III Was heilig ist

Während der folgenden Nachmittage marschiere ich beinahe täglich los, sei es an die Elbe, sei es durch die Stadt. Oft auch mit einzelnen Bewohner*innen, mit denen ich das Gespräch suche, um Magdeburg und die Magdeburger*innen kennenzulernen, ihre Sichtweise zu eruieren oder um mich mit ihnen über zukünftige mögliche gemeinsame Projekte auszutauschen und Ideen zu spinnen. Anders ist momentan kein Dialog möglich.

Der Vormittag also um zu schreiben, der Nachmittag für die Wahrnehmung, die Abende gehören der Lektüre, den Recherchenotizen, den Korrekturen. Außer es kommt etwas dazwischen – das Leben zum Beispiel. 

Was mich umtreibt, seit vergangenem Oktober schon und nun verstärkt, da ich diese Stadt durchstreife, ist die Frage nach dem Erinnern. Nein, ich meine nicht das Nicht-Vergessen einschneidender Ereignisse, die ganze Orte, Landstriche und Länder erfassten, sondern ich meine den rückwärts gewandten Blick des Individuums, der für mich seit jeher mit Lots Frau verbunden ist: Dieses entsetzte Erstarren über den Zusammenbruch, den Schutt, den man schaut, und im Erstarren sterben. 

Vielleicht weil mir diese Erzählung – in ihrer Angst – nahe geht, und mir das Scherbenstarren an und für sich unverständlich ist. Bevor ich auch nur einmal zurückschaue, blicke ich lieber nach vorne. Es ist das Pläne Schmieden einer Zukunft, welches mich am Leben und am Tun hält; mag sich diese Zukunft nun ereignen oder auch nicht, das dünkt mir irrelevant –  hätte ich vor einem Jahr noch in aller Ruhe gesagt. Derzeit, da die Absage schon Teil des Planens ist, fehlt sie mir, die Ruhe. Was, wenn diese Zukunft so fragil wird, dass sie kaum mehr fassbar ist, sie sich unserem Denken zu entziehen beginnt? Ab wann wankt dann der Boden derart gefährlich, dass sich in die Gegenwart dies Beben einschreibt, sodass jeder Schritt darüber schlingert? Als befände man sich an Deck eines Schiffes bei Seegang, unsicher, ob es je einen Hafen erreicht?

Solches Denken liegt momentan nahe. 

Halte ich mich deshalb fest – an Worten, an Orten? Und hier: der Marktplatz! Eine Birne für den Weg, eine für den Abend, und das Alte Rathaus zur vollen Stunde: Damit ich dort dem Carillonneur lauschen darf: 47 starre Bronzeglocken mit beweglichem Schlegel, die mit Drähten und Winkelhebel mit den ›Tasten‹ eines Stockenklaviers verbunden sind. Keine schwarz-weiß Klaviatur wie sie das Piano aufweist, sondern Holzstöcke, mittels derer die Melodien gespielt werden. Stehe am Platz und lausche, den Blick nach oben gewandt – als könnte ich sehen, was nur lesend zu erfahren ist: Der Glockenschmuck wurde geschaffen von Heinrich Apel, also von jenem Bildhauer, der diese Stadt so entscheidend mitprägte wie kein anderer seiner Kunst. Auf der größten Glocke steht ein Zitat des Autors Erich Weinert:

»Den Gedanken Licht, den Herzen Feuer, den Fäusten Kraft.«  

Weinert kennt hier offenbar jedermann. Mir war dieser Kollege bislang unbekannt. Man möge es mir nachsehen und der Historie zuschreiben. Dafür durfte ich mein Wissen im Literaturhaus Magdeburg erweitern, und den historischen Flyer zur »Gedenk- und Bildungsstätte Erich Weinert« mit leisem Lächeln studieren, aus dessen Silben der Zeitgeist seiner Entstehung um 1980 noch dampft: Ein schönes Dokument, auch wenn ich leise Zweifel habe, ob das »kampferfüllte Leben« wirklich diejenige Erzählung ist, die Literat*innen gerne über sich hören. Sehnen wir uns nicht viel mehr nach der Leichtigkeit sonnendurchfluteter Alleen – gerade weil wir oftmals dazu tendieren, das Leben und seine Angelegenheiten schwerer zu nehmen als andere? Oder wie es eine Magdeburgerin dieser Tage mir gegenüber formulierte: die erhöhte Sensibilität, die einen zur künstlerischen Arbeit befähigt, ist Segen und Fluch. Dem lässt sich nichts hinzufügen. Außer: Wer Weinert noch nicht kennt, der möge mal hineinblättern; oder sich die vertonten Varianten seiner (frühen) Gedichte anhören! Apropos Ohren: Sonntags, wenn die Stadt vormittags etwas weniger dröhnt, kann ich den Melodien des Carilloneurs zu den vollen Stunden sogar in meiner Gästewohnung lauschen. In sie mengt sich das Zwitschern der Vögel, die trotz der eisigen Winde im Verein mit Bäumen und Sträuchern davon erzählen wie grün diese Stadt in Bälde sein wird. Die Frühblüher aus ihren Gewächshauswänden schon nach draußen gebracht: Damit sie uns trotz aller Düsternis der Gegenwart in Erinnerung rufen, wie bunt das Leben sein kann. Dieser Erzählung bedürfen wir in diesem Jahr wohl dringender denn je.

Ja, das Erinnern … – Ist es, weil ich mich erzählerisch mit diesem Thema beschäftige, ist es, weil Magdeburg übervoll damit ist: Die Thematik begegnet mir an allen Orten und Ecken in dieser Stadt. Vom Alten Markt wandere ich in die Gasse rechterhand und um den Block – der Schriftzug »Rauchwaren« lockt mich. Kaum stehe ich im Laden, wächst mir aus dunklem Holz und Tabakduft die Erinnerung an meinen Großvater … und ein Kapitel der Erzählung! Nein, mehr sei an dieser Stelle nicht verraten, man wird es bei der Abschlusslesung hören, es später in Buchform nachlesen können.

Kaum ist die Szene ins Notizbuch gekritzelt, stolpere ich über die nächste Erinnerungsstätte: die Johanniskirche. Wie so viele Orte in dieser Stadt war auch sie dem Erdboden gleich gemacht worden, in jenem Jänner 1945. Apels klagende Mutter, ein Baby, schützend unter ihrem gekrümmten Körper geborgen, erinnert ebenso daran wie seine abgemagerte Trümmerfrau mit ihrer brüchigen Schaufel daneben:

»[…] Drei Jungen hatte sie der Welt gegeben.

Sie ging auf Arbeit schaffte Brot herbei.

Denn ihre armen Jungen mussten leben.

Sie hungerte; es reichte nur für drei.

& als die Söhne endlich groß geworden,

Da holte sie der Staat zum Militär.

Dann rief er auf zum großen Völkermorden.

Sie gab sie als Kanonenfutter her. […]«,

schrieb Weinert zwar bereits 1932 unter dem Titel »Die Lumpensammlerin«, doch könnte es ebenso für den tausendjährigen Wahnsinn gelten.   

Beide Skulpturen, die Mutter ebenso wie die Trümmerfrau, flankieren das Eingangsportal zur Johanniskirche, welches aufgrund seiner Gestaltung allein schon zahlreiche Geschichten erzählt wie sonst kaum ein Tor. Eine soll hier stellvertretend für alle, die rund um das Zerbrechen kreisen, wiedergegeben werden, und zwar diejenige, die sich ebenda in folgenden Worten unter dem ›Mund, der Wahrheit spricht‹ gestaltet: »Wer aber aus der Vergangenheit nichts gelernt und weiter Hass und Zwietracht sät, den klagen wir an!« Zu Hass und Zwietracht wäre gegenwärtig wohl noch ›Profitgier‹ hinzuzufügen, die unsere Erde und Zukunft zerstört …   

Was nach den Bomben am 16. Jänner 1945 von der Johanniskirche noch stand, zerfiel über gut fünf Jahrzehnte langsam vor sich hin. Bis man sich irgendwann gegen das Konzept der Ruine als Mahnmal gegen den Krieg und für den Wiederaufbau der Kirche entschied: Doch nicht als sakraler Raum sollte das Bauwerk in Zukunft genutzt werden, sondern als Kulturstätte und Veranstaltungszentrum. Die »Luther was here«-Tafel, wenige Schritte neben den beiden Frauenskulpturen, scheint mir persönlich eine zu vernachlässigende Erzählung – verglichen mit derjenigen von Schuld und Scham, Zerstörung und  ›Auferstehung‹. Zu Letzterem, zur ›Auferstehung‹ im Diesseits, brauchen wir die Kunst nämlich nötiger denn je. Gerade gegenwärtig, da wir allerorts vor verschlossenen Türen stehen, erhält auch die Kunst, die uns im öffentlichen Raum umgibt, eine relevante Bedeutung. Magdeburg, so ist man versucht zu sagen, ist diesbezüglich ein Eldorado, entschied man sich doch in den 1990er-Jahren dafür, nicht nur den Charakter einer Stadt der Kunst zu forcieren, sondern obendrein diese zahlreich im öffentlichen Raum zu etablieren: Kunst für jedermann und jederfrau quasi. Ein ketzerischer Gedanke sei es, schreibe ich von der Heiligkeit der Kunst?

Diesen Einwand riskiere ich. Des Wortursprungs des Adjektivs ›heilig‹ wegen, denn darin verbirgt sich ›das Besondere, das Verehrungswürdige‹, welches einem heilsam begegnet. Da dies in meinen Augen so ist, schlage ich diese These gerne an jede Tür: »Kunst ist heilig! Ihre Freiheit unantastbar.«

Wenn uns die Kunst, die ja gleichbedeutend mit einem Nachdenken über unser Sein ist, einem Nachsinnen über seine Essenz, nicht mehr heilig dünkt, was dann? Und wenn gleichzeitig dem Konsum alle Türen offen stehen? Nein, es komme mir bitte niemand mehr mit der Aussage, dass in solchen Zeiten die Künstler*innen wenigstens in aller Ruhe arbeiten können! Man muss schon einen hohen Grad an Ignoranz aufweisen, alle Gegenwart ausblenden, um derzeit ›in Ruhe zu arbeiten‹. Mangelndes Echo sowie Zukunftsangst schlagen sich auf die Psyche: Es ist für Künstler*innen gegenwärtig ein Sein im luftleeren Raum. Und dennoch versuchen wir im Hochseilakt unserer Leben, den Rezipient*innen Halt zu geben. #allesdichtmachen als satirischer Aufschrei sorgt in Deutschland gerade für Debatten; auch weil man die ganze Kampagne kaum anders als unglücklich nennen kann. Wie aber der Dialog geführt wird – ›Diskurs‹ möchte ich dies Geplärr lieber nicht nennen –, beweist unwiderlegbar, wir brauchen Kunst und Kultur: dringend! Und Gesprächskultur wäre ein guter Anfang! Um von dort aus ein Kunstwerk, eine künstlerische Intervention mal zuerst zu befragen, nachzudenken, wohl auch unser Kompetenzen in der Satire zu vertiefen, statt den Modus Copy-Paste anzuwerfen und eimerweise Häme auszuschütten. Oder Menschen gar zu bedrohen.

Ulrike Guérot, Professorin für Europapolitik und Demokratieforschung an der Donau Uni-Krems gegenüber dem Sender »Deutschlandfunk«: »›Die Kunst ist frei.‹ Das müsse erhalten bleiben. Die Künstler hätten auf die Hysterie im Diskurs um die Corona-Maßnahmen aufmerksam machen und auf gesellschaftliche Gefahren von Grundrechtseinschränkungen hinweisen wollen. ›Ich halte das für völlig legitim‹, betonte Guérot. ›Und wenn man jetzt sagt, wenn das von rechts vereinnahmt wird, dann darf das nicht sein, dann ist genau das das Problem unseres heutigen Diskurses, weil es gibt keinen Raum mehr für legitime Kritik.‹« (https://www.deutschlandfunk.de/debatte-um-allesdichtmachen-guerot-es-gibt-keinen-raum-mehr.694.de.html?dram:article_id=496222) Dem lässt sich höchstens noch hinzufügen, dass vielleicht ein anderes Genre als die Satire heiliger – im Sinne von ›heilsamer‹ – gewesen wäre. Ob auch ›sinnvoller‹, das scheint mir fraglich. Sicher ist: Wer nachdenkt, bedarf eines angstfreien Raumes, den nicht die Sorge um den nächsten Shitstorm begrenzt. Sonst wird alle Reflexion unmöglich.

Diese Maxime ist aber nicht gleichzusetzen mit einem Freibrief für Künstler*innen! Bitte mich in dieser Aussage nicht falsch zu verstehen. Ich bin absolut überzeugt, dass jede Künstler*in hinterfragen soll und für sich zu entscheiden hat, welche Grenzen sie oder er der eigenen Arbeit setzt. Die emotionale Befindlichkeit ›der Welt‹ kann in meinen Augen jedoch keine sein; die Freiheit der umgebenden Menschen hingegen sehr wohl, insbesondere im Hinblick auf Minderjährige. Oder um es exemplarisch zu sagen: Knausgårds Darstellung des Bettnässens seiner Kinder ist unethisch meines Erachtens, es steht ihm nicht zu, sein Kind dazu zu verdonnern, damit auf Dauer herumzulaufen. Kritik an politischen Verhältnissen, an Religionen, am Diskurs oder an der Politik etc. ist hingegen nicht bloß zulässig, sondern ich sehe in diesem Spiegel, den die Kunst unserer Gegenwart vorhält, auch eine der Daseinsberechtigungen und einen der Förderungsgründe von Kunst.

Ich denke an Sylvia Plath, die einst – am 12. Dezember 1958 – schrieb:

»Writing is a religious act: it is an ordering, a reforming, a relearning and reloving of people and the world as they are and as they might be. A shaping which does not pass away like a day of typing or a day of teaching. The writing lasts: it goes about on its own in the world. People read it: react to it as to a person, a philosophy, a religion, a flower: they like it, or do not. It helps them, or it does not. It feels to intensify living: you give more, probe, ask, look, learn, and shape this: you get more: monsters, answers, color and form, knowledge. You do it for itself first.« (The Unabridged Journals)

Ich bin also mit meinen ›ketzerischen‹ Gedanken über die Heiligkeit der Kunst in guter Gesellschaft. Auch für Sylvia Plath schloss sich daran die Reflexion an, wie mit diesen Dämonen und der Unsicherheit eines solchen Seins zu leben sei; doch schlimmer, schlimmer als all diese Unbill sei es, ohne das Erzählen zu leben, schließt sie, und während ich die Kirche einmal, zweimal umrunde, den kalten Winden trotze, bildet sich langsam aus all dem die erzählerische Gegenwart des nächsten Kapitels … Meinem Erschrecken über den gespenstisch Erhobenen geschuldet, der sich drohend aufzurichten scheint und mir an diesem Nebelnieseltag zu plötzlich auftaucht, sich beinahe dämonisch erhebt. Erst im näheren Betrachten und in seiner Benennung – »Gekreuzigter« – erkenne ich, was er meint und weswegen er wütet: Das bekannte Marterinstrument ›Kreuz‹ fehlt dieser Skulptur von Fritz Cremer nämlich, wodurch sie gänzlich anders wirkt als gewohnt. Oder um es mit Plath zu sagen: Kunst ist dazu da, durch Irritation eine neue Sichtweise zu gewinnen.

Umrunde ein drittes Mal diese ehemalige Kirche, staune über die Glocken, die am Boden ruhen, bewundere ihre reichen Verzierungen. 

Durchfroren wandere ich zurück in meine Gästewohnung, an Einkaufszentrum 1 und 2 vorbei, um bei Shopping Mall 3 die Straße zu queren.

Das war übrigens eine der ersten Erzählungen dieser Stadt, die ich frappiert wahrnahm: Dass mitten im Zentrum sich ein dem Konsum geweihtes Haus an das andere reiht. Wer soll ihre Existenz finanzieren? Offenbar gibt es hier deren genug.

Und wenn ich nun anmerke, dass sich gleich neben einem solchen Konsumtempel eine Tafel findet, die davon erzählt, dass hier einst eine Kirche stand – St. Ulrich –, so könnte man lesend daraus eine Kritik an den Verhältnissen schließen, doch nicht deshalb sei es notiert, sondern weil es auffällt! Städteplanerisch mag es sinnvoll sein, die Menschen zum Stillen ihrer Kauflust nicht einzig an die Ränder der Stadt zu schicken, sodass belastete Luft und zubetonierte Flächen vorprogrammiert sind, Hand in Hand mit einem Aussterben der Innenstadt, einem Leerstand der alten, kleinen Läden. Visuell sind wir Shopping Mails in Innenstädten jedoch kaum mehr gewohnt. 

Einer erzählte mir, die Magdeburger seien bezüglich des Einkaufens auch noch in einem anderen Punkt ein wenig eigen: Wenn ihnen ein Laden zusage, sie ihn seit Jahrzehnten schon kennen, dann bleiben sie ihm treu; umso mehr, wenn er sich in ihrem Kiez befindet. Der Juwelier, bei dem schon die eigenen Eltern einst die Eheringe gekauft hätten, der Optiker, zu dem man immer schon gegangen sei, die frequentiere man, bis Eindeutiges ganz entschieden dagegen spreche, denn nichts könne mehr taugen als das Altgewohnte und sowieso sei früher alles besser gewesen: Das sei die Magdeburger Form des Erinnerns, und er als echter Magdeburger durch und durch dürfe das sagen: Home is were the Dom is …

Nicht weil man religiös sei, nicht weil man sich diesem sakralen Raum so verbunden fühle, sondern weil er schlicht und ergreifend die Stadt mit seinen 101 Metern überrage, die Türme von überall zu sehen seien. Dass dem bis heute so ist, hat die Stadt der Tatsache zu verdanken, dass ein Bauvorhaben ›für verdienstvolle Arbeiter‹ der DDR für das Areal, auf dem heute ein Konsumtempel steht, nie umgesetzt wurde: Ein Wohnpalast mit allem Pipapo sollte errichtet werden. (Den Ösis unter den Leser*innen sei geflüstert, dass ›verdienstvoll‹ hier im Parteisinne und -gehorsam zu verstehen sei …)

Selbst wenn sich ein Magdeburger, eine Magdeburgerin entschlösse, Jahre auswärts zu leben, käme man zurück, sehe man den Turm des Doms, dann sei man Zuhause. Er lacht mich an, über seine Maske hinweg, streicht sich die Haare aus der Stirn: Das könne man als Ortsfremde wohl nur schwer verstehen, oder?

Der Dom – als Symbol für Heimat, Zuhause, Verbundenheit? Ja, sonderbar für eine Österreicherin. Betritt man ihn, kommt er einem protestantisch, bis sich die Apsis katholisch bildet, um an der Seite, im sogenannten Paradiesportal einen Dialog über Jahrhunderte zu führen: Dass man dort einst die Synagoga blind schuf, die gekrönte Ekklesia siegreich und triumphierend, stieß manchen (und aus heutiger Sicht verständlicherweise!) sauer auf. Dabei gestaltete sich das Nebeneinander der Religionen bis ins 13. Jahrhundert zwar nicht unkompliziert, doch ohne Pogrome, da Kaiser Otto der Große, der diese Stadt bis heute prägt, im Jahr 965 die am Rand des Dombezirks lebende mosaische Gemeinschaft ebenso wie die Kaufmannschaft allgemein unter den Schutz des Erzbischofs stellte. Einen Bund den Otto II. 973 erneuerte. Die ersten Erzbischöfe fühlten sich dem auch verpflichtet, und 1207 dankte Erzbischof Albrecht von Käfernburg bei seinem Einzug in Magdeburg den Ältesten nicht nur für ihren Willkommensgruß, er küsste auch eine der Thorarollen. Nach seinem Tod 1233 wandte sich jedoch das Blatt. Davon erzählen zuvor erwähnte Sandstein-Statuen Ekklesia und Synagoga, die 1240 errichtet wurden: Ekklesia thront stolz auf der Seite der klugen Jungfrauen, Synagoga hingegen demütig geneigt, die Gesetzestafeln drohen, ihr aus den Händen zu gleiten, auf der Seite der Törichten,deren Wehgeschrei trifft vernehmbar das Auge des Betrachtenden. Die lachenden Klugen aber kichern mir so dämlich, dass ich sie schon ihres Anblicks wegen dorthin wünsche, wo der Pfeffer wächst. Was hat sich der Skulpteur bloß dabei gedacht? Er hat wohl nie eine kluge Frau herzhaft lachen sehen, wenn er uns dies doofe, schadenfrohe  Gegrinse als ›glückselig‹ verkaufen will!

Auch der Engel, dessen Gesichtsausdruck als ›Magdeburger Lächeln‹ in die Kunstgeschichte eingeht, und der einem auf dem Weg um die Apsis zum Paradiesportal begegnet, hat in meinen Augen ein Lächeln der Häme auf dem Gesicht, wie er so neben Maria steht, deren Bauch sich schon wölbt, während sie noch davon plappert, dass sie doch sicher gar nicht schwanger sein könne, woher denn auch, hat sie doch noch nie … Der Engel aber scheint sich seines zu denken und grinst hämisch vor sich hin. Ja, zweideutig ist sein Gesichtsausdruck …

Was will es uns nun erzählen, wenn wir das als ›Magdeburger Lächeln‹ benennen? Dass man hier lieber über das Wissen schweigt und hämisch grinst – wirst es schon noch sehen, dass ich Recht habe? Ich weiß nicht. Deckt sich nicht mit meiner Wahrnehmung der Magdeburger*innen. 

Die Botschaft von Ekklesia und Synagoga hingegen ist klar:

Wer das Judentum herabsetzt, hat den Segen der Kirche. Damit begannen Jahrhunderte der Vertreibung. Die Pest war ein guter Vorwand (1349), jede Gelegenheit zum Schröpfen (1384, Erzbischof Albrecht III) und zum Schüren antisemitischer Ressentiments wurde genutzt (1492, ein Jude zu Pferd, das Tier scheut vor einem Mönch, der bei nächster Predigt wettert und damit Vertreibung in Gang setzt) – 1493 waren auch die letzten Magdeburger*innen jüdischen Glaubens aus dem Stadtgebiet verjagt – nachdem man sie zuvor gezwungen hatte, ihr Hab und Gut zu veräußern. Erzbischof Ernst von Sachsen gebührt die Schande dieser Tat. Damit nicht genug: Aus Judendorf (im Südwesten der Stadt, das Viertel heißt heute Sudenburg) wurde Mariendorf, die Synagoge eine Marienkapelle, die Gedenksteine vom Friedhof entfernt, zum Bauen verwendet. Und der Erzbischof ließ sich unrühmlich ein Grabmal errichten, vor den er sich einen siebenarmigen Leuchter, in Anlehnung an die Menorah, stellen ließ: Was einst der Leuchter der Bundeslade wird nun zum Symbol der sieben Gnadengaben des heiligen Geistes: Weisheit, Erkenntnis, Einsicht, Rat, Stärke, Frömmigkeit und Gottesfurcht. Wie zynisch. Zynisch genug? Mitnichten. Für eines der Kapitelle wurde obendrein ein ›besonderer Schmuck‹ erdacht, ein Spottbild: Das im Weltbild der Jüdinnen und Juden unreine Tier Schwein ist als Sau abgebildet, umringt von Jüdinnen und Juden, von denen einer sogar an ihren Zitzen saugt.

Die Historie der Verhöhnung, des Vertreibens und Mordens endet nicht damit wie wir alle wissen. Am 1. September 1934 sprang Sophie Masting, Frau eines Kaufmanns vom Nordturm des Domes in den Tod. Ihrer gedenkt heute einer der zahlreichen Stolpersteine in der Stadt. Und eine Inschrift, die aus dem »El male rachamim« zitiert: »So berge sie doch Du, Herr des Erbarmens, im Schutz Deiner Fittiche in Ewigkeit.« Weil wir versagt haben.

Rund 150 Stolpersteine mahnen in Magdeburg unser Erinnern ein, die hinter den Namen seienden Gesichter und Lebensgeschichten kann man im Alten Rathaus im Eike-von- Repgow-Saal (benannt nach dem Verfasser des »Sachsenspiegels«) nachlesen. Der Magdeburger Designer Ernst Albrecht Fiedler, einer der Initiatoren dieser und anderer Erinnerungsmahnungen, ließ mich nicht nur einen Blick in die dazugehörigen Mappen werfen, sondern sprach mit mir lange über die Thematik. 

Stolpersteine als Kunstwerk bringen uns bewusst aus dem Takt. Vielleicht stärker als das Denkmal der Alten Synagoge von Josef Bzdok, an welchem ich beinah vorbeilief auf der Suche nach ihm – ein Türrahmen, eingebrochen beinah, nur das Buch, auf dem er ruht, verhindert den Einsturz. Auf den Buchseiten des Kunstwerks wird erinnert – an »287 unschuldige Opfer«, nämlich die Kinder; und an andere »Magdeburger jüdischen Glaubens«, die dem Naziterror zum Opfer fielen. 

Und im Dom, im Paradiesportal: 

»Verschmähte Schwester Synagoge, vergib unsere todbringende Blindheit. Ohne Ende gilt Gottes Verheißung dir wie uns.« 

Dass man sich im Dom  für das mahnende Erinnern entschied, lieber auf ›Judensau‹ und Leuchter hinweist, statt diese zu entfernen oder verschämt zu verbergen, spricht für sich: Man setzt bewusst auf Wissensvermittlung, in Führungen, Flyern und Bodentafeln, um ein Bewusstsein zu schaffen, will den Bau einer neuen Synagoge – auch als Zeichen des Dialogs – fördern, statt Historie fürderhin unter den Teppich zu kehren.

Ich denke an die Ansammlungen der Konterfeis, die gegenwärtig Laternenmasten zu erweitern beginnen, Gesichter und Slogans stehen zur Wahl. Wie allerorts in Europa finde sich auch hier diejenigen, die nach wie vor und vorzugsweise ein Wir versus Die-da beschwören. Möge man die Lehren, die sich allerorts in dieser Stadt abbilden und die mahnend erinnern, beherzigen, wenn man das Kreuz auf dem Wahlzettel macht; und dies nicht nur hier, sondern auch anderswo!

II ›Schatzi‹, ich bin in Magdeburg

Am Schreibtisch bin ich Teetrinkerin aus Passion. Arbeiten, nachdenken, die Hände um eine Tasse Kräutertee gelegt, ein Schluck – und weiterschreiben, weil sich eine Idee bildete, aufstieg, aus dem duftenden Getränk. Was im Frühsommer im Kräutergarten des »Arthofs« geerntet wurde, getrocknet an den alten Dachbalken des Hauses, gerebelt in große Teedosen, die Mischungen zusammengestellt in den kleinen … Mitgebracht nach Magdeburg für die erste Zeit – der »Gute Morgen!«, »¡Concentrate! für den Schreibtisch und »Licht ab!«. Doch was diesem Haushalt-auf-Zeit, den ich bewohne, entscheidend fehlt, ist eine Teekanne. Kochtopf und Suppenschöpfer sind nicht wirklich ein schreibtischfreundlicher Ersatz, und Schwenk-Schütt noch weniger. So führt mich am ersten Tag nach der Quarantäne mein Weg in das nächstgelegene Einkaufszentrum: Es wird doch wohl einen Laden für Küchenutensilien darin geben!

Nicht nur das, sogar einen für Tee. Somit habe ich nach drei Minuten die Qual der Wahl zwischen dreißig Kannen:

Na, das kann dauern … 

Entscheidungen sind immer schwierig, und diese Kanne solle mich doch auf Jahre begleiten, an Magdeburg erinnern, an diesen Tag. Vorausgesetzt: Ich lasse sie nicht fallen, im Ganzen oder in Teilen – im Zerbrechen von Kannendeckeln bin ich nämlich ein Genie. Das schaffe ich in der Windeseile eines Monats. Weil ich als Körper im Raum der Küche stehe, in der Wahrheit des Inneren aber in einer anderen Zeit, in einem anderen Zimmer, mitten in einem Erzähluniversum: ein ganz anderer Mensch. Da fallen dann schon mal Deckel aus der Hand oder Tassenhenkel überstehen den Rand des Spülbeckens nicht. Dann werden Blumenvasen und -töpfe daraus, begrenzen die Kräuterbeete … 

Hier in diesem Laden gibt es große und kleine Kannen, farbenfrohe und edle, zweckmäßige und originelle, mit Tassen und ohne – Himmel, wie soll man da die Richtige finden? 

Über meine verzweifelt erhobenen Hände kommen die Besitzerin und ich ins Gespräch, das uns sehr rasch zu der Frage führt, was eine mit solcher Aussprahe zu dieser reiseunfreudigen Zeit just nach Magdeburg führe, wenn die Kanne danach wieder bis nach Österreich reisen solle, die Bahn überleben, irgendwann, im Herbst: Was bitte mache so eine wie ich im Besonderen und eine Stadtschreiberin im Allgemeinen? Hätte diesen Posten nicht lieber ›eine aus der Stadt‹ erhalten sollen? Bevor ich eine Entgegnung artikulieren kann, schiebt sie nach: Ich möge dies bitte nicht falsch verstehen, aber – eine von hier: Die kenne sich doch aus!

Stimmt. 

Wohingegen eine wie ich … 

… wie der Ochs vor dem Tor steht und keine Ahnung hat: Ja. Daran ändern auch vorherige Lesereisen nach Deutschland nichts, denn der Alltag im Hierleben ist eben etwas gänzlich Anderes als eine Lesetour. Auf der versucht man nicht zu eruieren, ob Altpapier und Karton in getrennte Container wollen, sucht nicht den Gelben Sack oder eine ebensolche Tonne, ja, weiß doch der Himmel, wohin das Plastik soll! Man verwirrt sich in der Kürze solcher Ortsaufenthalte auch nicht über fremde Türöffnungssysteme: In dieses wird mich freundlicherweise ein junger Herr einweisen, als ich mal wieder, Gemüse in der Schultertasche links, Obst in der Schultertasche rechts, am Rücken die Korrekturen, die ich zuvor im Park machte, an der Haustür werke: Linke Hand legt den Schlüsselbund auf den Knauf unter der Schnalle, schon läuft die Brille oberhalb der Maske an, rechte Hand dreht den Knauf und zieht an der Tür – bitte nicht zögern, sonst geht das ganze vermaledeite Sperrspiel von vorne los. Ich könnte dieses feinmotorische Wirrsal durchaus ein wenig einfacher haben, würde ich den Schlüssel auf dieses Feld mit den Rillen auf die Klingelleiste legen, sagt der Mann hinter mir – sinngemäß, und dass er sich ja nicht einmengen wolle, er meine es nur: gut. 

Und Recht hat er.

So wird ja aus dem Rechts-Links-Gemurks ein Kinderspiel, antworte ich, mich für mein Unwissenheit entschuldigend, woraufhin er sich für seine Einmischung entschuldigt – na, da treffen zwei Entschuldigungsfreudige aufeinander, im jungen Inder und in der Österreicherin!

Wer fremd ist, sich erst alle Systeme erarbeiten muss, der nimmt auch mehr wahr, weil er oder sie eben als Ochse vor dem Tor steht. Oder als Ochslein, denn mit breitschultrigem Riesenbau kann ich wohl nicht aufwarten. Sie oder er hat wenigstens  an und für sich die Chance, einen Blick von außen zu werfen, wird Begegnungen herausfordern, schon allein durch den Versuch der Orientierung, wird anders zugehen – auf den Ort, den sie nicht kennt, auf die Menschen, um dann darzustellen, was die Einwohner*innen bewegt, was in ihnen vorgeht, was das Besondere an dieser Stadt ist.

»So, so …«, sagt die Teeladenbesitzerin. 

Wie schwierig sich dies gegenwärtig gestalte, da einzig ein fortwährendes Tête-à-Tête im Spaziergang möglich sei, keine Gruppen, kaum Zufallsbegegnungen, selbst das im Vorbeigehen lauschende Ohr ist einschränkt; weil ewig der zum Halbstarken angewachsene Babyelefant zwischen Dir und Mir grüßt, wann bitte dürfen wir dem endlich die Luft rauslassen, damit wir wieder eine haben? Darüber schweige ich lieber.

»Aber wie wird denn so eine ausgewählt, eine Stadtschreiberin?«, fragt die Hüterin der Kannen samt ihrer Deckel.

Na, man reiche eine Bewerbung ein, diese werden einer Jury vorgelegt, und die entscheide sich dann eben für eine Person; dieses Mal halt für mich. 

Die Ladenbesitzerin nickt versonnen, hält plötzlich mitten im Nicken inne, strafft die Schultern: 

»Also: Was die Menschen bewegt«, wiederholt sie – »das ist doch derzeit vor allem eines, nicht?« 

Verstummt. Nickt nochmals. 

Fragend hebe ich die Augenbrauen. 

»Überleben!« 

In dem Wort steckt alles; und als habe es einen Damm gebrochen, beginnt sie zu erzählen, wie die Situation so sei, für die Kleinstunternehmer*innen, die Selbstständigen, die angewiesen sind auf ihr Einkommen und ohne Polster im Rücken an einer ersehnten Zukunft werken.

Was ihnen ja auch gegenwärtig möglich sei, fügt die Ladenbesitzerin hinzu: das Arbeiten. Sie dürften ja offen haben, ihre Ware verkaufen; und weil sie es dürfen, tun sie es auch, Unterstützung gäbe es folglich keine. So sehe das der Staat. Dass weitaus weniger Leute in die Läden kämen? Dass – wie in ihrem Fall – keine saisonalen Märkte zu Weihnachten und Ostern veranstaltet werden können, dieses Marktfahren aber ihr Haupteinkommen sei? Dafür könne der Staat nichts; in seinen Augen. Also was tun, nach einem Jahr ohne Marktgeschäft – und wer wisse schon zu sagen, ob es heuer einen Adventmarkt geben wird? 

Deshalb habe sie in diesen kleinen Laden hier, im Einkaufszentrum, als Ersatz angemietet, in die Regale und Aufsteller investiert, damit nicht alle Einkünfte ausfallen, aber das … sei kein Arbeiten. Es fühle sich nicht so an. ›Arbeiten‹, das bedeute für sie frühmorgens aus dem Bett, noch im Dunkeln los, am Marktplatz im Heute-hier,morgen-dort den Stand aufbauen; die Gemeinschaft mit den anderen Budenbesitzer*innen. Das Miteinander gehöre ebenso dazu wie die Witterung, die Kälte, deretwegen man eben am Stand darauf achte, sich ständig zu bewegen – das Standlerinnenleben verlange viel, auch körperlich, vor allem im Winter.

Ich nicke – ja, natürlich hat das Budenleben der Aussteller*innen nichts gemein mit Ladenhocken. Ich war oft genug mit dabei, um das zu wissen, da mein ehemaliger Mitbewohner vier Jahre lang auf Märkte fuhr. So bot es sich an, ihn zu begleiten: Bücherkoffer auf die Budel. Wenn wir Künstler*innen schon unsere Haut zu Markte zu tragen haben, dann doch bitte wenigstens richtig; und verbunden mit Gesprächen am Stand, seien die neugierigen Nasen nun Leser*innen oder andere Marktfahrer*innen.

Den Zusammenhalt der Ausstellenden habe ich sehr zu schätzen gelernt während jener Jahre, diese kleine Wirtschaftswelt, in der man weiß, dass man einander Konkurrenz ist und das eigene Überleben trotzdem nur in Kollegialität funktionieren kann: Schließlich braucht ein jeder mal den Austritt, wird vom Hunger geplagt oder bedarf nötiger Informationen, denn es ist gut zu wissen, was dem Bio-Tom letzte Woche in der Bezirksstadt passiert sei … Während des Plausches geht der Warentausch von Stand zu Stand leichter, die Wollsocken für mich gegen das Buch für die Lebensgefährtin …

Irgendwann gewöhnen sich auch die Passant*innen daran, dass neben Bio-Gemüse und Schaf- oder Lama-Produkten, Bauernbrot, Holzspielzeug und Honig auch ein Bücherstand zur geistigen Nahversorgung angeboten wird … meine Güte, warum nicht? Keinem fällt dabei ein Zacken aus der Krone, ab und an auf dem Markt zu stehen! Und aus ihrem Perplex-Sein entstand oft ein Gespräch über das Nachtkästchen und was darauf liege, über Lektürevorlieben und Lebensträume …

Thomas Bernhard ist übrigens schuld daran. Er warf seinem Verleger Siegfried Unseld mal unwirsch an den Kopf,  was sei der denn für ein Verleger, wenn er in sage und schreibe drei Jahren nicht mehr als 1.800 Exemplare von der »Verstörung« verkaufe, diese Zahl sei ja alleine »[…] so absurd, daß das kein Mensch glaubt, wenn ich das sage.« Wäre er mit einem Rucksack voller Bücher losgezogen durch die Lande, hätte er in vier Wochen sicher mehr verkauft.

Vielleicht kann nicht ein jeder und eine jede nachvollziehen, weshalb ich über solche Aussagen herzlich lachen kann, die Verleger*innen wahrscheinlich eher nicht. Mein Bücherkoffer ist jedenfalls ein Resultat aus Lektüre, Gelächter und Lebenszufall; wie so oft in der Inspiration kommt eines zum anderen und fügt sich zu einem Dritten. 

Das Marktfahren, sagt die Hüterin der Teekannen und -mischungen, habe sie herausgefordert. Ja, durchaus. Doch nun, seit sie ganztags hier im Laden stehe, da habe sie plötzlich »einen Rücken«. 

Ich gucke verdutzt. 

»Ja, ja! Das können Sie mir schon glauben!«

Bevor ich noch erwähnen kann, dass ich nicht verstehe, was sie damit meine, schließlich habe sie ja wohl tagtäglich ›einen Rücken‹, fährt sie fort: Sie könne doch nicht stundenlang die Regale putzen. Oder tagtäglich alles von links nach rechts, von rechts nach links räumen, nur damit sie in Bewegung bliebe! Seit sie jedoch hinter der Ladentheke hocke und den ganzen Tag warte, tue ihr alles weh, jeder einzelne Knochen!

Nun erst verstehe ich, was sie meint!

Verschluckt man hier das Weh – ist das nur ihre persönliche Sprachform? Oder hat man in Magdeburg einen Rücken, einen Kopf, einen Nacken? So wie in dieser Stadt jede unbekannte Frau im öffentlichen Raum eine ›junge Frau‹ ist? Sie glauben mir nicht? Na dann, kommen Sie nach Magdeburg! Gehen Sie in eine Apotheke, und während man dort Ihre Kräuter mischt, treten Sie wartend beiseite, verharren, halb verdeckt, hinter einem Regal, schon werden Sie es hören: ›Ah da ist ja die junge Frau!‹

Beim ersten Mal schrieb ich es noch dem Wintermantel, der riesigen Kapuze, dem breiten Schal zu – was war denn schon zu sehen, außer einem paar Augen über einer Maske? Auf jeden Fall nicht die zahllosen weißen Haare, die mir das vergangene Jahr bescherte. Ich hätte diese Ansprache sicherlich vergessen, wäre ich nicht wenige Tage später auf Ingwersuche im Supermarkt neben zwei älteren Herren zu stehen gekommen, von denen der eine zur Eile drängte, während der andere ratlos von dem Einkaufszettel in seiner Hand zu den ausgebreiteten Äpfeln blickte: ›Die junge Frau, die kann uns sicher sagen, wie der Elstar schmeckt! Ist das ein guter Apfel?‹ … 

Ob der ältere Herr in österreichischer Ehrlichkeit in Magdeburgs ›Unbeholfenheit‹ gleichfalls ein ›jüngerer Herr‹ würde, das kann ich Ihnen nicht sagen, nur dass mir zwei eingefleischte Magdeburger die ›junge Frau‹ damit erklärten: Es sei eben eine gewisse, ja, Unbeholfenheit, im Dialog mit unbekannten Menschen. 

Freuen wird die Verjüngungskur den älteren Herren wohl genauso wie die ältere Frau, nicht wahr? Also, wenn Sie in reisemöglicher Zukunft mal Ihr weißes Haar und die Falten des Alters nerven, tun Sie sich selbst etwas Gutes: Stopfen Sie alles in einen Koffer und auf nach Magdeburg! Ich verspreche Ihnen: Es hilft!

Wegen des Rückens, sagt die Ladenbesitzerin, habe sie sich jedenfalls einen Hula-Hoop-Reifen gekauft. Weil sie dachte, dann können sie »im Kreisen ein bisschen was davon abbauen«, aber um die Wahrheit zu sagen: Genutzt habe der Hula-Hoop bislang nichts, rein gar nichts. Der Schmerz sei nach wie vor ständiger Begleiter. Dabei klinge das doch logisch, oder? So ein bisschen Kreisen, hinter der Budel, da sehe das ja keiner, und schon führt sie mir ihr imaginäres Hula-Hoop-Schwingen vor, ja, ja, ich solle ruhig lachen, und abwechselnd wischen wir uns die Lachtränen zwischen Brillen- und Maskenrand ab. Selbst haltloses Gelächter ist gegenwärtig ein komplexes Vergnügen.

Ihr Mann, der habe von Anfang an über ihre Idee gespottet habe, jetzt lache sie halt mit ihm, denn was tun, mit dem Reifen, der ewig nur hinunterfalle? 

Ich schlage ihr vor, sie könnte ihn ja unter einen Luster hängen und die Osterdekoration daran befestigen; für Weihnachten und ein paar Christbaumkugeln tauge der sicherlich auch.

Da erklärt mir die Ladenbesitzerin in typischer Magdeburger-Trockenheit, dass der Hula-Hoop-Reifen eh zu zerteilen sei und als Viertelkreis leicht im Kasten verstaut werden könne. 

»Na dann …«, antwortet mein wienerisch beeinflusstes Ich.

Und welche Teekanne nehme ich nun? Greife nach der ersten, die mir ins Auge stach, gleich als ich hereinkam, der Bordüre aus Lavendelblüten wegen.

Soll ich ihr sagen, dass ich glaube, dass die Sorge darin sitzt, im Rücken? Dass es nicht am plötzlichen Wegfallen der Umtriebigkeit liegt, sondern vielmehr am ewigen Kopf-hoch: Und noch ein bisserl lächeln, noch eine Idee gebären, noch immer Optimismus verströmen – weil es ja weitergehen muss, weil es halt immer weitergehen muss, weil es eben irgendwie immer weiter …? Während uns allen dieses Kopf-hoch die Kraft aus dem Leib frisst, ewig hungriges Etwas, das es ist?

Stelle die Kanne auf die Ladentheke, eine Tasse daneben, Nachmittags-Teemischungen. Versorgt.

»Sie haben meinen Tag gerettet«, sagt die Frau zu mir, während sie die Rechnung in die Kassa tippt. Und Sie den meinen, denke ich, in Erinnerung an unser Tränenlachen: Es tat schlicht gut und war jeden Cent wert.

Anderntags – ich stöbere durch einen kleinen Laden in einer Seitengasse – auf der Suche nach einem Geburtstagspräsent für meine Mutter, als die Tür mit viel Schwung aufgerissen wird, bevor ›eine junge Frau‹ (im Magdeburger Ton), völlig außer Puste hereinstürmt: »Bin ich froh! Danke, dass Sie offen haben! Ich brauche ganz dringend ein Geschenk, und bei Ihnen habe ich immer etwas gefunden …«

Mein Blick gleitet zur jungen Verkäuferin: Man muss nicht sehr genau schauen, um zu bemerken, dass sie diese Anrede und die damit verbundene Anerkennung ehrlich freut; nette Worte, spontan geäußert, die keinen etwas kosten und dennoch so viel wert sind. Mehr als der Schein, den die Kundin am Ende neben die Kassa legen wird. Ich frage mich, wieso kann es nicht immer so sein? Bedarf es dazu wahrlich einer Pandemie, dass wir einander mit ein paar freundlichen, wertschätzenden Sätzen gegenseitig den Tag erleichtern?

Offenbar: ja.

Ich setze meinen Weg fort, will die Buchhandlung »Fabularium« aufsuchen, um mit der Besitzerin eine Veranstaltung zu vereinbaren. Das »Fachgeschäft für wohlsortierte Buchstaben«, wie sich der Laden untertitelt, lässt mich schmunzeln. Ich erkundige mich, wie es ihr denn so gehe, in dieser für den Handel schwierigen Zeit – selbst wenn die deutschen Buchhandlungen kein Betretungsverbot erhalten hätten wie ihre österreichischen Kolleg*innen. Sie sei verblüfft und dankbar wie treu ihre Kund*innen in diesem Jahr waren; bewusst hätten sich viele gegen die Bestellung im Internet entschieden, weil der kleine Laden um die Ecke ihnen als Ort wichtig sei, sie ihnen – als Mensch – wichtig sei. Diese Wertschätzung zu erleben sei ungemein berührend, schenke auch ein wenig Leichtigkeit, und davon könnten wir derzeit ja wohl kaum genug bekommen, oder?

Es geht eben nicht nur um das wirtschaftliche Überleben, es geht auch um Zuspruch, Achtung, Wertschätzung. Gut möglich, dass den Rücken auch das schmerzt – ein neuer Ort, mitten in einer Shopping Mall, und kein Alle-Jahre-wieder, hier-auf-unserem-Weihnachtsmarkt: Wie schön, dass du da bist …!  

Während ich dies schreibe, die eine Hand um die Teetasse mit Lavendelblütenmuster gelegt, steigt langsam sich kringelnd Dampf auf: »Schatzi« heiße die Mischung, die sie mir empfehle, sie werde mir mit ihrem feinen Duft nach Orangenschalen gut tun, und die Erinnerung bringt mich zum Lächeln. Nehme einen Schluck: weiterschreiben …