Ja, ich bin mit dem Radel aus, singe ich

Ab zehn Uhr bei besten Bedingungen, Sonne, Sonntag, wenig Wind, treffe ich mich vor der Tür mit Herrn Besten. Er bringt mir, weil ich keines habe, ein Fahrrad mit. Und dann halten wir Ausschau, ob sich ein besserer Platz findet für mein Manuskript, das in Magdeburg spielen wird. Am Bahnhof stehen Polizisten. Magdeburger Fans rücken an. Sie werden wohl heute verreisen, auswärts die Daumen drücken müssen. Ein paar Tage lang habe ich mein Notiz- und Terminbüchlein vermisst. Nun fand ich es in einer zweiten Tasche, die ich in den Schrank gehängt habe. So kann es kommen. Keinen Termin verpasst. Alles glimpflich ausgegangen. Demenz liegt nicht vor.

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Radfahr Bericht Nummer eins

Am Bahnhof kann man sich Räder ausleihen. Ich entscheide mich für das Rad Nummer 03232. Der Anruf bringt nur die Botschaft, das Rad, vor dem ich stehen, sei bereits vergeben. Das zweite Rad mit der Nummer 3224 ebenfalls. Nun wird es spannend. Das erste Rad besetzt, das zweite, das dritte muss gefangen sein. Siehe an, es klappt, die Schlossnummer wird übergeben, das Fahrradschloss öffnet sich mit dem Code 1204. Das ist der 12. April. Ich weiß nur, dass an diesem Tag meine erste Frau, durch Heirat war ich an sie nahezu sieben Jahre gebunden, drei Kinder immerhin habe ich mit ihr gezeugt, wobei das zweite auch gleich Kind Nummer drei war, Zwillinge eben. Es klingt wie ein Märchen wir haben nun ein Pärchen, sang ich damals gut gelaunt. Schwamm drüber, Zeit weggewischt wie eine peinliche Tagespfütze. Abhaken. Kommen nie wieder diese Tage. Nun ist Magdeburg angesagt. Radeln.
Vorbei am Café Amsterdam, Geheimtipp, geh heim, Tipp. Molls Laden gegenüber dem Flüsschen namens Schrote. Dann Ecke Klopstock/Freiherr von Stein, ein dreieckiger unspektakulärer Platz. Keine Bank zum sitzen, kein Hocker oder Stuhl, wo man sich setzen und miteinander beschäftigen, kuscheln, knutschen kann. Halt, doch. Eine Sitzgelegenheit entdeckt der Herr Beesten dann zwischen Autos. Ein großer Baumstumpf, frisch gesägt, Durchmesser locker über einen Meter breit. Kreissägenrund. Sitzhöhe noch im Rahmen von machbar. Man sitzt etwas tiefer gelegt wie in einem schicken Rennauto, nur eben im freien auf Holz, aber man sitzt wenigstens. Der Baum, der da weggemacht worden ist, könnte älter als alle Häuser um ihn herum gewesen sein.
Nächste Kneipe zum schon einmal vormerken und später aufsuchen: Schöne Ecke. Soll urig sein. Liegt in der Schopenhauer. Notiert. Wie auch die Kunstvitrine, Sitz des Vereins für irgendwie Kunstförderung. Sollen auch Lesungen möglich sein, heißt es. Kann sein, ich trete da auf. Kann man sich Übersicht unter geraldobaiano.com verschaffen, plappert die Schrift auf der Schaufensterscheibe vorlaut daher.
Ecke Immermann heißt die Kneipe NachDenker. Den John, der sie mit einem Jan, Jan & Jon vielleicht? Das ist doch das Doppel oder? Kennengelernt habe ich die beiden in der FeuerWache, als Moderatorenteam am Dylan(Bob nicht Thomas)-Abend. John schmiss nur so mit Gummibärchen um sich.
Und dann sind wir an dem Platz, von dem mein Radfahr-Unterrichter meint, der könnte für meinen Roman Bedeutung erlangen. Erlangt er beim ersten hinsehen auch. Alles da, was mein Magdeburger Platz braucht. Übersichtlich angelegt. Nicht zu groß, nicht zu winzig. Blumen-Pavillon, große Erdbeere, aus der heraus Erdbeeren in Schalen angeboten werden sollten. Heute Sonntag geschlossen. Heute Sonntag, nur gut bestückt der Container für Weißglas. Stehen da wie Fans, leer, durchsichtig, von unterschiedlichen Wuchs, Größe und Form, wie nicht abgeholt, säuberlich gereiht auf dem Container. Mehr geht nicht, dichter können sie sich nicht aneinander drängen. Die weißen Flaschen.
Nebenan der Container hat nichts abbekommen.
Heißt Olvenstedter Platz. Und der Pavillon schimpft sich Ihre Blumeninsel. Okay. Geht auch. DHL Packstation ist ganz in ihrer Nähe. Lauter gelbe Kästen in Reihe aufgestellt. Das werde ich genauer beobachten müssen, das Leben hier. Wie es sich entwickelt? Ob die Leute auch genügend hier vorbei huschen und nur das Nötigste erledigen? Und dann auch rasch wieder weg sind mit der Bahn oder ihren Hunden an Leinen?
In der Nähe soll noch die Kneipe Klamauk sein. Das ist ja auch so ein Name des Vertrauens. Da möchte man gern versacken. Beschlossenen Sache. Ich werde hier sitzen und darüber nachdenken, was für eine Birke das sein könnte da direkt vor der Blumeninsel? Bäume möchte ich in meinem letzten Lebensabschnitt noch hersagen können. Und alle Singvögel auswendig aufsagen, an ihrem Gesang die Callas erkennen, die Diva insgesamt anhören, alle 52 CDs, die ich mir gekauft habe. Liegen im Karton für mich bereit. Werden angehört, sobald in Magdeburg die Stadtschreiberei abgewickelt worden ist, der Herbst kommen will und es dann auch schnell Winter wird und somit Hörspielzeit.
Die Straßenbahn hält hier. Mal sehen, wer so einsteigt, ausstiegt? Besungen oder dadaistisch vertont ist der Platz längst von Herrn Beesten. Hat ihn künstlerisch beackert, kann man auch dazu sagen. Wir stehen inmitten eines flachen Kreises. Soll Brunnen gewesen, nur eben zugeschüttet worden sein oder bald schon hoffentlich noch zuLebzeiten Brunnen werden. Leitungen seien bereits verlegt, nur müsste der Bau beginnen. Ob das je was wird. Vielleicht, wenn ich den Platz romanberühmt gemacht einmal ernsthaft beginnen. Fühle ihn, den Strom, den elekelekkekelekelekktrischen Strom, in den Außenbahnen meiner Elekronen, den quasi freien Elektonen, aber nur quasi – rezitiert zittrig und durchgeschüttelt der Herr Beesten plötzlich kurze Sequenzen aus seinem Poem Klagelied einer einsamen Straßenbahnschiene. In dem Text geht es dann darum, dass immer zur besten Nachtzeit Männer daher kommen, sich über die Schiene hermachen, ihr Funkenflug entlocken, sie mit ihren Schleifgeräten vergewaltigen, sie kreischen, heulen, rufen, jammern ließen, einen Höllenlärm veranstalteten, dass Herr Beesten nicht der einzige war, der wegzog, sondern von allen der klügste, weil zuerst die Haken in die Hand genommen, dem Leid entkommen.
Wir unterhalten uns über den Platz, dass er so ist wie ich mir ihn gewünscht habe. Und rätseln, was in der Annastraße 37 die Leute darauf gebracht haben könnte, Cafe & Milchar 108 zu nennen? Ganz einfach, mischt sich ein junger Vater neben Kinderwagen und frischer Mutter ein, Postleitzahl. Eben drum, sagt Heer Beesten, hätte er selbst darauf kommen können, der unkonzentrierte Mann aber auch. Danke danke. Und weiter zur Festungsmauer. Heikel und mutig einfach die Räder abgestellt und unter den Bauzaun gestiegen, hinein in die abgesperrte Natur bis da noch größerer Sperren und sichere Tore uns den Weg versperren. Aber immerhin, bekommen ich von Zeiten erzählt, als hier noch die Post abging, Aktion war und Musikkonzerte abgehalten wurden. Wau.
Und ein wenig über Jessica D. gesprochen, die beim Seminar in Arendsee genauso fehlte wie ich. Opfer des Bahnstreikes. Und von Mark Kelly Smith in Chicago, der dort eine Kneipe und Slampoetik betreibt. Ein Urvater dessen, sagt Herr Beesten, nennt das Green Mill oder Miles? Muss ich googlen wie jeder andere auch. Und dann sind wir im Museum. Heute ist weltweiter freier Eintritt und Sonderprogramm. Und Heer Beesten muss hier einen Tanz einüben mit Hebefigur. Sechzig Kilo soll die Dame schwer oder leicht sein. Man kann sich an ihr verheben, warne ich. In unserem Alter ist es besser sich Tänzer anzusehen und nicht anzuheben, die Callas zu hören, als sie nachsingen zu wollen.

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