Nellja Veremej: Tiere schauen Menschen an

Über die Tatsache, dass das Museum um diese Zeit menschenleer war, wunderte ich mich kaum – es war ein warmer, sonnenheller Samstagnachmittag im Mai und das Grün draußen war so frisch und neu, dass die Mitarbeiter sich bei jeder Gelegenheit zur offenen Tür stahlen, um an dem schönen Tag zu schnuppern und flüchtige Blicke auf die Uhr zu werfen.
Es war nicht mein erster Besuch im Magdeburger Museum, diesmal ging ich gleich zu den Spinnen, die Sonderausstellung endete in den darauffolgenden Tagen.
Trotz vieler Lichtfluter und Lampen wirkten die fensterlosen Räume finster wie unterirdisch. Und da, wo aus der Türöffnung die Glut des Sonnentages in den Raum platzte, sahen die ausgestopfter Tiere noch toter aus als sie waren und es war schwer vorstellbar, dass zehn Meter weiter hinter den Mauern draußen eine schwarze, seidenglänzende Amsel nach sich krümmenden Würmchen in die Wiese pickt und aus der Erde saftige Stängel und Ranken sprießen.
In dem langen Saal mit der Spinnenausstellung gab es zwar Fenster, die allerdings waren zugezogen. Das Licht, das von draußen durch die schmalen Ritzen zwischen den Rollosstreifen hineindrang, schnitt die dunkle Luft in gleichmäßige Scheiben. Die Glaskästen mit den Spinnen standen auf akkurat gereihten, schwarzen Klötzen, was dem Raum eine sakrale Note verlieh – mir war, als ob ich in eine Gruft geraten wäre.


Die Spinnen hatten sich gut getarnt oder waren in ihre Höhlen gekrochen – die Kästen schienen unbewohnt, bis auf eine, wo gleich mehrere Tiere zu sehen waren: eine große haarige Vogelspinne und  zwei Grashüpfer, die dem Herren dieses Kastens als Futter dienen sollten. Das Futter hatte Augen und diese schauten mich an, angespannt und fragend.

Die Spinne ruhte, und die beiden Hüpfer bewegten sich sehr langsam, fast unmerklich. Einem von ihnen, auf dem Bild links, fehlte ein Hinterbein, und sein leichtes Hinken wirkte so menschlich, dass mir schien, er wird jetzt gleich tief und resigniert seufzen.

Ich ging durch das menschenleere Museum weiter und konnte den Gedanken an den einbeinigen Grashüpfer nicht los werden. Als Kinder haben wir ja auch Käfer und Kaulquappen in Marmeladengläsern gesammelt – ihr Anblick, wie sie verzweifelt um ihr Leben rangen, amüsierte uns.

In Nabokovs Roman „Die Gabe“ erzählt der Protagonist, wie er als Kind einen Spatz einfach so, aus Langeweile abschoss und ihm Vater, ein berühmter Naturforscher, der in seinen weiten Reisen unzählige Vögel getötet und präpariert hatte, diesen Spatz nie verzeihen konnte – wegen der „Langeweile“ als Beweggrund …

Auch der Heilige Georg, dem ich in einem anderen, der Kultur gewidmeten Saal begegnete, strahlte bodenlose Langeweile aus, während er seine Lanze in den Rachen des Drachen stieß.

So einen apathischen Georg hatte ich bisher noch nicht gesehen, ich blieb stehen.

Der Legende nach tötete Georg den Drachen, um die Königstochter zu retten, die Aktion sollte den mutigen Kampf gegen das Böse symbolisieren, aber irgendwie strahlte der Held keinen Mut und keine Entschlossenheit aus. Und während er so teilnahmslos seine Lanze in den Rachen des ihm zur Füße liegenden Bösen stieß, krümmte sich dieses vor Schmerzen, den dünnen Schwanz eingezogen, die vorderen Extremitäten seitlich ausgestreckt, resigniert und sich ergebend, wie am Kreuz.

Unsere Museen sind voller Bilder, wie Menschen mit Hingabe Tiere jagen, als hause in den von Pfeilen durchbohrten Löwen oder Ebern der Satan selbst. Auch wenn heute das blutige Grauen nicht als Kampf gegen das Böse zelebriert wird, quälen und erniedrigen wir Tiere milliardenfach, stellen dies aber nicht so gerne zur Schau wie früher.

Auch das wilde Tier hat kaum Möglichkeit sich vor uns zu verstecken – aus dem Flugzeug gesehen ist unser Kontinent ein riesiger Agrarkomplex, unterbrochen von einigen kleinen Hainen und Waldoasen, auf denen in der Regel ein Häuschen auf hohen Beinen steht, ein Jägerversteck. Gleichzeitig werden allein in Deutschland 18 Millionen Tonnen Lebensmittel pro Jahr weggeworfen – was heißt, wir plündern die Erde aus und vernichten Tiere  einfach so, aus Gier, sprich Langeweile.

In einem anderen Saal zog das Bild mein Blick auf sich:

Das Bild stammt von keinem berühmten Maler, es stellt keine prominenten Protagonisten dar, auch die anatomische Darstellung der Tiere ist fehlerhaft, wie das Schildchen erklärt, und dennoch konnte ich nachvollziehen, warum das Bild vom Museum erworben wurde: die Tiere agierten da nicht als Kulisse, drei Paare Augen schauten mich direkt an, es waren vollwertige Porträts, die den Tieren eine ungewöhnlich große Palette von Empfindungen zuschrieben: Die Füchse wurden offensichtlich mitten im Spiel nach einer sättigenden Mahlzeit erwischt und der Zuschauer konnte beobachten, wie sich die unbekümmerte Freude auflöst und in puren Schreck verwandelt – den Schreck der Begegnung mit Menschen.

Und weil sich in meinem Statdtschreiber-Dasein vieles wie bestellt reimt, geriet ich am darauffolgenden Abend in den Magdeburger Zoo, wo das Stück von Annett Gröschner gespielt wurde – Hennys erotisches Leben.

Angekündigt war die Veranstaltung als ein Mondscheinspaziergang durch den Zoo, der das tierische Liebesleben von Männchen und Weibchen in fremden Gehegen und heimischen Schlafzimmern beleuchtet – im direkten Sinne des Wortes. Geschickt und unbemerkt baute das kleine Team die Szenen im voraus auf und auf der nächsten Station tauchten die Darstellerinnen Nadja Gröschner und Ines Lacroix sehr effektvoll aus der von Quaken gesättigten Dunkelheit auf – mal auf der Brücke, mal im Affengehege, mal vor der kleinen improvisierten Bühne.

Musik, kecke Kostüme, Schauspiel, Gesang – an dem Abend wurden alle Register gezogen – der Abend mit Nadja Gröschner war wie immer erfrischend, unvorhersehbar, lustig – mit ihren Veranstaltungen haben sie und ihre MitstreiterInnen eine neue Kunstgattung ins Leben gerufen, die, so hoffe ich, in der Kulturgeschichte ihren Platz als typisch magdeburgisch finden wird.

Fast drei Stunden wanderten wir, drei Dutzend Besucher, durch den geheimnisvoll illuminierten, nächtlichen Magdeburger Zoo. Es ging um Liebe und um Sex, und es fehlte nicht an derben Witzen und auch an Wissenswertem aus der Geschichte des Magdeburger Zoos. Die aufeinander folgende Szenen waren bunt und vielfältig, mir fiel aber auf, dass die  alle Liebesgeschichten aus dem Tierreich in der Regel von Optimismus und Lebenslust strotzten, während die Monologe der manchmal glücklich, überwiegend aber unglücklich verliebten Menschen von tiefer, außerirdischer Melancholie durchtränkt waren; all diese Menschen  drehten sich um ihre eigene Achse im Kreis, in ihren Trieben, ihrem Selbstverwirklichungswahn und ihrer Liebessucht, wie in einem Käfig gefangen.

So wie die Schwanendame, alias die Tänzerin Pavlova, die  plötzlich im Gebüsch  in einem echten Käfig vor uns erschien und zu uns sprach,  und das grelle unruhige Licht war wie die Glut ihrer leidenden Seele – es war ein sehr imposanter Auftritt.


Aber am meisten beeindruckte mich ein Anblick, den wir im Vorbeieilen durchs Glas zufällig erhaschten – ein Löwenpaar im sauberen Gehege. Ruhig lagen die Ehegatten  da in ihrem Wohnzimmer und schauten uns, die sie hastig ablichteten, zu. Ihre Blicke waren ruhig und leicht abwertend, als wüssten die beiden viel mehr über uns als wir ihnen zutrauen konnten.