl nur schwer verstehen, oder?

Der Dom – als Symbol für Heimat, Zuhause, Verbundenheit? Ja, sonderbar für eine Österreicherin. Betritt man ihn, kommt er einem protestantisch, bis sich die Apsis katholisch bildet, um an der Seite, im sogenannten Paradiesportal einen Dialog über Jahrhunderte zu führen: Dass man dort einst die Synagoga blind schuf, die gekrönte Ekklesia siegreich und triumphierend, stieß manchen (und aus heutiger Sicht verständlicherweise!) sauer auf. Dabei gestaltete sich das Nebeneinander der Religionen bis ins 13. Jahrhundert zwar nicht unkompliziert, doch ohne Pogrome, da Kaiser Otto der Große, der diese Stadt bis heute prägt, im Jahr 965 die am Rand des Dombezirks lebende mosaische Gemeinschaft ebenso wie die Kaufmannschaft allgemein unter den Schutz des Erzbischofs stellte. Einen Bund den Otto II. 973 erneuerte. Die ersten Erzbischöfe fühlten sich dem auch verpflichtet, und 1207 dankte Erzbischof Albrecht von Käfernburg bei seinem Einzug in Magdeburg den Ältesten nicht nur für ihren Willkommensgruß, er küsste auch eine der Thorarollen. Nach seinem Tod 1233 wandte sich jedoch das Blatt. Davon erzählen zuvor erwähnte Sandstein-Statuen Ekklesia und Synagoga, die 1240 errichtet wurden: Ekklesia thront stolz auf der Seite der klugen Jungfrauen, Synagoga hingegen demütig geneigt, die Gesetzestafeln drohen, ihr aus den Händen zu gleiten, auf der Seite der Törichten,deren Wehgeschrei trifft vernehmbar das Auge des Betrachtenden. Die lachenden Klugen aber kichern mir so dämlich, dass ich sie schon ihres Anblicks wegen dorthin wünsche, wo der Pfeffer wächst. Was hat sich der Skulpteur bloß dabei gedacht? Er hat wohl nie eine kluge Frau herzhaft lachen sehen, wenn er uns dies doofe, schadenfrohe  Gegrinse als ›glückselig‹ verkaufen will!

Auch der Engel, dessen Gesichtsausdruck als ›Magdeburger Lächeln‹ in die Kunstgeschichte eingeht, und der einem auf dem Weg um die Apsis zum Paradiesportal begegnet, hat in meinen Augen ein Lächeln der Häme auf dem Gesicht, wie er so neben Maria steht, deren Bauch sich schon wölbt, während sie noch davon plappert, dass sie doch sicher gar nicht schwanger sein könne, woher denn auch, hat sie doch noch nie … Der Engel aber scheint sich seines zu denken und grinst hämisch vor sich hin. Ja, zweideutig ist sein Gesichtsausdruck …

Was will es uns nun erzählen, wenn wir das als ›Magdeburger Lächeln‹ benennen? Dass man hier lieber über das Wissen schweigt und hämisch grinst – wirst es schon noch sehen, dass ich Recht habe? Ich weiß nicht. Deckt sich nicht mit meiner Wahrnehmung der Magdeburger*innen. 

Die Botschaft von Ekklesia und Synagoga hingegen ist klar:

Wer das Judentum herabsetzt, hat den Segen der Kirche. Damit begannen Jahrhunderte der Vertreibung. Die Pest war ein guter Vorwand (1349), jede Gelegenheit zum Schröpfen (1384, Erzbischof Albrecht III) und zum Schüren antisemitischer Ressentiments wurde genutzt (1492, ein Jude zu Pferd, das Tier scheut vor einem Mönch, der bei nächster Predigt wettert und damit Vertreibung in Gang setzt) – 1493 waren auch die letzten Magdeburger*innen jüdischen Glaubens aus dem Stadtgebiet verjagt – nachdem man sie zuvor gezwungen hatte, ihr Hab und Gut zu veräußern. Erzbischof Ernst von Sachsen gebührt die Schande dieser Tat. Damit nicht genug: Aus Judendorf (im Südwesten der Stadt, das Viertel heißt heute Sudenburg) wurde Mariendorf, die Synagoge eine Marienkapelle, die Gedenksteine vom Friedhof entfernt, zum Bauen verwendet. Und der Erzbischof ließ sich unrühmlich ein Grabmal errichten, vor den er sich einen siebenarmigen Leuchter, in Anlehnung an die Menorah, stellen ließ: Was einst der Leuchter der Bundeslade wird nun zum Symbol der sieben Gnadengaben des heiligen Geistes: Weisheit, Erkenntnis, Einsicht, Rat, Stärke, Frömmigkeit und Gottesfurcht. Wie zynisch. Zynisch genug? Mitnichten. Für eines der Kapitelle wurde obendrein ein ›besonderer Schmuck‹ erdacht, ein Spottbild: Das im Weltbild der Jüdinnen und Juden unreine Tier Schwein ist als Sau abgebildet, umringt von Jüdinnen und Juden, von denen einer sogar an ihren Zitzen saugt.

Die Historie der Verhöhnung, des Vertreibens und Mordens endet nicht damit wie wir alle wissen. Am 1. September 1934 sprang Sophie Masting, Frau eines Kaufmanns vom Nordturm des Domes in den Tod. Ihrer gedenkt heute einer der zahlreichen Stolpersteine in der Stadt. Und eine Inschrift, die aus dem »El male rachamim« zitiert: »So berge sie doch Du, Herr des Erbarmens, im Schutz Deiner Fittiche in Ewigkeit.« Weil wir versagt haben.

Rund 150 Stolpersteine mahnen in Magdeburg unser Erinnern ein, die hinter den Namen seienden Gesichter und Lebensgeschichten kann man im Alten Rathaus im Eike-von- Repgow-Saal (benannt nach dem Verfasser des »Sachsenspiegels«) nachlesen. Der Magdeburger Designer Ernst Albrecht Fiedler, einer der Initiatoren dieser und anderer Erinnerungsmahnungen, ließ mich nicht nur einen Blick in die dazugehörigen Mappen werfen, sondern sprach mit mir lange über die Thematik. 

Stolpersteine als Kunstwerk bringen uns bewusst aus dem Takt. Vielleicht stärker als das Denkmal der Alten Synagoge von Josef Bzdok, an welchem ich beinah vorbeilief auf der Suche nach ihm – ein Türrahmen, eingebrochen beinah, nur das Buch, auf dem er ruht, verhindert den Einsturz. Auf den Buchseiten des Kunstwerks wird erinnert – an »287 unschuldige Opfer«, nämlich die Kinder; und an andere »Magdeburger jüdischen Glaubens«, die dem Naziterror zum Opfer fielen. 

Und im Dom, im Paradiesportal: 

»Verschmähte Schwester Synagoge, vergib unsere todbringende Blindheit. Ohne Ende gilt Gottes Verheißung dir wie uns.« 

Dass man sich im Dom  für das mahnende Erinnern entschied, lieber auf ›Judensau‹ und Leuchter hinweist, statt diese zu entfernen oder verschämt zu verbergen, spricht für sich: Man setzt bewusst auf Wissensvermittlung, in Führungen, Flyern und Bodentafeln, um ein Bewusstsein zu schaffen, will den Bau einer neuen Synagoge – auch als Zeichen des Dialogs – fördern, statt Historie fürderhin unter den Teppich zu kehren.

Ich denke an die Ansammlungen der Konterfeis, die gegenwärtig Laternenmasten zu erweitern beginnen, Gesichter und Slogans stehen zur Wahl. Wie allerorts in Europa finde sich auch hier diejenigen, die nach wie vor und vorzugsweise ein Wir versus Die-da beschwören. Möge man die Lehren, die sich allerorts in dieser Stadt abbilden und die mahnend erinnern, beherzigen, wenn man das Kreuz auf dem Wahlzettel macht; und dies nicht nur hier, sondern auch anderswo!

II ›Schatzi‹, ich bin in Magdeburg

Am Schreibtisch bin ich Teetrinkerin aus Passion. Arbeiten, nachdenken, die Hände um eine Tasse Kräutertee gelegt, ein Schluck – und weiterschreiben, weil sich eine Idee bildete, aufstieg, aus dem duftenden Getränk. Was im Frühsommer im Kräutergarten des »Arthofs« geerntet wurde, getrocknet an den alten Dachbalken des Hauses, gerebelt in große Teedosen, die Mischungen zusammengestellt in den kleinen … Mitgebracht nach Magdeburg für die erste Zeit – der »Gute Morgen!«, »¡Concentrate! für den Schreibtisch und »Licht ab!«. Doch was diesem Haushalt-auf-Zeit, den ich bewohne, entscheidend fehlt, ist eine Teekanne. Kochtopf und Suppenschöpfer sind nicht wirklich ein schreibtischfreundlicher Ersatz, und Schwenk-Schütt noch weniger. So führt mich am ersten Tag nach der Quarantäne mein Weg in das nächstgelegene Einkaufszentrum: Es wird doch wohl einen Laden für Küchenutensilien darin geben!

Nicht nur das, sogar einen für Tee. Somit habe ich nach drei Minuten die Qual der Wahl zwischen dreißig Kannen:

Na, das kann dauern … 

Entscheidungen sind immer schwierig, und diese Kanne solle mich doch auf Jahre begleiten, an Magdeburg erinnern, an diesen Tag. Vorausgesetzt: Ich lasse sie nicht fallen, im Ganzen oder in Teilen – im Zerbrechen von Kannendeckeln bin ich nämlich ein Genie. Das schaffe ich in der Windeseile eines Monats. Weil ich als Körper im Raum der Küche stehe, in der Wahrheit des Inneren aber in einer anderen Zeit, in einem anderen Zimmer, mitten in einem Erzähluniversum: ein ganz anderer Mensch. Da fallen dann schon mal Deckel aus der Hand oder Tassenhenkel überstehen den Rand des Spülbeckens nicht. Dann werden Blumenvasen und -töpfe daraus, begrenzen die Kräuterbeete … 

Hier in diesem Laden gibt es große und kleine Kannen, farbenfrohe und edle, zweckmäßige und originelle, mit Tassen und ohne – Himmel, wie soll man da die Richtige finden? 

Über meine verzweifelt erhobenen Hände kommen die Besitzerin und ich ins Gespräch, das uns sehr rasch zu der Frage führt, was eine mit solcher Aussprahe zu dieser reiseunfreudigen Zeit just nach Magdeburg führe, wenn die Kanne danach wieder bis nach Österreich reisen solle, die Bahn überleben, irgendwann, im Herbst: Was bitte mache so eine wie ich im Besonderen und eine Stadtschreiberin im Allgemeinen? Hätte diesen Posten nicht lieber ›eine aus der Stadt‹ erhalten sollen? Bevor ich eine Entgegnung artikulieren kann, schiebt sie nach: Ich möge dies bitte nicht falsch verstehen, aber – eine von hier: Die kenne sich doch aus!

Stimmt. 

Wohingegen eine wie ich … 

… wie der Ochs vor dem Tor steht und keine Ahnung hat: Ja. Daran ändern auch vorherige Lesereisen nach Deutschland nichts, denn der Alltag im Hierleben ist eben etwas gänzlich Anderes als eine Lesetour. Auf der versucht man nicht zu eruieren, ob Altpapier und Karton in getrennte Container wollen, sucht nicht den Gelben Sack oder eine ebensolche Tonne, ja, weiß doch der Himmel, wohin das Plastik soll! Man verwirrt sich in der Kürze solcher Ortsaufenthalte auch nicht über fremde Türöffnungssysteme: In dieses wird mich freundlicherweise ein junger Herr einweisen, als ich mal wieder, Gemüse in der Schultertasche links, Obst in der Schultertasche rechts, am Rücken die Korrekturen, die ich zuvor im Park machte, an der Haustür werke: Linke Hand legt den Schlüsselbund auf den Knauf unter der Schnalle, schon läuft die Brille oberhalb der Maske an, rechte Hand dreht den Knauf und zieht an der Tür – bitte nicht zögern, sonst geht das ganze vermaledeite Sperrspiel von vorne los. Ich könnte dieses feinmotorische Wirrsal durchaus ein wenig einfacher haben, würde ich den Schlüssel auf dieses Feld mit den Rillen auf die Klingelleiste legen, sagt der Mann hinter mir – sinngemäß, und dass er sich ja nicht einmengen wolle, er meine es nur: gut. 

Und Recht hat er.

So wird ja aus dem Rechts-Links-Gemurks ein Kinderspiel, antworte ich, mich für mein Unwissenheit entschuldigend, woraufhin er sich für seine Einmischung entschuldigt – na, da treffen zwei Entschuldigungsfreudige aufeinander, im jungen Inder und in der Österreicherin!

Wer fremd ist, sich erst alle Systeme erarbeiten muss, der nimmt auch mehr wahr, weil er oder sie eben als Ochse vor dem Tor steht. Oder als Ochslein, denn mit breitschultrigem Riesenbau kann ich wohl nicht aufwarten. Sie oder er hat wenigstens  an und für sich die Chance, einen Blick von außen zu werfen, wird Begegnungen herausfordern, schon allein durch den Versuch der Orientierung, wird anders zugehen – auf den Ort, den sie nicht kennt, auf die Menschen, um dann darzustellen, was die Einwohner*innen bewegt, was in ihnen vorgeht, was das Besondere an dieser Stadt ist.

»So, so …«, sagt die Teeladenbesitzerin. 

Wie schwierig sich dies gegenwärtig gestalte, da einzig ein fortwährendes Tête-à-Tête im Spaziergang möglich sei, keine Gruppen, kaum Zufallsbegegnungen, selbst das im Vorbeigehen lauschende Ohr ist einschränkt; weil ewig der zum Halbstarken angewachsene Babyelefant zwischen Dir und Mir grüßt, wann bitte dürfen wir dem endlich die Luft rauslassen, damit wir wieder eine haben? Darüber schweige ich lieber.

»Aber wie wird denn so eine ausgewählt, eine Stadtschreiberin?«, fragt die Hüterin der Kannen samt ihrer Deckel.

Na, man reiche eine Bewerbung ein, diese werden einer Jury vorgelegt, und die entscheide sich dann eben für eine Person; dieses Mal halt für mich. 

Die Ladenbesitzerin nickt versonnen, hält plötzlich mitten im Nicken inne, strafft die Schultern: 

»Also: Was die Menschen bewegt«, wiederholt sie – »das ist doch derzeit vor allem eines, nicht?« 

Verstummt. Nickt nochmals. 

Fragend hebe ich die Augenbrauen. 

»Überleben!« 

In dem Wort steckt alles; und als habe es einen Damm gebrochen, beginnt sie zu erzählen, wie die Situation so sei, für die Kleinstunternehmer*innen, die Selbstständigen, die angewiesen sind auf ihr Einkommen und ohne Polster im Rücken an einer ersehnten Zukunft werken.

Was ihnen ja auch gegenwärtig möglich sei, fügt die Ladenbesitzerin hinzu: das Arbeiten. Sie dürften ja offen haben, ihre Ware verkaufen; und weil sie es dürfen, tun sie es auch, Unterstützung gäbe es folglich keine. So sehe das der Staat. Dass weitaus weniger Leute in die Läden kämen? Dass – wie in ihrem Fall – keine saisonalen Märkte zu Weihnachten und Ostern veranstaltet werden können, dieses Marktfahren aber ihr Haupteinkommen sei? Dafür könne der Staat nichts; in seinen Augen. Also was tun, nach einem Jahr ohne Marktgeschäft – und wer wisse schon zu sagen, ob es heuer einen Adventmarkt geben wird? 

Deshalb habe sie in diesen kleinen Laden hier, im Einkaufszentrum, als Ersatz angemietet, in die Regale und Aufsteller investiert, damit nicht alle Einkünfte ausfallen, aber das … sei kein Arbeiten. Es fühle sich nicht so an. ›Arbeiten‹, das bedeute für sie frühmorgens aus dem Bett, noch im Dunkeln los, am Marktplatz im Heute-hier,morgen-dort den Stand aufbauen; die Gemeinschaft mit den anderen Budenbesitzer*innen. Das Miteinander gehöre ebenso dazu wie die Witterung, die Kälte, deretwegen man eben am Stand darauf achte, sich ständig zu bewegen – das Standlerinnenleben verlange viel, auch körperlich, vor allem im Winter.

Ich nicke – ja, natürlich hat das Budenleben der Aussteller*innen nichts gemein mit Ladenhocken. Ich war oft genug mit dabei, um das zu wissen, da mein ehemaliger Mitbewohner vier Jahre lang auf Märkte fuhr. So bot es sich an, ihn zu begleiten: Bücherkoffer auf die Budel. Wenn wir Künstler*innen schon unsere Haut zu Markte zu tragen haben, dann doch bitte wenigstens richtig; und verbunden mit Gesprächen am Stand, seien die neugierigen Nasen nun Leser*innen oder andere Marktfahrer*innen.

Den Zusammenhalt der Ausstellenden habe ich sehr zu schätzen gelernt während jener Jahre, diese kleine Wirtschaftswelt, in der man weiß, dass man einander Konkurrenz ist und das eigene Überleben trotzdem nur in Kollegialität funktionieren kann: Schließlich braucht ein jeder mal den Austritt, wird vom Hunger geplagt oder bedarf nötiger Informationen, denn es ist gut zu wissen, was dem Bio-Tom letzte Woche in der Bezirksstadt passiert sei … Während des Plausches geht der Warentausch von Stand zu Stand leichter, die Wollsocken für mich gegen das Buch für die Lebensgefährtin …

Irgendwann gewöhnen sich auch die Passant*innen daran, dass neben Bio-Gemüse und Schaf- oder Lama-Produkten, Bauernbrot, Holzspielzeug und Honig auch ein Bücherstand zur geistigen Nahversorgung angeboten wird … meine Güte, warum nicht? Keinem fällt dabei ein Zacken aus der Krone, ab und an auf dem Markt zu stehen! Und aus ihrem Perplex-Sein entstand oft ein Gespräch über das Nachtkästchen und was darauf liege, über Lektürevorlieben und Lebensträume …

Thomas Bernhard ist übrigens schuld daran. Er warf seinem Verleger Siegfried Unseld mal unwirsch an den Kopf,  was sei der denn für ein Verleger, wenn er in sage und schreibe drei Jahren nicht mehr als 1.800 Exemplare von der »Verstörung« verkaufe, diese Zahl sei ja alleine »[…] so absurd, daß das kein Mensch glaubt, wenn ich das sage.« Wäre er mit einem Rucksack voller Bücher losgezogen durch die Lande, hätte er in vier Wochen sicher mehr verkauft.

Vielleicht kann nicht ein jeder und eine jede nachvollziehen, weshalb ich über solche Aussagen herzlich lachen kann, die Verleger*innen wahrscheinlich eher nicht. Mein Bücherkoffer ist jedenfalls ein Resultat aus Lektüre, Gelächter und Lebenszufall; wie so oft in der Inspiration kommt eines zum anderen und fügt sich zu einem Dritten. 

Das Marktfahren, sagt die Hüterin der Teekannen und -mischungen, habe sie herausgefordert. Ja, durchaus. Doch nun, seit sie ganztags hier im Laden stehe, da habe sie plötzlich »einen Rücken«. 

Ich gucke verdutzt. 

»Ja, ja! Das können Sie mir schon glauben!«

Bevor ich noch erwähnen kann, dass ich nicht verstehe, was sie damit meine, schließlich habe sie ja wohl tagtäglich ›einen Rücken‹, fährt sie fort: Sie könne doch nicht stundenlang die Regale putzen. Oder tagtäglich alles von links nach rechts, von rechts nach links räumen, nur damit sie in Bewegung bliebe! Seit sie jedoch hinter der Ladentheke hocke und den ganzen Tag warte, tue ihr alles weh, jeder einzelne Knochen!

Nun erst verstehe ich, was sie meint!

Verschluckt man hier das Weh – ist das nur ihre persönliche Sprachform? Oder hat man in Magdeburg einen Rücken, einen Kopf, einen Nacken? So wie in dieser Stadt jede unbekannte Frau im öffentlichen Raum eine ›junge Frau‹ ist? Sie glauben mir nicht? Na dann, kommen Sie nach Magdeburg! Gehen Sie in eine Apotheke, und während man dort Ihre Kräuter mischt, treten Sie wartend beiseite, verharren, halb verdeckt, hinter einem Regal, schon werden Sie es hören: ›Ah da ist ja die junge Frau!‹

Beim ersten Mal schrieb ich es noch dem Wintermantel, der riesigen Kapuze, dem breiten Schal zu – was war denn schon zu sehen, außer einem paar Augen über einer Maske? Auf jeden Fall nicht die zahllosen weißen Haare, die mir das vergangene Jahr bescherte. Ich hätte diese Ansprache sicherlich vergessen, wäre ich nicht wenige Tage später auf Ingwersuche im Supermarkt neben zwei älteren Herren zu stehen gekommen, von denen der eine zur Eile drängte, während der andere ratlos von dem Einkaufszettel in seiner Hand zu den ausgebreiteten Äpfeln blickte: ›Die junge Frau, die kann uns sicher sagen, wie der Elstar schmeckt! Ist das ein guter Apfel?‹ … 

Ob der ältere Herr in österreichischer Ehrlichkeit in Magdeburgs ›Unbeholfenheit‹ gleichfalls ein ›jüngerer Herr‹ würde, das kann ich Ihnen nicht sagen, nur dass mir zwei eingefleischte Magdeburger die ›junge Frau‹ damit erklärten: Es sei eben eine gewisse, ja, Unbeholfenheit, im Dialog mit unbekannten Menschen. 

Freuen wird die Verjüngungskur den älteren Herren wohl genauso wie die ältere Frau, nicht wahr? Also, wenn Sie in reisemöglicher Zukunft mal Ihr weißes Haar und die Falten des Alters nerven, tun Sie sich selbst etwas Gutes: Stopfen Sie alles in einen Koffer und auf nach Magdeburg! Ich verspreche Ihnen: Es hilft!

Wegen des Rückens, sagt die Ladenbesitzerin, habe sie sich jedenfalls einen Hula-Hoop-Reifen gekauft. Weil sie dachte, dann können sie »im Kreisen ein bisschen was davon abbauen«, aber um die Wahrheit zu sagen: Genutzt habe der Hula-Hoop bislang nichts, rein gar nichts. Der Schmerz sei nach wie vor ständiger Begleiter. Dabei klinge das doch logisch, oder? So ein bisschen Kreisen, hinter der Budel, da sehe das ja keiner, und schon führt sie mir ihr imaginäres Hula-Hoop-Schwingen vor, ja, ja, ich solle ruhig lachen, und abwechselnd wischen wir uns die Lachtränen zwischen Brillen- und Maskenrand ab. Selbst haltloses Gelächter ist gegenwärtig ein komplexes Vergnügen.

Ihr Mann, der habe von Anfang an über ihre Idee gespottet habe, jetzt lache sie halt mit ihm, denn was tun, mit dem Reifen, der ewig nur hinunterfalle? 

Ich schlage ihr vor, sie könnte ihn ja unter einen Luster hängen und die Osterdekoration daran befestigen; für Weihnachten und ein paar Christbaumkugeln tauge der sicherlich auch.

Da erklärt mir die Ladenbesitzerin in typischer Magdeburger-Trockenheit, dass der Hula-Hoop-Reifen eh zu zerteilen sei und als Viertelkreis leicht im Kasten verstaut werden könne. 

»Na dann …«, antwortet mein wienerisch beeinflusstes Ich.

Und welche Teekanne nehme ich nun? Greife nach der ersten, die mir ins Auge stach, gleich als ich hereinkam, der Bordüre aus Lavendelblüten wegen.

Soll ich ihr sagen, dass ich glaube, dass die Sorge darin sitzt, im Rücken? Dass es nicht am plötzlichen Wegfallen der Umtriebigkeit liegt, sondern vielmehr am ewigen Kopf-hoch: Und noch ein bisserl lächeln, noch eine Idee gebären, noch immer Optimismus verströmen – weil es ja weitergehen muss, weil es halt immer weitergehen muss, weil es eben irgendwie immer weiter …? Während uns allen dieses Kopf-hoch die Kraft aus dem Leib frisst, ewig hungriges Etwas, das es ist?

Stelle die Kanne auf die Ladentheke, eine Tasse daneben, Nachmittags-Teemischungen. Versorgt.

»Sie haben meinen Tag gerettet«, sagt die Frau zu mir, während sie die Rechnung in die Kassa tippt. Und Sie den meinen, denke ich, in Erinnerung an unser Tränenlachen: Es tat schlicht gut und war jeden Cent wert.

Anderntags – ich stöbere durch einen kleinen Laden in einer Seitengasse – auf der Suche nach einem Geburtstagspräsent für meine Mutter, als die Tür mit viel Schwung aufgerissen wird, bevor ›eine junge Frau‹ (im Magdeburger Ton), völlig außer Puste hereinstürmt: »Bin ich froh! Danke, dass Sie offen haben! Ich brauche ganz dringend ein Geschenk, und bei Ihnen habe ich immer etwas gefunden …«

Mein Blick gleitet zur jungen Verkäuferin: Man muss nicht sehr genau schauen, um zu bemerken, dass sie diese Anrede und die damit verbundene Anerkennung ehrlich freut; nette Worte, spontan geäußert, die keinen etwas kosten und dennoch so viel wert sind. Mehr als der Schein, den die Kundin am Ende neben die Kassa legen wird. Ich frage mich, wieso kann es nicht immer so sein? Bedarf es dazu wahrlich einer Pandemie, dass wir einander mit ein paar freundlichen, wertschätzenden Sätzen gegenseitig den Tag erleichtern?

Offenbar: ja.

Ich setze meinen Weg fort, will die Buchhandlung »Fabularium« aufsuchen, um mit der Besitzerin eine Veranstaltung zu vereinbaren. Das »Fachgeschäft für wohlsortierte Buchstaben«, wie sich der Laden untertitelt, lässt mich schmunzeln. Ich erkundige mich, wie es ihr denn so gehe, in dieser für den Handel schwierigen Zeit – selbst wenn die deutschen Buchhandlungen kein Betretungsverbot erhalten hätten wie ihre österreichischen Kolleg*innen. Sie sei verblüfft und dankbar wie treu ihre Kund*innen in diesem Jahr waren; bewusst hätten sich viele gegen die Bestellung im Internet entschieden, weil der kleine Laden um die Ecke ihnen als Ort wichtig sei, sie ihnen – als Mensch – wichtig sei. Diese Wertschätzung zu erleben sei ungemein berührend, schenke auch ein wenig Leichtigkeit, und davon könnten wir derzeit ja wohl kaum genug bekommen, oder?

Es geht eben nicht nur um das wirtschaftliche Überleben, es geht auch um Zuspruch, Achtung, Wertschätzung. Gut möglich, dass den Rücken auch das schmerzt – ein neuer Ort, mitten in einer Shopping Mall, und kein Alle-Jahre-wieder, hier-auf-unserem-Weihnachtsmarkt: Wie schön, dass du da bist …!  

Während ich dies schreibe, die eine Hand um die Teetasse mit Lavendelblütenmuster gelegt, steigt langsam sich kringelnd Dampf auf: »Schatzi« heiße die Mischung, die sie mir empfehle, sie werde mir mit ihrem feinen Duft nach Orangenschalen gut tun, und die Erinnerung bringt mich zum Lächeln. Nehme einen Schluck: weiterschreiben …

I Und hinter tausend Stäben [k]eine Welt

01.–07.03.2021

Ankunft in der Dunkelheit. Für jemanden, der sich überwiegend an jenen Geschichten orientiert, die visuelle Merkmale erzählen, kann das durchaus zu Desorientierung führen. Ich hänge während der ersten Tage irgendwo in der Luft; schwebe zwischen Magdeburg, dem niederösterreichischen Kleinbaumgarten und Wien, der Stadt, in der meine erwachsenen drei ›Kinder‹ mit ihren Partner*innen leben.
Um die Quarantäne-Tage produktiv zu nutzen und nicht in der Einsamkeit einer fremden Wohnung zu stranden, habe ich bereits Monate vor meiner Ankunft die Schulkinder und Jugendlichen der Stadt zu virtuellen Besuchen in meine Magdeburger Gästewohnung eingeladen. Dachte, das wäre insgesamt eine kluge Idee; und machte meine Rechnung ohne den Wirt. Ein dialektverhafteter Österreicher würde daraus übrigens intuitiv ›den Wirten‹ machen; ihm und allen anderen Interessierten sei an dieser Stelle der Blick in ein Nachschlagwerk deutscher Sprache empfohlen, nicht der Korrektur, sondern der Erheiterung wegen, denn unser ›Wirt‹ entstand aus alt- und mittelhochdeutsch ›wirt‹, was Ehemann, Gebieter meinte und sich erst später ausweitete auf ›denjenigen, der Freundlichkeit erweist‹. Sprache ist wahrlich köstlich, sie liefert mir oft einen Grund, herzlich zu lachen.
Nun kommen sie also, die Teenager aus Magdeburg, Tag für Tag. Wir dialogisieren via Bildschirm – manchmal angestrengter ob technischer Pannen, meist jedoch in guter Tonqualität. Und fällt mal wieder jemand aus dem virtuellen Rahmen, nehmen wir es gelassen; wir kennen das ja alle mittlerweile zur Genüge.
Die jungen Magdeburger*innen dürfen sich nach allem erkundigen, was ein Literat*innenleben ausmacht: Ich werde Rede und Antwort stehen; so lautet die Abmachung. Ergänzt um Einblicke in literarische Arbeiten, kleine Schreibaufgaben, die zu ihrem Alter passen. Dafür erzählen sie mir, wie es ihnen geht, mit Homeschooling, eingeschränkten Kontakten und geteilter Klasse. Und retten mich mit ihrer Lebhaftigkeit, ihrer Neugierde, ihrer Spontanität!
Dass ich in Magdeburg beinahe in jeder der Schulklassen gefragt werde, ob ich denn nicht meine Familie vermisse, sei ich derart häufig unterwegs, verblüfft mich. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass mir diese Frage andernorts derart auffallend häufig gestellt wurde; sei es, weil sie nicht ausgesprochen wurde oder weil ich es vergessen habe, da sie zuvor nie auf ein Weh traf, welches meines Erachtens der Quarantäne zu verdanken ist, die einen an und für sich porös macht. Das innere Ankommen verzögert sich. Man hängt mit einem Ticket, auf dem groß »ABENTEUER« steht, in der Warteschleife fest und hofft, es werde nicht bis zur Unkenntlichkeit zerknüllt sein, bevor man endlich an der Reihe ist, durch die Tür zu gehen und diesen neuen Ort zu erobern.
Dabei ist die Erkundigung nach dem Vermissen eine sehr vernünftige Frage! Ihr könnte man antworten: ›Natürlich! Aber es gibt ja das Internet, um in Verbindung zu bleiben, und wenn uns das vergangene Jahr etwas gelehrt hat, dann eine bewusste Wertschätzung des Internets! Es ist eine famose Chance, diese Verbindungsmöglichkeit mit der Welt um uns. Es ist nicht auszudenken, wie sich 2020 gestaltet hätte ohne Internet!‹ Man könnte auch die trockene Auskunft liefern, zu reisen, das bringe dieser Beruf eben mit sich. Wer das nicht wolle, werde Straßenfeger, Wolkenkratzer oder Maulwurfsjägerin.

Bei geduldigen Zuhörer*innen könnte man diese Antwort noch um emotional-sinnliche Aspekte ergänzen:
Der Lohn sei das Abenteuer des Erlebens, das Vergnügen des In-der-Welt-Seins und die Herausforderung, sich darauf – an vielfältigen Orten –einzulassen, um der Begegnungen wegen, der neuen Inspirationen, die darin beheimatet sind, sodass sich alsdann in der literarischen Arbeit gestalte: die Welt, die uns umgibt.
Ohne diese ›Nahrung‹ verenden Literat*innen im Ich-Sumpf.
Wie gegenwärtig.
Meine ›Weite‹ endet momentan recht abrupt und viel zu nah: an den betonierten Säulen der Balkonbalustrade, wenige Schritte hinter den Lamellen der Rollos, die mein Zimmer zur Hälfte umrunden. Was sonst noch ist, kann ich bloß sehen, lichtet sich der Nebel gegen Mittag.
Nein, ich bin keine ›Wohnungs-Quarantäne‹ gewohnt; natürlich nicht. Ich habe immer schon geahnt, dass meine Lebenssituation am »Arthof« eine luxuriöse ist; neben der oft bis zur Erschöpfung anstrengenden physischen Arbeit, die solch ein alter Bauernhof eben mit sich bringt. Beneidet hat mich um die Schufterei auch niemand; bis das Covid-Jahr kam. Brachte neue Gräben in unsere Gesellschaft; war die Landbevölkerung zuvor ›hinter dem Mond‹, die Aussteiger*innen ›eigenbrötlerisch‹, so wollte man plötzlich – nein, nicht sein-wie-sie, absolut nicht. Bloß ›haben‹. Vorzugsweise mit Gärtner, Chauffeur, Köchin und Putze. Die Reihenfolge ist variabel, das Geschlecht im Denken eher nicht.
Jedenfalls fragte ich mich oft genug, wie die Menschen in den Städten diese Monate des Lockdowns ertragen, eingepfercht in ihre Wohnungen, ohne einander bis zum Zerbrechen zu quälen – die Hölle, das sind die anderen, schrieb Sartre in »Huis Clos«. Oder sich in der Einsamkeit der allein behausten vier Wände zu erschießen – die Hölle, die bereiten wir uns gerne mal selbst; und durchaus genussvoll, Menschen, die wir sind.
Nein, auf den eigenen Grund und Boden beschränkt ein Jahr lang zu leben, das hat nichts mit Quarantäne zu tun, und ich bin überaus froh, dass meine Eingeschlossenheit in eine Wohnung nur acht Tage umfassen wird, um Schwarz auf Weiß zu wissen: Ich habe nichts ungeahnt im Schlepptau mitgebracht; zumindest kein kleinstes krankheitserregendes Partikel C-. Damit beide Seiten auf Nummer sicher gehen; und auf Nummer sicher sind. Diese Form der Wendung sei übrigens veraltet – behauptet der Duden. Das tut er gerne. In seiner Begründung verweist er darauf, dass sich die Formulierung ›auf Nummer sicher sein‹ auf das Faktum beziehe, dass Gefängniszellen nummeriert waren und die Inhaftierten ›sicher‹ dahinter ›verwahrt‹ wurden. Sind sie das heute nicht, nummeriert? Ich weiß es nicht. Sei es wie es sei: Im Gegensatz zu ›auf Nummer sicher sein‹ könne man – auch heute noch – durchaus ›auf Nummer sicher gehen‹, ohne sich deswegen den Anstrich des Antiquariats zu verpassen und das (in den Nasen einiger weniger Menschen: herrliche) Odeur seiner leicht modrigen Druckwerke zu verströmen.
Gehen wir also auf Nummer sicher; wenigstens auf und ab.
Und hin und her.
Im Morgennebel.
Und hin und her.
Im Regen.
Von Waschbetonplatte zu Waschbetonplatte.
Tappen, springen, schlendern: auf und ab, auf und ab …
Von Waschbetonplatte zu Waschbetonplatte.
Und hin und her.
Im Sonnenschein.
Und hin und her.
Im Regen.
Ich kann ja nicht tagtäglich die Fenster putzen, die Heizkörper reinigen und Salsa auf zwei Quadratmetern im Solo tanzen, wenn ich doch die laszive Rumba sowieso viel lieber mag! Während ich versuche, der Unruhe in den Gliedern Herrin zu werden, ohne die anderen beiden Herren rechts und links von mir in ihrer jeweiligen Lebenswelt zu stören, gleitet mein Blick über die zehn Säulen je Teilabschnitte der Balustrade:
»[…] Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt […]«,
fallen Rilkes Zeilen aus dem »Panther« in mein gehendes Denken ein. Und sein müder Blick, vom Vorübergehen der Stäbe, ja, und keine Welt: nicht erreichbar, nicht zu erfassen. Inexistent. Der Mensch ist ein Sinneswesen, und was sich nicht wahrnehmen lässt, dem sprechen wir die Existenz ab. Vielleicht liegt deshalb so viel im Argen?
Eine zerzauste Krähe landet auf der Balustrade, schnabelt ihr Kra-Kra auf mich ein, nach vor gereckt und nach oben, in einer Schaukelbewegung des Kopfes, spreizt ihre Schwanzfedern wiederholt. Ich kann ihre Aussage nicht übersetzen! Da kommt endlich jemand ganz real, greifbar, beinahe, und spricht mit mir, und ich – kann kein Wort verstehen! Sie lässt das völlig kalt. War offenbar auch nicht für mich gedacht, der Inhalt ihrer Rede. Sondern für ein zweites Krähenexemplar, welches nun zwei Meter links von mir mit Flügelrauschen landet. Social Distancing für Federvieh. Als ich mich mit freundlicher Frage in ihren Talk zu mischen versuche, fliegen beide auf und davon. Wie soll man da auf seine Kosten kommen? Wenigstens eine höfliche Antwort hätte ich ihnen doch wert sein können, nicht?
Und auf und ab.
Hin und her.
Im Morgennebel.
Hin und her.
Im Regen.
Und auf und ab.
Im eisigen Wind.
Starre hinunter, auf den Ulrichplatz zu meinen Füßen – er könnte Schauraum bieten, würde sich dort Leben ereignen. Tut es nicht, was einerseits der Witterung, andererseits wohl dem Lockdown geschuldet ist. Auf den Bänken rund um das eingemottete Springbrunnen-Rondeau sitzen nur vereinzelt Menschen. Zwischen ihnen hockt die Leere. Da saust ein Kind auf einem roten Rad auf den Platz, zieht seine Kreise und erzählt in wilder Fahrt vom Leben. Es liegt etwas ungemein Tröstliches darin.

08.03.2021

Die Quarantäne ist gut, um all die mitgebrachte Arbeit zu erledigen. Die Quarantäne ist mies, um all die mitgebrachte Arbeit zu erledigen; sie ist schlicht das Letzte – in vielerlei Hinsicht. Sonderbarerweise kämpfe ich mit lahmer Konzentration. Nach drei Stunden schmerzt der Nacken, nach fünf fühle ich mich matt, nach acht ausgelaugt.
Das klingt doch eh normal?
Nicht für mich.
Ich frage mich, ob es an der Ungewissheit dieses Beginns, seiner Verzögerung, der mangelnden zügigen Bewegung samt fehlender Zielorientierung liegen mag oder ist es eine Müdigkeit, die ich schon mitbrachte? Den turbulenten Monaten vor meiner Abreise geschuldet? Schließlich hat man nicht alle Tage zu entscheiden, wie viele Tiere am Hof geschlachtet werden müssen, damit die Mitbewohnerinnen, welche man bitte hurtig finde, mit den übrigen Tieren zurechtkommen könnten. Oder Verlassenheit zu verdauen, die ein befreundeter Journalist mit den Worten quittierte: Was wundert es dich, dass man sich anderweitig umsieht, wenn du ständig unterwegs bist und fortwährend arbeitest? – Ich wette, niemand würde zu einem Mann sagen, er brauche sich doch nicht zu wundern, dass …

Und wer mietet (und versorgt) einen winzigen Hof nahe der Landesgrenze zur Tschechischen Republik – außer ein Künstlerinnenpaar, das gerne die Fähigkeit zu einer anderen Lebensform ausloten möchte und diese sieben Monate als Chance sieht?
Die wurden es auch, zwei junge Kreative, einmal Literatur, einmal Musik; und zwei Wochen, um ihnen beizubringen, wie solch ein altes Haus tickt. Langsamer, gemächlicher auf jeden Fall und überaus eigen. Werden sie das Feuer aus der Glut im Ofen entfachen können, ohne siebzehn Zeitungsseiten und ebenso viele Nervenfasern zu verbrauchen, weil viel zu lange gepennt und die Sonnenwärme auf dem Rauchfang den Raum in Nebel hüllt, statt ihn durch den Kamin nach draußen zu leiten? Werden sie meine theoretische Anleitung zur Wiederinbetriebnahme des Brunnens nach der Winterpause umsetzen können? Werden sie …? Die Liste der Quarantäne-Sorgen ist so lang wie acht Tage und acht Nächte:

Möge mein Zuhause danach noch stehen!
Ich höre meine Freunde lauthals lachen; natürlich spotten sie: „Das Haus stammt aus dem Jahr 1869, es hat so viel ausgehalten, gesehen und überstanden, da werden ihm zwei junge Tiroler*innen mit Sicherheit nicht den Garaus machen – hab ein wenig Vertrauen, Marlen!‹ Nur meine Mutter murmelt am Telefon, ihr sei bange um den Gemüsegarten. Um die Wahrheit zu sagen: Der macht mir die geringsten Sorgen.
Die Quarantäne ist gut, um als Gespenst die Schreibarbeit für andere zu erledigen. Die Quarantäne ist das Letzte, um an der Novelle, an der ich seit November arbeite, weiterzukommen. So erstelle ich statt inspirierten Einfällen Projektkalkulation, berechne die Marge in der Lehre, finalisiere Anträge.
Und lese.
Vor allem am letzten Tag, an dem die Uhr kaum voran kriecht. Jedes Mal, wenn ich auf ihre Anzeige blicke, spottet sie meiner mit ein paar verstrichenen Minuten.
Da ich in Magdeburg bin, finde ich, es wäre ein guter Anfang, in einem Buch zu blättern, welches mir aus ebenjener Stadt vor Wochen schon nach Niederösterreich gesandt wurde, damit ich es alsdann im Koffer wieder hierher trage. Es ließ mich schmunzeln, als es per Post ankam, eingeschlagen in Packpapier und durch eine Karte ergänzt, die mir verriet, der Absender habe durchaus Humor – das ist gegenwärtig sowieso die beste (Er-)Lebensversicherung. Ohne sie steht man keinen dieser sonderbaren Tage der blauen Flecken durch. Der Spiegel weiß, wovon ich schreibe.

»Der Pascha von Magdeburg« also, der beeindruckte mich durch seine Liebe zum Detail: Dublüre, Ornamentbordüren und Arabesken; aussagekräftige, farbenfrohe Bilder laden zum Schmökern ein, vertiefen vielfach die Textebene. Da hat einer mit ungemein großer Liebe zum Detail gewerkt. Oder um genau zu sein: ihrer viele. 34 Schreibende, Zeichnende, Übersetzende waren bei dieser Publikation an der Arbeit beteiligt, brachten ihre unterschiedlichen Hintergründe ein, seien sie Historikerinnen, Schauspielerinnen, Professorinnen … und Menschen wie wir, Autorinnen; stellenweise in vier Sprachen.
Es ist auch dieser Variantenreichtum, der dieses Buch so interessant macht, weil es erneut zu Bewusstsein bringt, wie vielfältig die Bezüge zwischen ›Hier‹ und ›Dort‹ sind, wie verwoben unsere Welt seit Jahrhunderten ist – und dass es schlichtweg albern dünkt, Gegenteiliges zu behaupten; oder in Hysterie zu verfallen, weil die Medien mal wieder Schlagzeilen brauchen und der Boulevard sie am nötigsten hat. Setzen wir doch gegen geschürte Ängste und Vorurteile lieber »belegte Fakten, gemeinsame Forschung, Empathie und Begegnung und tägliche solidarische Zusammenarbeit«, schlägt Dr. Mieste Hotopp-Riecke, einer der Herausgeber, vor. Und ich finde er hat recht.
Die Geschichte des Kaffees kann einen ›Muckefuck‹ lehren, Sagen finden sich ebenso wie Hochstapler, Generäle und Weltbürger. An eine Sprachreise nach Syrien wird erinnert, weil keiner der ehedem besuchten Orte heute ohne die Spuren der Zerstörung ist. Sehr berührend auch der Versuch zweier junger Frauen durch Albanien zu reisen, ausgestattet mit einem Tauschobjekt, um den Menschen die Frage zu stellen, was sie glücklich mache: Freunde, Familie, eine gute Dorfgemeinschaft, ein Hobby, ein guter Job, friedliches Zusammenleben – so lauten die Antworten, welche die Reisenden erhalten; und aus dem mitgebrachten deutschen Bier wird Wein werden, 30 Hufnägel für einen Esel, eine Schildkröte und irgendwann der Zahn eines Löwen …
So vielfältig wie die Beiträge, so vielfältig sind auch die Orte, an die man in diesem Band lesend reisen kann: Aleppo, Anatolien, zu den Tataren, nach Sarajevo, Marakesch, nach Haifa und Cortoba, um nur ein paar davon zu nennen; und immer wieder Magdeburg!
Nun aber, laufen – meinen Test abholen, damit ich mich von dem Schatten, der ich gegenwärtig bin, endlich erhole; damit Schwarz auf Weiß die Nummer sicher steht:
Ich starre auf das Blatt und kann vor Nervosität die Zeile nicht finden, befrage die junge Frau im Klinikum, die schon die Tür erneut schließen will, wie denn nun der Befund laute: »Negativ, natürlich!«, sagt sie und lacht über mein Gestammel, ob dies nun hieße, ich sei frei – endlich? Aus der Quarantäne entlassen?
»Ja. Gehen Sie. Und genießen Sie die Sonne!«
So laufe ich zu Fuß zurück, durch die Straßen von Magdeburg.
Und allen Nicht-Magdeburgerinnen sei gesagt, das ›A‹ im Anlaut ist knapp, kurz, fast nicht existent. Keineswegs habe der Name der Stadt etwas mit der Magd zu tun, und sowieso würden wir süddeutschen Sprecherinnen alle Vokale viel zu genussvoll dehnen, um unserer Lust am Singsang zu frönen. Wer das ›Magdeburg‹ der Magdeburgerinnen üben will, der nehme einen Mund voll mit Trinkschokolade, sage dann verhuscht: ›Mgdeburch!‹. Trocken, nicht spritzen! Auch Gelächter ist absolut hinderlich. Bitte das finale ›-ch‹ nicht überbetonen – nur dezent im Abgang, leicht verhaucht. Wir sind hier ja nicht im Burgtheater, und Deutlichkeit in der Aussprache wird absolut überbewertet! Also, nein, das wird so nichts … Versuchen Sie es lieber – wie ich – mit ›Landeshauptstadt‹ und ›Ottostadt‹, wenn Sie vom Tourismus geliebt werden wollen; oder schlicht: die Stadt. Dann sind Sie auf ›Nummer sicher‹. Und üben Sie, wie ich; zuerst mit den Schülerinnen, danach mit einer Journalistin, einer Verkäuferin und einem Theatermann. Magdeburger-Meisterin bin ich noch immer nicht geworden.


FCM – Darmstadt 98

Wenn ich jetzt Corona habe, dann weiß ich wenigstens woher. Aus der MDCC-Arena, als Zuschauer des DFB-Pokalspiels FC Magdeburg gegen Darmstadt 98. Naiv wie alle Liebenden habe ich dem Sicherheitskonzept der DFL vertraut. Aber was nützen zwei neben einem gesperrte Sitze, wenn einem der Hintermann beim Torjubel beinahe in den Rücken springt oder der Vordermann bei einer vergebenen Torchance fast seinen Hals auf die Brust legt. Von den Gesängen, den Schiedsrichterschmähungen, den Pfiffen und dem ganzen Gegröhle ganz zu schweigen. Und wenn man dann noch zwei Nebenleute hat, deren Urlaubsbräune sich ganz offensichtlich nicht der altmärkischen Sonne verdankt, dann kann man sich nur noch in sein Schicksal ergeben. Wobei hie und da noch Protest aufscheint, so z. B. wenn man sich fragt, warum eigentlich die mindestens fünfzehn Meter von einem entfernt stehenden Sicherheits- oder Kameraleute Masken tragen, der Fan aber vom Stadionsprecher beinahe dazu aufgefordert wird, seine Maske am Sitzplatz abzulegen. Dafür muss man sie dann im Zwischenbereich, wo man die Abstände eigentlich selber bestimmen kann, wieder tragen. Und wieso bleibt eigentlich ein kompletter Sitzplatzblock leer?
Wenn ich in einer Woche noch immer keine Symptome habe, werde ich sagen: was für ein geiles Spiel! Das war es nämlich. Ein richtig gutes Pokalspiel, wofür der FCM ja seit seiner Gründung bekannt ist. Mit fünf Toren, zwei Latten- bzw. Pfostentreffern, einer gehörigen Portion gelber Karten, zwei sehr unterschiedlichen Halbzeiten und einer Verlängerung. Nur dass die Darmstädter das bessere Ende für sich hatten.
Aber für heute muss ich sagen: Vorsicht, Leute! Entweder es gibt Corona oder es gibt kein Corona. Wenn es aber Corona gibt, dann sind selbst 5000 Zuschauer in einem eigentlich 30 000 Zuschauer fassenden Stadion – zumindest wenn sie nur auf zwei Tribünen verteilt sind – zu viel.

P.S. Als ich mir auf dem Rückweg in einem Spätkauf ein Bier hole und von einem Kunden aufgrund meines blau-weißen Schals angesprochen werde, bekomme ich als Antwort auf meine Bedenken zu hören: „Ach was, Magdeburg ist doch fast coronafrei. Wenn da nicht die Sinti und Roma gewesen wären…“