Wilde Jagd

Panik am Himmel – es kontrollieren laut rufend zwei Falken jedes Dach, haselnussfaben, große kreisrunde Augen, sausen von Haus zu Haus so schnell, dass die Tauben keine Zeit haben, sich zu sammeln und im Schwarm zu fliehen. Die Falken rufen und lauern auf dem Dach, ob eine die Nerven verliert und hervorkommt aus dem Versteck, dass sie die Verstecke finden. Die Tauben huschen schnell, wie geduckt, von Dach zu Dach, auf die geschützten Vorsprünge. Und irgendeine hat’s vielleicht erwischt auf dem Nebenhaus, als die Falken unter die Balustrade stießen. So still am Himmel plötzlich, leer, die Mauersegler weg, die Spatzen von den Wegen in die Büsche gesprungen. SAM_6703Gestern wohl wird’s ein Falke gewesen sein, der die Taube gefressen hat, akurat nur den Körper, kein Knochen, übrig blieben Rippen und Flügel, ein leeres Gehäuse.

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Zertanzter Traum die Federn wie die Schnipsel geschredderter Akten, auf denen eine Tänzerin sich bewegte gestern Abend zwischen Wänden mit Bildern.

Sofas

In der Nacht brüllen welche am Ulrichplatz Parolen aus der Nazizeit, aber nicht irgendwie, sondern zackig, laut, erprobt.

Am Morgen liegt eine tote Taube im Hof, Flügel rechts, links schlaff, dazwischen ein abgenagtes Skelett, Wespen holen sich den rohen Rest. Auf der Wiese Federn verstreut und steht daneben eine trauernde Taube, aber es bewegt sich nur vom Wind berührter Flaum im Gras.

Darüber auf dem Baum ruft eine Krähe in den Tag hinein, ruft vielleicht: Ich war’s nicht.

Oben wird das Haus umschwirrt von Mauerseglern, auf der Balustrade hüpft ein Singvogel säuselnd herum, ein Hausrotschwanz, er hält inne, über ihm steht sekundenlang eine Wespe in der Luft, er schaut hoch erwartungsvoll, Schnabel bereit, aber sie fliegt lieber fort.

Auf den Straßen stehen Sofas, ob Stadtfeld oder Sudenburg… Sofas. Studenten ziehen um, ziehen ein, ziehen aus. Auseinandergebaute Sofas. Im Fahrstuhl ein Sofa.

Es gibt überall die Volkserzieher, die lieber nichts sagen, wenn es wichtig ist, die einem aber beim Vorbeirasen auf dem Fahrrad zurufen: Falsche Richtung! Ob sie irren oder nicht, sie haben recht.

Liegt auf den Sofas! Draußen wird gefressen.

Oder anders: Lasst die Sofas stehen, geht hinaus und seht!

 Straße

Tauben am Stammtisch

Gespräche in der Dachrinne:

Weiße Löwen, weiße Tauben, was ist mit denen los? Was haben die mit weiß?

Weiße Weste. Weiße Wäsche. Weiße Flecken.

Sie halten keinen Frieden und den soll ihnen eine weiße Taube bringen? taube breiterweg Was können die denn eigentlich mal selbst?

Ach, die liegen den ganzen Sommer in der Sonne und wollen braun werden.

Rudi hat eine weiße Feder vor mein Fenster gelegt. Wird’s etwa schon Herbst?

schon herbst

Durchs Fenster

Beim Puppentheaterfestival im Freischütz ein weißes Täubchen abgeschossen mit der beim Schwarzen Jäger gegossenen Kugel. In weißem Kleid die Braut überlebt. Gudrun hat’s nicht vergessen und bespricht das nun, da die Kleinen geschlüpft sind und sie öfter mal wieder ausfliegen kann, mit anderen auf der Balustrade.

Was haben die immer mit der Farbe weiß?

Wer soll der schwarze Jäger sein? Die Krähen?

Menschen können doch keine Krähen sein?

Wer weiß.

Was? Wer ist weiß?

Hör auf. Du weißt genau, was ich meine.

Gudrun, Urs, Gundula, Rudi und Ruccula, auch Guntram, gucken durch das Fenster hinein. Was sie reden? Sie gucken: Wann geht sie in die Küche? Wann holt sie die Krümel raus? Die doch nicht, das macht der Nachbar, der wirft  Brötchen hin. Ja, da müssen wir aufpassen, sonst fliegt die kleine Elster mit dem ganzen Brötchen davon. Die Elster, die mit dem Schwanz wippend wie eine federleichte Tänzerin auf der Balustrade landet.

Was macht das Mensch da drin überhaupt?

Das ist ein Weibchen.

Warum hockt sie in einem Glaskasten?

Sie guckt nicht, sie schreibt.

Was?

Alle da, schreibt sie.

Gucke, gucke, sie guckt nicht. Sie geht.

Wohin?

Lasst uns mit.

Wohin?

Rotehornpark.

Mit dem blauen Fahrrad.

Überall dort.

Herbstnachmittag

Gucke, gucke, sie ist wieder da. Aber sie guckt nicht, sie geht wieder.

Wie?

Eis essen in Begleitung.

Wohin?

Elblang.

Wie?

Sie ist wieder da. Guck du mal. Was schreibt sie? Kannst du das erkennen? Lass doch Ruccula gucken, sie wohnte in einer Schule.

Sie schreibt: Traf heute Rudi in der Leiterstr. Tippelte einmal um mich herum. Er erkennt mich.

Ja, sie hat geguckt, sie hat mich erkannt. Aber nichts von ihrer Eiswaffel.

Und? Auch kein Foto.

Sie geht schon wieder. Wohin?

Gucke, gucke, sie geht Essen holen.

Na. Vielleicht wird das heute noch was.

 

Verbeamtet werden

Die Eide, die Elsa Tuckermann, Magdeburger Fürsorgerin im Gesundheitsamt, in ihrem Berufsleben leisten musste, nachdem sie verbeamtet wurde.

Magdeburg, 20.11.1926

Frau Elsa Tuckermann hat heute gemäß Verordnung des Reichspräsidenten vom 14. August 1919 folgenden Eid geleistet: „Ich schwöre Treue der Reichsverfassung.“

Frau Elsa Tuckermann hat heute gemäß Art. 78 der Reichsverfassung vom 30. November 1920 folgenden Eid geleistet: „Ich schwöre, daß ich das mir übertragene Amt unparteiisch nach bestem Wissen und Können verwalten und die Verfassung gewissenhaft beachten will.“

 

31.8.1938 – Stadtverwaltung Magdeburg

Vereidigungsnachweis

Ich schwöre: Ich werde dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, treu und gehorsam sein, die Gesetze beachten und meine Amtspflicht gewissenhaft erfüllen, so wahr mir Gott helfe.

 

Magdeburg, 1947

Eidesstattliche Erklärung

Ich versichere, daß ich durch unermüdlichen Arbeitseinsatz beweisen will, daß ich bereit bin, loyal am Aufbau des freien demokratischen Deutschland teilzunehmen.

Ich will innerhalb und außerhalb des Dienstes meine Verbundenheit mit der antifaschistischen Demokratie unter Beweis stellen und versichere, mich durch Leistung und Haltung zu bewähren.

Leben mit und ohne Flügel

Krähen lauern, ob sie eine der flüggen jungen Tauben erbeuten und fressen können. Die Krähen warnen die Tauben vor Raubvögeln. Deshalb sollen Taubenzüchter die Krähen nicht verjagen. Stattdessen die Taubenjungen bewachen.

Ein junger Mann sitzt in der Straßenbahn und zeichnet in einem Heft mit einem Kugelschreiber mit großer Geduld fallende blaue Blätter. Unten hat er ins Bild geschrieben: Das Leben raubt dir die Flügel.

Ein Kind beobachtet im Park lange die Spatzen. Ich bewundere es so, sagt es. Was? fragt die Mutter. Wie sie fliegen können.

Ich freue mich, dass ich die Stubenfliege am nächsten Morgen wieder vorfinde. Sie fliegt so fröhlich.

Treppe

Abends um zehn, Bahnhofstunnel, trübes Licht, die meisten Geschäfte schon zu, abgestellte Welt, ein Zug kommt an. Auf der Treppe zu einem Bahnsteig sitzen zwei junge Männer im Halbdunkel, zwei Flaschen Bier dabei. Die aus dem Zug Ausgestiegenen gehen an Land. Ein Mann kennt die Beiden.

Hallo! Was macht ihr denn hier?

Na, feiern.

Da guckt der Mann still, zwei Männer, zwei Flaschen gucken zurück (sechs Augen), der Angekommene verabschiedet sich und geht hinaus in die Nacht.