Nellja Veremej: Über Heimatliebe. Nathusius, Heine und das Sprossende Nelkenköpfchen

In den letzten Monaten bin ich oft auf die Spuren des Wirkens der Familie Nathusius gestoßen, in Magdeburg oder Halberstadt, nun habe ich beschlossen Haldensleben und Umgebung zu erkunden, die Orte, wo Johann Gottlob Nathusius vor zweihundert Jahren „den ersten Großkonzern auf deutschem Boden“ gründete.
Steingut-, Maschinen-, Ziegel-, Porzellanfabriken und vieles mehr lag im Umkreis des lebhaften Interesses dieses Mannes, keine Seltenheit für einen Sohn des wissensdurstigen und tatkräftigen Zeitalters der Aufklärung.

Die Erscheinung des Industrie-Pionieres, auf zeitgenössischen Porträts festgehalten, strahlt Neugier und Unternehmungslust aus:

Wacher, fragender Blick, in dem Skepsis, Humor und Intelligenz durchschimmern – ein markantes, unvergessliches Gesicht.

Dieser Mann, einst der reichste Bürger Magdeburgs, kaufte 1810 ein Anwesen in Althaldensleben, wo er Dutzende Unternehmen ins Leben rief und dem kleinen Ort zu Wohlstand und Ansehen verhalf. Ein französischer Reisende beteuerte, er habe nirgendwo erlebt, dass so viel verschiedene Geschägtszweige bei einem einzigen Besitzer vereinigt und so wohl verwaltet wurden.

Die Herzensangelegenheit des Universal – Unternehmers Nathusius aber war die Pflanzenkunde. „Jeder meiner Betriebe hat seinen eigenen Direktor, aber für meine Gärten bin ich selbst Leiter.“ – sagte er. Es wurde behauptet, Nathusius habe auf seinem Gute alle Pflanzen mit Namen gekannt – alle!

Diese Leidenschaft hat mich am meistens berührt – er, ein Demiurg eines großen Industriekonzerns, war bereit, vor jedem winzigen Halm zu knien und ihn beim Namen anzusprechen. Irgendwie kongruierte das mit der Tatsache, dass Nathusius, der seine wirtschaftlichen Interessen hart gegen Konkurrenten durchsetzte, viel Wert darauf legte, seine Arbeiter gerecht zu entlohnen und die Armut in seinem Wirkungskreis zu bekämpfen.

Als ich mich mit diesem Wissen an einem schönen Tag  nach Haldensleben aufmachte, malte ich mir im Geiste ein gemütliches, lebendiges Städtchen, mit prachtvollen Gärten und Blumenbeeten bestückt, aus, mit Windmühlen und rustikalen Schornsteinen vor einem blauen Horizont.

Aber der Ausblick vom Bahnsteig in Haldensleben bot nichts Besonderes.

Die Menschen, die mit mir den auf dem kleinen Bahnhof ausstiegen, zerstreuten sich momentan in alle Himmelsrichtungen, ja sie lösten sich regelrecht auf im klaren, von Frühlingssäften durchtränkten Äther.

Nichts bewegte sich, nur ein weiterer Regionalzug rollte vor meinen Augen davon, er hieß Katharina die Große, was ihn noch kleiner wirken ließ, als er war – dieses arme rote Zugwürmchen.

Ich machte mich auf ins Museum, wo ich meine Erkundigungen über Nathusius beginnen wollte. Die Straße war menschenleer, gesäumt von Arztpraxen, die größtenteils mit Orthopädie – und Seelenheilkunde zu tun hatten.

Hatte sich der Ort damals, in der goldenen Industriezeitalter so überanstrengt, dass er jetzt seine Ruhe nachholen musste?

Auf dem umzäunten Rasen einer großzügigen, allein stehenden Villa rollte ein Rasenmäher-Roboter auf und ab, jedes mal bevor er kehrtmachte, blieb er wie nachdenklich stehen und diese Geste verwandelte ihn in einen unheimlichen, käferartigen Homunkulus.

Ich musste die Straßenseite wechseln, um einen Passanten nach dem Weg zu fragen. „Museum!?“ – fragte der verschreckt wirkende Mann. -“Keine Ahnung!.“

Aber noch während ich mit ihm sprach, sah ich schon das Gesuchte, aber das Museum – das nette alte Eckhaus mit Hof – hatte gerade für eine Mittagspause bis 14 Uhr geschlossen. Das Plakat an de Tür verkündete für den Nachmittag die Veranstaltung „Salonkultur um Heinrich Heine und Karl Leberecht Immermann“.

Es sollte um die Beziehungen zwischen den beiden Dichter gehen und um eine mögliche Bekanntschaft zwischen den Familien Nathuisius und Heine, sowie um die Salonkultur damals und die Rezeption des großen Dichters in der DDR.

Nun beflügelt schritt ich leichten Herzens in die Stadt, die Mittagsstunden zu überbrücken.

Es gab viele sensationell alte Häuser im Zentrum und die Marienkirche mit einer schmucken Tür.Aber der Anblick entvölkerter Straßen ärgerte mich.

Stünde so ein Haus irgendwo in Berlin, würden vor ihm Hunderte Touristen herumschwärmen, und für sie würde man mehrere Cafés eröffnen und mehrere Kioske mit Postkarten oder Lesezeichen, geschmückt mit Inschriften von den Fachwerkfassaden wie dieser:

So irrte ich einige Zeit durch die verhexte Stadt – die wenigen Menschen, die ich traf, schauten zur Seite. Ich begegnete nur einer Bäckerei und einer Eisdiele auf meinem Wege, aber auch da bewegten sich die wenigen Gestalten wie unter tiefem Wasser. Um von diesem Mondsucht nicht angesteckt zu werden, beschloss ich, lieber in den kleinen Park einzukehren.

Kaum setzte ich mich auf die Bank, öffnete sich ein Fenster im Haus gegenüber und aus der Öffnung zeigten sich zwei Köpfe – ein alter Mann und eine alte Frau. Sie polsterten das Fensterbrett mit Kissen ab und fingen an, mit Seifenblasen zu spielen – kichernd pusteten sie abwechselnd in den Plastikring und lehnten sich noch weiter hinaus, um den Flug der bunt schimmernden Blasen zu verfolgen. Als das Döschen leer war, zogen sie sich mit ihren Kissen in das Zimmer zurück, und die Geste, mit der sie die Fensterflügel zuklappten und die Spitzgardinen wieder zuzogen, war wie im Kaspertheater, beim Ende der Vorstellung.

Auf dem Weg zurück ins Museum begegnete ich mitten auf der breiten Promenade einem Schmuckstück in Gestalt eines Thrones, seitlich mit diesem Bild geschmückt:

Ich grübelte lange, was das zu bedeuten habe, aber es gab niemand, den man fragen konnte.

Das Museum war schon offen, als ich kam. Die Vorbereitungen für den Salon waren in vollem Gange – in einem Raum stellten die Mitarbeiter das Buffet auf und in dem anderen deckten sie mit freudiger Geschäftigkeit etwa fünfzehn Tische für die Gäste und ich hatte das Gefühl, mitten in die Vorbereitung eines großen Familienfestes hineinzuplatzen.

In der Ausstellung im oberen Stock habe ich für mich nicht Neues über Nathusius und sein Wirken erfahren, dafür aber erwies sich der anschließende Salon als spannendes Erlebnis.

Die Gäste – artig gekleidete ältere Menschen mit wachen Augen – verkörperten für mich das, was man aus russischen Romanen als Kleinstadt – Intelligenzja kennt: Menschen, die für Aufklärung brennen und in ihrem Namen die kleinsten und entlegensten Brachen der Kulturlandschaft ihrer Heimat roden und pflügen..

Die Lesung (oder besser gesagt das Gespräch unter Gleichgesinnten) bestand aus mehreren Themenblöcken, die sich berührten in dem Zweeck, die großen Namen und Geschehnisse in den Dienst der Heimatkunde zu stellen. Eingangs wurde aus Geschichte des einstigen Haldenslebener Heine-Gymnasiums berichtet und darüber, wie kompliziert die Namensgebung damals vonstatten gegangen war, was zu einer Diskussion über Rezeption des großen Dichters in der DDR führte.

Im zweiten Teil war vom Schaffen Heines und Immermanns die Rede, über ihre Freundschaft und ihr Treffen in Magdeburg und darüber, dass der reiche Onkel von Heine mit Johann Gottlob Nathusius bekannt war und ihn schätzte. Eine Dame, deklamierte bei passender Gelegenheit Gedichte, was die Gäste zu wonnigem Lächeln brachte.

Und während ich den Vortragenden lauschte, sah ich im Geiste jene unsichtbaren Luftwurzeln, die das kleine Haldesleben mit der großen Geschichte verbanden und ihm einen würdigen Platz in der großen Welt sicherten, neben Hamburg, Berlin oder Magdeburg.

In den letzten drei Monaten habe ich auch einigen anderen schönen Abenden beigewohnt, vorbereitet und durchgeführt von Magdeburger Kunstschaffenden und Enthusiasten, die für die Stadt, ihre Geschichte, Kultur und ihr Image brennen und durch ihr Wirken den in Verruf geratenen Begriff Heimatliebe rehabilitieren und mit schönen geistreichen Dingen in Verbindung bringen.

Ich hatte nicht um Erlaubnis gebeten, Fotos machen zu dürfen, und knipste heimlich nur ein schiefes Bild:

Bevor ich das Museum verließ, kaufte ich ein Heft aus der Reihe „Jahresschrift der Museen des Ohrenkreises“, in dem es unter anderem auch um Nathusius geht – schließlich war ich ja seinetwegen hierher gekommen.

Im Zug zog ich das Heft (Jahrgang 1998) aus der Tasche, es öffnete sich eigenwillig auf einer Seite, in der ein improvisiertes Lesezeichen steckte – ein aus einer Postkarte herausgeschnittener Streifen.

Auf dem Lesezeichen waren mehrere bemalte Globen dargestellt, die Kehrseite des Streifens war mit einem handschriftlichen Text versehen, der kaum zu entziffern war. Auch die quer zueinander laufenden gedruckten Zeilen auf der Vorderseite waren wegen Verstümmelung unlesbar.

Die mit floralen Mustern bemalten Globen – dieses seltsame parallele Universum – passte gut zum Beitrag im Heft, gewidmet dem Sprossenden Nelkenköpfchen.

Eigentlich ein Sachtext, mit Daten und botanischen Termini gespickt, aber ich las ihn wie Poesie, denn der aufmerksame und zärtliche Blick des Forschers verwandelte die winzige unscheinbare Pflanze in ein wertvolles und seltsames Fabelwesen – braune, trockenhäutige Hochblatthülle um dem Köpchen, mit rosa gefärbten Kronblättern bestückt, so winzig, dass ihnen nur ein sehr geringer Schaueffekt ziemt. Die Blüte ist von 8 bis 13 Uhr geöffnet zwischen Juni und Oktober, und wenn es so weit ist, zeigen sich die Samen – aufgeflacht, feinwarzig gerillt und schwach geflügelt….

Hier ist sie, die bescheidene Schönheit:

Der Autor, Günter Brennenstuhl, ist, laut Google, immer noch im Dienst der heimischen Flora unterwegs, ein prominenter Pflanzenkenner, Publizist und Mitglied mehrerer Vereine. Ich habe auch mehrere Abbildungen gefunden und sein wacher, wie fragender Blick mit den hochgezogenen Brauen schien mir gut vertraut- er ähnelt dem Blick von Johann Gottlob Nathusius, der ebenfalls über die Gabe verfügte, die vergängliche und unscheinbare Natur als Abglanz der himmlischen Vollkommenheit zu schätzen und zu würdigen.

Nellja Veremej: Am 9. Mai

Frieden denken, den Frieden schauen, oder Bilder und Begriffe eines Zauberwortes, so hieß die Vorlesung, der ich neulich im Magdeburger Forum Gestaltung beiwohnte. „Es liegt nahe, Frieden zunächst über die Abwesenheit von Krieg und Gewalt zu bestimmen. Wie aber sieht eine befriedete Welt aus?“ – die Frage, die Prof. Dr. Thomas Kater aus Leipzig in die Runde stellte, schärfte meinen Blick, als in den darauffolgenden Tagen durch die Stadt ging.
Welche Augenblicke des Stadtlebens könnten als „Frieden“ betitelt werden? – fragte ich mich und entschied mich schließlich für diesen Ausblick:

 

In letzter Zeit denke ich viel über Krieg und Frieden nach – ein Teil meiner Verwandtschaft wohnt in Kiew, ein anderer in Russland und ich in Deutschland, das fest entschlossen ist, die kleinen Völker im Osten vor den Russen zu schützen.
Wenn man täglich Zeitung liest, hat man ein Gefühl, wir sind allen Friedens überdrüssig und steuern gezielt auf die nächste Kriegsrunde zu.
Mir wurde bange, als ich las, die Bundeswehr wolle sich in diesem Jahr mit dreimal so viel Soldaten wie 2017 an Nato-Übungen im Baltikum zur Abschreckung Russlands beteiligen; die Manöver sollen „Flammender Donner“ oder „Eiserner Wolf“ heißen… – noch vor einigen Jahren hätten wir uns solche Zeitungsaufmacher nicht im Alptraum vorstellen können.

Russland seinerseits lässt am 9. Mai Iskanderraketen auf Lastwagen durch Kaliningrad rollen – „Die Bürger der Exklave sollen sehen und verstehen, dass die modernsten Waffentypen der russischen Armee zum Schutz der Region aufgestellt sind“ – so Itartass.
Daraufhin rügen die Deutschen den Altkanzler Schröder, der mit Putin öffentlich auftritt – mit Feinden redet man nicht, mit Feinden… ja, was macht man mit ihnen sonst?

Was ist heute von dem Elbe-Geist in Torgau übrig geblieben, der an die Menschen aller Nationen appellierte, ihre Differenzen mit friedlichen Mitteln zu lösen und für das gemeinsame Wohl der gesamten Menschheit zusammenzuarbeiten?

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Am 9. Mai war ich dieses Jahr in Petersburg bei der Parade, auch hier Bilder, die mit dem Begriff „Frieden“ wenig kompatibel waren. Der Schlossplatz, wo vor den Tribünen mit den wichtigen Gästen Regimenter marschierten, war abgeriegelt, nur die Zuschauer in den ersten Reihen konnten die Parade mit bloßem Auge genießen und die anderen Abertausende wogten durch die Straßen und versuchten, einen Blick auf den Platz zu erhaschen. Die Menschen krochen auf Gesimsen und Bäumen empor, die Klügsten hatten Klappstühle oder gar Leitern mitgebracht, wir haben nur sehr wenig gesehen.

 

 

Nach der Parade blieben die Straßen im Zentrum voll – vor den weit aufgerissenen Augen zogen weitere Prozessionen vorüber. Erst rollten die Veteranen auf rustikalen Lastwagen aus den Vierziger Jahren, dann marschierte eine Kolonne mit den Porträts von Verwandten, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, vorbei. Viele Menschen trugen Militärschiffchen auf dem Kopf, der Stadtverkehr spielte verrückt, und die Aufregung stieg – irgendwann dachte ich, ich bin eine Statistin in einem Film über einen beginnenden Krieg und die Mobilisierung.
Danach hätte man alte Militärtechnik bewundern können, allerdings konnten wir auch hier nichts sehen – so viele wollten an die alten Panzer ran.

 

Fragt man jemanden nach der Natur dieser Begeisterung, kriegt man die Antwort, Russland sei von der NATO umzingelt, und diese Schlinge werde immer enger. Klingt genauso plausibel, wie die in Deutschland gängige Behauptung, dass die Russen nachdem sie sich die Krim geschnappt haben, im Begriff seien, in Riga einzumarschieren.
Als ich vor einer Woche auf dem Weg nach Petersburg in Riga Halt machte, hatte ich mir vorgenommen, mit der Stadt keinesfalls auf Russisch zu kommunizieren, wo doch die Lage so ernst ist.
Aber es stellte sich heraus, der böse Ivan hat Lettland schon längst erobert – kaum stotterte ich mein „I would like…“ in einem Café, bekam ich Antwort auf Russisch. Der Kunde hinter mir wurde genau so höflich auf Deutsch bedient, der nächste aus Lettisch – und so überall – im Bus, im Café, in der Drogerie, in Einkaufspassagen, in der Apotheke – wechselt man zwischen mehreren Sprachen. In den Mai-Tagen atmete Riga – zum Bersten voll mit Touristen aus Russland – sehr ruhig, wirkte freundlich und entspannt.

Und die Russen, die in ihren Maskerade-Schiffs – Mützchen auf die alten Panzer kriechen und auf den Westen schimpfen, fahren jedes Wochenende zum Einkaufen nach Finnland und schwärmen von dem kleinen Land, das kaum fünf Millionen Einwohner hat, so viel wie Petersburg.

Sind vielleicht die täglichen Meldungen über den drohenden Krieg im Baltikum nur heiße Luft, die Journalisten uns in die Köpfe pumpen? Dachte ich mir, durch Riga spazierend…

Bevor die beiden Weltkriege begannen, hatten die Medien Jahre im voraus schon Feindbilder in Umlauf gebracht und die Öffentlichkeit täglich damit gefüttert.
Im August 1914 jubelten präparierte Massen in ganz Europa vor Begeisterung, schwenkten mit Flaggen, zitterten vor Ungeduld – endlich dem kleinen Bruder zur Hilfe zu eilen oder tolldreisten Barbaren (Serben/Russen/Deutche/Österreicher) für ihre miesen Taten zur Rechenschaft zu ziehen.
Unter den wenigen, die kühlen Kopf und klaren Blick bewahren konnten, war Kafka, der am 2. August 1914 in seinem Tagebuch notierte:
„Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule“.
Ich habe die Kafka-Biographie von Rainer Stach verschlugen, in der schönen, spannenden Lektüre öffnet sich ein ganzer Kosmos „Mitteleuropa“ in Kafka und um ihn.
Mit jeder Seite spürt man, wie die Spannung in den europäischen Städten von Tag zur Tag wächst und angeheizt wird. Der durchschnittliche Österreicher, der nie einen Serben gesehen hat, beginnt, ihn zu hassen, während der durchschnittliche Russe, der das kleine Serbien nicht auf der Karte zeigen könnte, bereit ist, für die Serben in den Krieg zu ziehen – der Kontinent damals strotzte regelrecht vor Zorn, vor Ungeduld, vor Rechthaberei.

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Ich bin sehr schnell müde geworden in dem 9. Mai-Spektakel in Sankt – Petersburg und war froh, als ich plötzlich eine Art Boje im Meer sah:

Fast alles war an dem Tag in der Stadt geschlossen, und ich wunderte mich, dass die Türen des Marmorpalastes offen waren.

 

Zwei uniformierte Wachmänner grüßten mich höflich und ich wanderte ganz allein durch die Ausstellung von Käthe Kollwitz und Ernst Barlach, zwei meiner Lieblingskünstler, die sich vor hundert Jahren mit Gedanken über Krieg und Frieden quälten.

 

 

 

 

Und, ja, von Magdeburg war auch die Rede:

„Die kenne ich doch, diese Plastik!“ wollte ich sagen, aber es gab niemanden im Zimmer außer mir. Die mit Marmor verkleideten Zimmerfluchten waren menschenleer.

Auch draußen wurde alles ruhiger. Ich ging über die Brücke auf die andere Seite, ich wollte meinen Blog unbedingt mit einem friedlichen Bild beenden, und ich fand es im Ausklang des unruhigen Tages mitten in der Stadt. Wer Frieden sucht, findet immer.

Nellja Veremej: In Buckau. Zum 1. Mai.

Wenn ich vom Magdeburger Ufer zur Elbe schaue, bietet ihr Äußeres nichts Außergewöhnliches, und ihre Parameter enthalten kaum Superlative: Von der Länge her belegt sie den achten Platz unter den europäischen Flüssen. Einmal aber schallte ihr Name durch die ganze Welt, und diese ihre Sternstunde fiel auf einen Tag, als ihre Ufer in Trümmern lagen: Am 25. April 1945 begegneten sich die Großmächte an der Elbe und die ganze Erde – mit immer noch stockendem Atem von den Schmerzen des Krieges– sah hin und horchte.

Der „Elbe Day“ heißt auf Russisch „Begegnung an der Elbe“, und da wo sich die beiden Kräfte begegneten und küssten, entstand kurz darauf Zwist – Magdeburg wurde beinahe entlang der Elbe entzwei gerissen zwischen dem Westen und dem Osten. Wer konnte, versuchte ans westlichen Ufer zu gelangen – die Furcht vor dem Osten war groß: Der Russe wird unsere Zungen an die Türe nageln, erzählte man den Kindern des geschlagenes Volkes.

Was haben die Magdeburger damals empfunden, als man im Sommer verkündete, dass die GANZE Stadt und die Umgebung darüber hinaus dem Osten zugeteilt wird? – frage ich mich heute, als ich die Elbe entlang laufe. Schreck? Resignation? Hoffnung? Oder Demütigung?

Von Magdeburg aus hatten die Ottonen ihren Siegeszug gen Osten verkündet – und nun kam der Osten hierher. Die stolze Industriestadt sollte ab jetzt in einem Verband und im Gleichschritt mit jenen Völker des Ostens laufen, auf die man davor im Dritten Reich so verächtlich hinabgeblickt hatte.

Zurückblickend empfinde ich großen Respekt vor den Leistungen der kleinen DDR, die so viele Entbehrungen und Härteprüfungen durchmachte. Christa Wolf schrieb einst, dass sie es waren, die DDR Bürger, die mit dem Gesicht zu den Völkern standen, denen Nazi-Deutschland so viel Gräuel angetan hatte.

Anders als Westdeutschland zahlte die DDR Reparationen, auch in Fabriken. Etwa 3.000 ostdeutsche Betriebe wurden in die Sowjetunion abtransportiert, die Magdeburger Werke blieben. Es gibt Schätzungen, dass jeder Westdeutsche für die Kriegsschuld etwa 35 DM aufzuwenden hatte, und jeder Ostdeutsche – über 6.000.

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Obgleich von einer einheitlichen und obligatorischen Ideologie durchdrungen und zusammengehalten, war der Ostblock keine homogene Erscheinung. Allein innerhalb der Sowjetunion gab es viele Gefälle, zwischen Stadt und Land, Süd und Nord, und wir alle waren damals jung, und die neue Welt reifte und alterte mit uns zusammen – so fällt die  Erinnerung an die „rote“ Zeit unterschiedlich aus.

Vor ein paar Jahren habe ich mit einer Freundin und ihrer Mutter, die aus Petersburg in Berlin zu Besuch war, die Ausstellung „Alltag in der DDR“ besucht. Die alte Dame, die ihr Leben lang in der Leningrader Motorenfabrik „Stromkraft“ gearbeitet hatte, erkannte ein Stück ihrer eigenen Vergangenheit in jenen Fotos, in denen es um den DDR – Arbeitsalltag ging. „Ja die Mensa! Wie bei uns! Und wir haben auch viele Ausflüge gemacht, damals waren wir noch alle zusammen, und jetzt sind viele meiner Kollegen tot. Und die Versammlungen. Und Theaterkarten haben wir kostenlos bekommen, es war so schön!“

„Das war nicht schön,“ sagte meine Freundin streng zu ihrer Mutter, „das war Diktatur!“, und diese nickte mit dem Kopf, bereitwillig wie eine gehorsame Schülerin, mit leichter Schuld, dass sie sich mit ihrem „schön“ zur Apologetin oder gar Komplizin der Unfreiheit gemacht hatte.

Ihrer Tochter zuliebe war die Mutter natürlich bereit, ihre Erinnerung zu revidieren, aber was bedeutete es damals, in einer großen Fabrik zu arbeiten? Das erste, was mir einfällt, ist die Tatsache, dass ich mit meinen dann 55 in diesem Jahr in Rente gegangen wäre. Alle meine Verwandten haben ihr Leben lang gearbeitet, der Großteil von ihnen in Fabriken. Arbeit war Pflicht, was natürlich lästig sein konnte, dafür aber waren die Arbeiter quasi unkündbar und wuchsen mit einer Körperseite mit ihren Betrieben zusammen, wie siamesische Zwillinge mit gemeinsamem Herzschlag.

Während ich darüber nachdachte, schickte mir der feinfühlige und hilfsbereite Magdeburger Himmel die Einladung, an einer Stadt- und Literaturführung durch die verlassenen Industrielandschaften der einstigen Grusonwerke, die in der DDR nach „Ernst Thälmann“ umbenannt wurden, teilzunehmen. Mehr als vierzigtausend Menschen arbeiteten hier damals, heute liegt das Gelände größtenteils brach.

Angeführt von der Schriftstellerin Annett Gröschner und der Stadthistorikerin Nadja Gröschner verbrachten wir, etwa ein Dutzend Menschen – zwei Stunden in Buckau, und machten dabei eine Reise durch hundert Jahre Magdeburgs. Wir haben die heruntergekommene Villa Grusons erkundet – des berühmtesten Magdeburger Unternehmers, der die Stadt zu einer Industriestadt machte, Kakteen liebte und den gestirnten Himmel anbetete.

Die einst von Industrie geprägten Areale, bestückt mit verlassenen wie auch renovierten und bewohnten Gebäuden – war bis auf uns menschenleer, und wirkte in den tiefen und schrägen Strahlen der sinkenden Sonne surreal.

Blieben wir stehen, tauchte aus dem Nicht ein schweigsamer Mann im blauen Arbeitskittel auf und bewirtete uns mit Getränken und Imbissen à la damals. Aufzählungen der damals existierenden Berufen klangen aus dem Munde von Annett Gröschner wie pure Poesie – in den langen und langwierigen Worten schien schweres rhythmisches Pochen zu hallen. Der Dichtung horchend bissen wir in Käsestullen. Dieser Spaziergang war eine der geistvollsten Führungen, die ich je besucht habe. Perfekt komponiert, eine kleine Buckauer Streichersymphonie, für das stillgelegte eiserne Herz Magdeburgs.

Unweit vom Technischen Museum zeigten sich die ersten Bewohner, Kinder, die in einem Hof spielten. Die schweren Türen gingen auf, drinnen nahmen uns weitere gute Geister in blauen Kitteln in Empfang – hier in den hohen Hallen zwischen monströsen Maschinen und Motoren las Annett Gröschner aus ihrem Manuskript. Während der ersten Station hörten wir ein Fragment über die Nachkriegskindheit im Magdeburger Knattergebirge.

Dann zogen wir weiter und platzierten unsere Bänke unter einem Kranarm mit dem Warnschild, dessen Inschrift die Autorin als Titel ihres Romans verwendet: „Unter schwebenden Lasten lauert der Tod“

Hier wurde über den Arbeitsalltag der Protagonistin erzählt, die auf einem Lastenkranwagen arbeitete. Stolz und Resignation mischten sich auf wunderbare Weise in den schroffen Worten, in denen die Frau über ihre Arbeit da oben im Himmel sprach. Im gleichen anteillosen Ton erzählte sie auch, wie einer der Kollegen, unglücklich verliebt, in das glühende Stahl sprang und, ganz standhafter Zinnsoldat, zu einem Metallklumpen einschmolz.

Von Lesestation zur Lesestation wanderten wir mit unseren Sitzbänken in der immer dichter werdenden Dämmerung wie im Zauberwald.

Unter den Zuhörer gab es auch Menschen, die in den gelesenen Texten ihr Leben wiedererkannten, das sah man ihren Gesichtern an und ihren Augen – oder bildete ich mir das nur ein?

Mich haben besonders die Szenen angesprochen, in denen die Kranfahrerin über ihr Leben im Himmel erzählt: die ganze Stadt liegt ihr zu Füßen und um ihre Ohren wehen Radiofrequenzen, die denen da unten untersagt sind. Wenn ihre Hände von den Hebeln frei sind, flickt sie die abgewetzte Kleidung ihrer fünf Kinder.

Die letzte Sitzung fand im Freien statt. Auf den Eisenschienen stand eine Plattform mit Maschinen und Geräten. Die dunklen Konturen, die sich im rasch dunkler werdenden Himmel abzeichneten, waren unscharf und undeutlich.

Gut zu sehen war ein kleiner Bagger, der neben einem zyklopischen, zwei Mann großen Holzfass noch schmächtiger wirkte als er war. Unter seinem Arm suchte eine verängstigte Schar Säulenpappeln Schutz, über der Brache stieg der Mond auf.

PS: Heute wird bei uns nicht mehr jeder zu harter Arbeit gezwungen, viele Maloche wird dem östlichen Nachbar überlassen: in Moskau klettern Tadschiken über die Baugerüste, in Polen Ukrainer, in Berlin ist jede Baustelle ein Turm zu Babel, die Schlachthäuser in ganz Deutschland sind bis zu 90 Prozent mit Bulgaren und Rumänen bestückt. Und irgendwo ganz weit im Osten, in Bangladesch und Umgebung, arbeiten kleine schwarzäugige Frauen Tag aus Tag ein für das Wohl von uns allen. Auch heute, am 1. Mai, dem Tag der internationalen Solidarität der Arbeitnehmer, sitzen sie mit gesenktem Kopf über ihren Maschinen und nähen Jogginghosen, Hemden und Kleider für uns alle, die wir hier den Ersten Mai feiern und mehr Gerechtigkeit fordern. Für uns, das versteht sich.