Rein in die Leere 2

Nein, so habe ich mir das nun auch wieder nicht vorgestellt, als ich vor zwei Wochen – so lange ist das schon her – bei meiner Antrittslesung im Forum Gestaltung den eigens zu diesem Anlass geschriebenen Text „“Rein in die Leere“ vorlas. Um ein Haar hätte ich mich noch zum „Anwalt der Leere“ Magdeburgs erkoren, zum Glück hatte ich diese mir etwas anmaßend erscheinende Formulierung bei der letzten Durchsicht kurz vor der Veranstaltung noch gestrichen. Ich steh ja jetzt schon ziemlich blöd da, zumindest vor mir selber bzw. dem Teil in mir, der immer was zu knurren hat. Und so raunt er mir schon seit Tagen auf meinem allabendlichen Spaziergängen durch die beinahe menschenleere Stadt in schöner Regelmäßigkeit sein neustes Mantra zu: Das haste nun davon. Du mit deiner Leere.

  Ich lasse ihn quatschen, denn Widerspruch hat keinen Zweck, reizt ihn nur zu weiteren Tiraden an, ich kann froh sein, wenn er es bei einem Mantra belässt, und sei es auch noch so gebetsmühlenartig vorgetragen. Dabei hat er durchaus recht, was habe ich mir auch für heute eine – zumindest für die Zeit wischen 18 und 19 Uhr – ganz besonders leere Gegend ausgesucht, nämlich die um die Sankt-Petri-Kirche, die Ökumenischen Höfe und den Wallonerberg. Hier kommt mir wirklich kein einziger Mensch entgegen, nur auf einer Bank hinter der Kirche sehe ich einen Mann auf einer Bank sitzen und höre ihn dann auch husten, ohne sich die Hand vor den Mund zu halten. Ausgerechnet.

  Zur Strafe für meinen Text „Rein in die Leere“, so interpretiert es zumindest mein innerer Knurrhahn, zwitschern die Vögel. Er vergällt mir die Vorboten des Frühlings, bis mir ihr Gesang wie ein Tinnitus vorkommt und ich allen Ernstes denke, es müsste jetzt regnen und stürmen und schneien und hageln, so dass ich auf schnellstem Wege wieder in meine kuschelige Stadtschreiberwohnung flüchte, wo ich mir dann am Besten auch noch die flauschige Bettdecke über den Kopf ziehe. Kontaktsperre am Beginn des Frühlings – kann es etwas Grausameres geben? Für meinen inneren Knurrhahn jedenfalls nicht. 

  Dabei stört mich die Menschenleere im Augenblick eigentlich nicht. Das war in den letzten Tagen nicht immer so, da fand ich sogar noch deutlichere Worte als mein innerer Knurrhahn. Aber jetzt verweile ich vor dem gotischen Bau von Sankt Petri und bedauere, dass die Kirche um diese Zeit geschlossen ist; ich schaue dem Kollegen Stadtschreiber, der als Skulptur mit einer Feder in der Hand vor einem Schreibpult in unmittelbarer Nähe der Kirche kniet, ehrfurchtsvoll über die Schulter und mache sogar ein Foto von dem gelben Bulli des Bonifatiuswerks der Deutschen Katholiken, so als sei auch der eine besondere Sehenswürdigkeit. Mit anderen Worten: ich habe Muße, nehme mir Zeit, auch für das Unscheinbarste. Tauche tief ein in die Leere. Wenn schon, denn schon. 

  Immer wenn ich denke, ich habe mich verlaufen auf meinen Spaziergängen durch Magdeburg, taucht ein Ort auf, den ich bereits kenne. Diesmal ist es die Festung Mark, wo ich meinen zweiten und vorerst letzten Auftritt als Magdeburger Stadtschreiber hatte, bei dem Festival „Magdeburg liest trotzdem“. Das ist jetzt sogar fast auf die Stunde genau zwei Wochen her. Wie die Zeit vergeht. Auch wenn sie sich noch so lange zu dehnen scheint, am Ende ist sie immer um.

  Von derlei schwermütigen und philosophischen Gedanken heimgesucht, biege ich auf die Walter-Rathenau-Straße ein. Auch da bin ich der einzige Mensch um diese Zeit. Erst als ich an der Straßenbahnhaltestelle in der Listemannstraße vorbeikomme, sehe ich wieder einzelne Gestalten in gebührendem Abstand zueinander auf die nächste Tram warten. Und, fragt mich der innere Knurrhahn ein letztes Mal auf seine gewohnt rhetorische Art: ist das jetzt die Leere, von der du geträumt hast? 

  Als ich am Theater vorbeikomme, bedauere ich zum wiederholten Mal, dass ich mir keine Aufführung von Brechts „Mahagonny“ anschauen kann, ich wüsste plötzlich auch gerne, wie das Essen im „Hyko Mizi“ schmeckt oder würde gerne noch eine halbe Stunde in der Thalia-Buchhandlung im Allee-Center stöbern. Da habe ich sie auf einmal, auch ohne inneren Knurrhahn, die absolute Leere, die Leere ohne Fülle, die reine Leere. 

  Wie gut tut es da, dass der Rossmann noch auf hat. Ich kehre ein, obwohl ich nichts brauche, und kaufe mir eine Flasche Wasser, eine Tüte Müsli und eine Packung Tee. Ein klassischer Fall von Frustkauf. Da kann der Tee noch soviel Ingwer und Zitrone beinhalten die ja bekanntlich das in diesen Tagen so wichtige Immunsystem stärken sollen. An Abenden wie diesen kann man sich einfach nicht bescheißen.

  Und so sehe ich zu, dass ich auf schnellstem Wege nach Hause komme. Dahin, wo es wenigstens Internet gibt und damit Serien, Skype und all das digitale Zeugs. Als ich in den Fahrstuhl steige, formt sich der Anfang eines Textes. Dieses Textes. Es scheint, als hätte ich auch aus dieser Leere wieder etwas mitgebracht. Ich verstaue die Einkäufe, wasche mir ausgiebig die Hände und setze mich an den Schreibtisch. Nach einer Stunde lese ich dem inneren Knurrhahn die erste Fassung dieses Textes vor. Na siehste, ruf ich ihm triumphierend zu, auch du und dein destruktives Gequatsche können mich nicht von der Produktion abhalten. Aber er hat nur ein müdes Lächeln für mich übrig. 

  

Beinahe eine Ode an die Kaufhaus-Restaurants

Wo kann man sich auch mit dreiundfünfzig Jahren noch so richtig jung fühlen? Im Le Buffet, dem Restaurant der Kaufhauskette Karstadt. Ich bin erst den fünften Tag in Magdeburg, aber schon zum zweiten Mal hier. Auf dem Weg zur Kasse kann ich noch jeden überholen, auch wenn die Kaffeetasse kurz vorm Überschwappen ist, hier haben so viele um mich herum weiße Haare, dass mir mein Grau wie das neue Blond vorkommt, und ich brauche mich auch nicht zu schämen, dass ich mir unten am Zeitungskiosk die BILD-Zeitung gekauft habe, das macht hier schließlich jeder. Habe ich bei meinem ersten Besuch mein tägliches Vitamindepot mit einem gemischten Salat aufgefüllt, geht es diesmal um mein Quantum Koffein in Form eines Latte macchiato. Der fünfzig Cent weniger kostet als am Hauptbahnhof und auch noch besser schmeckt. Ich bin begeistert.

  Ich gestehe, ich bin ein großer Fan von Kaufhausrestaurants, ob sie nun Culinaria, Dinea oder eben Le Buffet heißen. Das hat nichts mit dem Angebot von Speisen und Getränken zu tun, wobei die eindrucksvolle Palette hier im Magdeburger Karstadt von einer Marktküche über einen Asia-Point bis hin zur Würzbar reicht. Die in Dreierreihen angeordneten Mineralwasserflaschen (Sodenthaler Gourmet) glänzen wie frischgeputzte Kelche vor einer Ostermesse, die Paulaner-Ecke strahlt bayerische Gemütlichkeit aus, und im Weinkeller hat man die Wahl zwischen einem Merlot, Cabernet Sauvignon, Spätburgunder und Dornfelder, von den Weißweinen und Sektsorten ganz zu schweigen. Nein, was mich regelmäßig hierherzieht, ist die Kantinenatmosphäre, diese seltsame Mischung aus Heimeligkeit und Anonymität, das hoffnungslos Altmodische, der Muff der siebziger und achtziger Jahre, als es unter Kleinbürgern noch eine große Sache war, im Hertie, Kaufhof oder Karstadt essen zu gehen. Ich erinnere mich gut, wie mein Großvater mich in meiner Kindheit in den Soester Kaufhof ausführte. Dabei gab es in seiner Straße eines der besten Restaurants der ganzen Stadt, nämlich im Hotel Gellermann, wo in unserer Familie auch gelegentlich runde Geburtstage oder Erstkommunionfeiern abgehalten wurden. Im Restaurant des Hotel Gellermann gab es allerdings nur eine Speisekarte, das Essen blieb also gewissermaßen abstrakt, zumindest so lange es nicht serviert wurde, im Restaurant des Kaufhof dagegen lag alles direkt vor mir, Schnitzel, Rostbratwürstchen, Fisch, die schweren braunen Saucen und vor allem Pommes. Auch konnte ich bestimmen, wie viel ich davon haben wollte, ich konnte mir die Puddings ansehen, bevor ich einen davon auswählte, wobei es mir manchmal lieber gewesen wäre, ich hätte nicht die Qual der Wahl gehabt zwischen einer cremigen Mousse au Chocolate und einem Vanillepudding mit Eischnee und Erdbeeren. Aber, wie gesagt, es ging ja nicht ums Essen, zumindest nicht in erster Linie.

  Saß ich mit meinem Großvater im Soester Kaufhof-Restaurant, kam ich mir vor wie auf einem Bahnhof. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, fast jeder hatte Gepäck in Form von Einkaufstüten dabei, nicht allzu viel Zeit, nicht weil der Zug bald abfuhr, sondern weil der Parkschein jeden Moment ablief. Damals kannte ich das Wort „Transitraum“ noch nicht, aber als ich es zum ersten Mal hörte, traf es genau die Atmosphäre, die ich dort schon als Kind empfunden hatte.

  Später ist mir dieses Kaufhof/Karstadt/Hertie-Restaurant-Gefühl in den Romanen und Erzählungen von Isaac Bashevis Singer wieder begegnet. Bei ihm hießen diese Orte, wo sich nach dem Krieg am Broadway die jüdischen Emigranten trafen, schlicht Caféterias. Im Gegensatz zu den Dianas, Culinarias und Le Buffets hatten sie bis nach Mitternacht geöffnet, man konnte also noch um elf Uhr abends mit einer Zeitung oder einem Manuskript kommen, sich einen Pudding oder ein Sandwich holen und in irgendeiner Ecke in aller Ruhe lesen oder schreiben. Oder eben mit Leuten reden, die es genauso aus einem europäischen Schtetl in die Neue Welt verschlagen hatte wie Singer selber. Ich habe es ihm nachgemacht und viele meiner Stücke teilweise oder ganz an solchen Orten geschrieben, im Gießener Karstadt, Coburger Kaufhof oder Moabiter Hertie. Auch diesen Text habe ich im Magdeburger Le Buffet begonnen. Schließlich bin auch ich in Magdeburg nicht zu Hause, ebenso wenig wie ich in Gießen, Coburg oder Moabit zu Hause gewesen war. Es ist offenbar der Reflex des Exilanten, in Caféterias zu flüchten, an Orte, an denen man jederzeit wieder aufstehen und gehen kann, weil man sein Essen schon vorher bezahlt hat, weil es keinem auffällt, wenn der Teller oder das Glas noch nicht leer ist, weil sich eh groß keiner um einen schert. Und doch erzeugen diese Orte zugleich eine Vertrautheit, ein Stück Heimat, wer weiß, wie sie das tun, vielleicht weil sie nie ganz voll sind, aber eben doch voll genug, um sich nicht einsam zu fühlen, sie lassen einen in diesem seltsamen Schwebezustand zwischen Zuhause und Fremde, den ich immer als produktiv empfunden habe. Man ist hier selber verantwortlich für sich, stellt sich sein Essen selber zusammen, trägt es sich selbst an den Tisch, von dem man es dann auch wieder fortträgt und auf eines der Geschirrbänder stellt, so wie man es zu Hause, abgesehen von dem Geschirrband natürlich, eben auch tut. Man wird nicht von aufdringlichen Kellern behelligt, die einen fragen, ob es noch was sein dürfe oder einem das Glas wegnehmen, obwohl man den letzten süßen oder bitteren Rest noch nicht ausgeschlürft hat, man kann die Jacke oder den Mantel anlassen, gerade so, als säße man am eigenen Küchentisch. 

 Ich frage mich, in welchem Exil die Menschen leben, die heute die Kaufhaus-Restaurants bevölkern. Da die Preise vermutlich saftiger sind als das Fleisch, müssen sie Geld haben. Beziehungsweise ihrem Alter zufolge eine ordentliche Rente. 9,99 Euro für eine Hähnchenbrust alla Milanese mit überschaubarer Spaghetti-Beilage will mir ebenso wenig billig erscheinen  wie meine 4,80 vom Vortag für einen Salat, der kaum größer ist als der auf dem zweiten Tagesgericht-Teller, Große Kohlroulade mit Specksauce und Kartoffelpüree für 8,99. Auf den ersten Blick scheinen die Menschen um mich herum, die zumeist in Paarform und eher stumm das Essen in sich herein schaufeln, nur eines zu verbinden: dass sie älter sind. Älter als ich zumindest, jenseits der sechzig, siebzig, wenn nicht gar achtzig Jahre. Hierhin scheinen sie sich zurückzuziehen, wobei von Rückzug eigentlich nicht die Rede sein kann, denn das Kaufhaus-Restaurant ist, ich sagte es schon, ein Transitraum. Doch um auf dem Sprung ins Parkaus oder die nächste Abteilung oder sonst wohin zu sein, sind sie wiederum zu langsam und gemächlich. Hier herrscht keine Eile. Das Warten in der langen Schlange vor der einzigen besetzten Kasse wird geduldig getragen, nur der Jüngste, also ich, fragt halblaut vor sich hin, warum denn keine zweite geöffnet werde. Die Ungeduld der hier äußerst relativen Jugend. Auch als ich dann sitze, den gleichen Sicherheitsabstand von zwei Tischen einnehmend wie nahezu alle anderen, was wohl auch dem gerade grassierenden Coronavirus geschuldet sein mag, kann ich mich nicht entspannen. Als ich noch regelmäßig in die Kaufhaus-Restaurants ging, war das Publikum gemischter, insgesamt jünger und dadurch auch unruhiger und zumindest an der Oberfläche lebendiger. Jetzt scheint man alle Zeit der Welt zu haben. Irgendwie habe ich sie verpasst, die schleichende Entwicklung an diesen Orten, es ist mir, als käme ich nach Jahren wieder  nach Hause und sähe plötzlich, wie alt meine Eltern geworden sind. Das Moabiter Hertie-Restaurant der neunziger Jahre war auch ein Arbeitslosentreff und von daher deutlich jünger besetzt. Ich war damals schließlich auch arbeitslos. Meine Lebendigkeit speiste sich aus der Erwartung, dass es endlich losginge, mein Leben, zumindest mein berufliches, schon allein deshalb vibrierte das Besteck in meiner Hand. Ich war sozusagen jederzeit bereit, mein Messer zu zücken. Jetzt, so kommt es mir vor, halten alle ihre Messer und Gabeln wie zur Kapitulation gestreckte Waffen in den Händen. Was mich zu der Frage führt, was Menschen, die heute noch in Kaufhaus-Restaurants essen gehen, aufgeben, wovor sie resignieren, was sie mit sich geschehen lassen. Hier, so scheint es, werden keine Pläne mehr ausgeheckt, keine Ideen gesponnen und erst recht keine Geschichten mehr geschrieben. Hier wird vor allem gegessen und geschwiegen. So als führe aus dem Exil des Alters nur noch der Tod heraus.

  Nachdem ich mein Geschirr pflichtschuldig auf dem Band abgestellt habe, schieße ich noch einige Fotos mit meinem Handy. Niemand stört sich daran. Niemand fühlt sich auch geschmeichelt, dass ich einen solchen Ort für wert erachte, verewigt zu werden. Ich könnte genauso gut unsichtbar sein.

  Was mag das für ein Stadtschreiber sein, werden Sie sich vielleicht fragen, der in und dann auch noch über Kaufhaus-Restaurants schreibt? Ein sentimentaler, nehme ich mal an. Einer, der sich nirgends so richtig zu Hause fühlt. Einer, der vielleicht auch schon seine Waffen gestreckt hat.

  Dass Sie sich da mal nicht täuschen. Als ich noch mal runter in den Zeitungskiosk gehe, schaut ein grimmig zu allem entschlossener junger Mann auf einem Zeitschriftencover haarscharf an mir vorbei, und das unter der Überschrift „Schwerteträger“ und über der Unterschrift „Der Abschusskönig“. Ich denke, ich seh‘ nicht richtig, als ich das Hochglanzmagazin aufschlage und mein Blick auf ein Foto dieses Mannes namens Michael Wittmann mit Adolf Hitler fällt. Eine, wie ich später bei Wikipedia lese, nach Einschätzung der Bundesregierung dem Rechtsextremismus nahestehende Zeitschrift in einem Zeitungskiosk bei Karstadt! Und zwar zuoberst, ein Blickfang regelrecht! Es gibt nur dieses eine Exemplar, was zwei Schlüsse nahelegt. Entweder dass es wenige oder viele Käufer gibt, im letzten Fall wäre es also beinahe schon vergriffen. Während ich es, mit zitternden Händen, zurücklege, denke ich: vielleicht ist die Stille in den Kaufhaus-Restaurants eine trügerische, vielleicht wird dort etwas ausgeheckt, vor dem einem nur angst und bange werden kann, vielleicht träumt da so manch einer noch von einem anderen Ausweg aus dem Exil. Ich sehe zu, dass ich hier rauskomme.

Stadtschreiben in Zeiten von Corona

Was macht eigentlich ein Stadtschreiber in Zeiten von Corona, tue ich jetzt einfach mal so, als sei das eine mir oft gestellte Frage.
Nun, er tut zunächst einmal das, was er sonst auch tut, in Zeiten ohne Corona, er steht beizeiten auf. Beizeiten heißt bei ihm so zwischen 6 und 7. Dann setzt er sich, und zwar noch vor dem Frühstück, ja dem Zähneputzen – soviel Intimität sei gerade mal erlaubt – entweder an den Computer oder er nimmt ein Notizbuch zur Hand, was aufs gleiche hinausläuft, nämlich aufs Schreiben. Er nutzt die ein, zwei Stunden, in denen der innere Zensor noch nicht auf der Höhe ist – der ist nämlich kein Frühaufsteher – , schamlos aus, indem er munter drauflos schreibt, ohne sich um Originalität, Stil oder was auch immer zu kümmern; er lässt sich gehen, wobei er den Tiefen seines Unterbewusstsein so manches entlockt, was ihm der innere Zensor sonst niemals durchgehen lassen würde. Erst dann checkt er die News, die in diesen Tagen natürlich vor allem von der Ausbreitung des Corona-Virus handeln, geht ins Bad, duscht, frühstückt, trödelt noch ein wenig herum, liest vielleicht auch noch etwas, bevor er dann sein festes Schuhwerk schnürt – Hydro Seal von The North Face, auf die er schwört – und zu einem von zwei Tagesmärschen ansetzt.
Einen Plan hat er dabei nicht. Er geht immer der Nase nach, wohin der Wind ihn weht, so lange ihn die Füße tragen, mal als erstes zum Hasselbachplatz, mal direkt an die Elbe, mal die Otto-von-Guericke-Straße, in der er wohnt, in die andere Richtung, jeden Tag neu. Dabei fällt ihm so mancherlei auf: wieviel Fleisch den Menschen in Magdeburg angeboten wird, wie viele Eisdielen es gibt, ein pinkfarbener Aufkleber an einem Strommasten in der Benediktinerstraße mit der Aufschrift „Liebe für alle“, ein Geschäft am Hasselbachplatz, das mit dem Spruch wirbt „Wir machen auch ihre Muschi glatt“, sein eigener Schatten auf dem Trottoir. Unterwegs trinkt der Stadtschreiber irgendwo einen Kaffee und zieht ein Buch aus der Tasche, in dem er ein paar Seiten liest, in diesen Tagen „Irreführung der Behörden“ von Jurek Becker. Dann zieht er weiter, meist schon mit einer Idee für seinen Blog im Kopf. So nach zwei, drei Stunden ist er dann wieder zu Hause, wo er erst mal zur Entspannung eine halbe Serienfolge guckt, gerade eine aus der letzten Staffel von „Homeland“. Dann kocht er sich was, und da er ein Freund des Mittagsschlafes ist, legt er sich hin. Zwischen all dem hat er natürlich mit seinen Liebsten kommuniziert, zumeist auf WhatsApp. Wenn er wieder aufgestanden ist, spricht er auch mit ihnen, mit der Allerliebsten via Skype, mit den Eltern und Geschwistern am Telefon, mit den Freunden sowohl als auch, aber das erst am Abend. Denn jetzt muss er mal stadtschreiben, das heißt, die Ideen, die ihm auf seinem langen Marsch gekommen sind – der Stadtschreiber ist kein Spaziergänger, eher ein Marschierender – auf ihre Gültigkeit hin prüfen. Das geht dann nicht mehr ganz so flüssig wie am Morgen, weil inzwischen längst der innere Zensor aufgewacht und um diese Tageszeit so richtig auf der Höhe ist. Lieblingsspruch des inneren Zensor: Wasn das wieder fürn Scheiß! Oder: wen interessiert denn das! Oder: Das hat doch XY schon viel besser gesagt! Mit den Jahren wird seinem Geschwätz aber immer weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Beziehungsweise die Aufmerksamkeit bleibt, aber die Neigung, den Anweisungen des inneren Zensors Folge zu leisten, die nimmt doch erkennbar ab. Ist der Stadtschreiber erschöpft, gönnt er sich die zweite Serienfolge. Dann macht er sich sein Abendbrot, zumeist einen Salat. Bevor er entweder zu seinem zweiten, diesmal aber nur ein- bis anderthalbstündigen Tagesmarsch aufbricht, der ihn aber eher auf vertrautes Terrain führt, oder aber erst einen Freund anruft, in jedem Fall aber tut er beides. Oder sagen wir: so hat er es in diesen letzten Tagen gehalten. Denn der Stadtschreiber kennt bisher noch wenig Leute in der Stadt, er ist ja erst seit einer Woche da, und kaum hat er die ersten kennengelernt, kam auch schon das Virus bzw. die Maßnahmen dagegen, so dass die Leute schon wieder verschwunden waren, wie auch der Stadtschreiber selber für die Leute verschwunden war. Und vielleicht kam dem Stadtschreiber auch deswegen heute eine Idee. Wie wäre es, wenn er in Zeiten von Corona mal was für die Leute täte, und zwar die älteren, besonders verwundbaren? Was Unstadtschreiberisches? Wie zum Beispiel einkaufen gehen? Oder ihren Hund ausführen, denn schließlich hat er da, wo er wohnt und wo er jetzt nicht hin kann, nämlich in Istanbul, auch einen Hund. Er meint das ernst. Und hofft, das vielleicht genau so jemand diesen Eintrag liest. Dann hätte der Stadtschreiber nämlich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Und das ist in diesen Tagen von Corona schon eine ganze Menge.

Tribute to Bernd Wagner

Vielleicht sind die schönsten Zeilen über Magdeburg ja schon geschrieben worden, von einem meiner Vorgänger etwa, dem ersten Magdeburger Stadtschreiber überhaupt, nämlich Bernd Wagner. Ich finde sie in einem Buch, das mir Norbert Pohlmann vom Forum Gestaltung zum Einstand geschenkt hat und das seitdem auf meinem Nachttisch liegt, „Die Straße kräht Coqui“: „Magdeburg liegt an der Elbe wie ein langes Schiff, das an ihrem Ufer festgemacht hat. Der Dom ist der steinerne Anker, der verhindert, dass die Stadt mit dem Strom forttreibt.“ Dem will ich für heute nichts mehr hinzufügen.

 

Rein in die Leere

Rein in die Leere

Einige Gedanken zum Motto der Magdeburger Bewerbung für den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“
In den östlichen Weisheitslehren ist die Leere ein durchweg positiv besetzter Begriff. Im Tao Te King von Laotse aus dem 4. Jahrhundert vor Christus heißt es: „Schaffe Leere bis zum Höchsten.“ Denn „leer ist der unermeßliche Schoß aller Dinge.“ Auch der große Mystiker Meister Eckhart wusste: „Was empfangen will, muss zuvor leer sein.“ Und sogar der gottlose Bertolt Brecht schrieb: „Geh ich zeitig in die Leere/Komm ich aus der Leere voll.“

Dem gegenüber steht das westliche Verständnis von Leere, das mir bereits meine Großmutter im Alter von sechs Jahren vermittelte, als sie über unsre geschwätzige Nachbarin sagte: „Nur eine leere Dose klappert.“ Leere muss demnach gefüllt werden, möglichst mit Sinn und Gehalt, mit etwas Bedeutungsvollem und Nachhaltigem, gerne auch Spektakulären. Leere also als ein Mangel, ein Defizit, das es zu beheben gilt.

Doch so leer ist Magdeburg ja nicht. Erst recht nicht, wenn man wie ich, anno 2001 bis 2004, aus der noch leereren Altmark ein- bis zweimal im Monat in die Landeshauptstadt reiste, auf der Suche nach der Fülle, die Magdeburg zu bieten hatte. Das begann schon mit einem kräftigen Aufatmen beim Ausstieg aus dem Regionalzug am Hauptbahnhof. Endlich Stadt. Dabei kam ich aus Stendal, einer Provinzstadt, mag sein, von deren Bahnhof aber Züge in gleich drei europäische Metropolen abfuhren, und zwar direkt: Amsterdam, Krakau und Berlin. Nach Berlin fuhren an nahezu jedem probenfreien Tag die jungen Kolleginnen und Kollegen des Landestheaters, an dem ich damals engagiert war, und zwar in der Regel umsonst. Stendal war der letzte Halt vor Berlin, und oftmals hatten die Schaffnerinnen bzw. Schaffner so kurz vor Dienstschluss keine Lust mehr zu kontrollieren, und wenn man sich zudem noch schlafend stellte, konnte man fast sicher sein, die knapp fünfzehn Euro Fahrtgeld gespart zu haben, besonders für einen mit einem Anfängervertrag ausgestatteten Schauspieler kein ganz unwesentlicher Betrag, den man in der Hauptstadt im Handumdrehen wieder investieren konnte.
Mir jedoch war Berlin zu groß und zu voll. Ich hatte es schon damals gerne etwas ruhiger und leerer. Nicht so leer freilich wie Stendal oder Tangermünde, wohin ich auch so manches Mal ausbüchste, wenn mir sogar Stendal zu voll war. Da kam mir Magdeburg gerade gelegen. Im Regionalzug von Stendal nach Magdeburg konnte man nicht schwarz fahren, ich hätte es auch gar nicht gewollt. Ich zahlte gerne für die beschauliche Fahrt über die Dörfer, die gerade mal so lange dauerte wie die Halbzeit eines Fußballspiels, seit jeher die Zeitspanne, in der sich bei mir so etwas wie konzentrierte Aufmerksamkeit messen lässt. Man könnte also sagen, dass ich perfekt eingestimmt war auf Magdeburg, als ich am Hauptbahnhof ausstieg.
Das Aufatmen erwähnte ich bereits. Es verdankte sich der Fülle, nicht der Leere Magdeburgs. Oder vielmehr der Leere Stendals, die jetzt von der Fülle Magdeburgs abgelöst wurde. Der Polarität also. Stendal war Yin, Magdeburg Yang. Bereits auf dem Weg vom Hauptbahnhof in die Innenstadt passierte man ein Kino, und zwar ein Cinemax. Heute, da ich die Beschaulichkeit eines Capitol, Rex oder Odeon genannten Programmkinos weit mehr zu schätzen weiß als die seelenlosen und austauschbaren Mulitplex-Säle mit ihren elektrisch verstellbaren Luxus-Ledersesseln und ihrer dröhnenden Soundtechnik, würdige ich das Cinemax keines Blickes mehr, damals brauchte ich nur an eine „Ice-Age“-Vorstellung in den Stendaler Uppstall-Kinos zu denken, und bog gleich links ab, um zu sehen, welche Abendvorstellung im Magedburger Cinemax sich mit dem letzten Zug zurück in die Altmark verbinden ließ.
Mein zweiter Weg führte mich dann in die Erich-Weinert-Buchhandlung. Hier gab es nicht nur die üblichen Bestseller oder regionalen Kochbücher à la „Von Kühen, Kirchen und Klapperstorchen“, sondern echte Literatur, Gedichte- und Essaybände, Reihen wie die edition Suhrkamp oder die Friedenauer Presse. Wenn ich mich dort durch die Neuerscheinungen gelesen hatte, dann war es meistens schon zu spät fürs Kino oder Theater. Das gab es ja auch noch, nämlich in Form der Freien Kammerspiele. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich dort nur ein- oder zweimal zu Besuch war. Wobei: welcher Koch geht schon gerne an seinem freien Abend in einem Restaurant essen?
War es Frühling, Sommer oder auch noch Herbst, so führte mich mein nächster und letzter Weg zwangsläufig zur Elbe. Die floss zwar auch durch die Altmark, aber hier brauchte man nur den Kopf zu drehen, und man sah vom Fluss aus den Dom und konnte sich, wenn man wollte, wie in Köln fühlen. Aber ich wollte nicht. Magdeburg war mir in solchen Momenten genug. Ich hätte an keinem anderen Ort der Welt sein wollen. Zumal wenn ich am nächsten Morgen wieder pünktlich auf der Probe zu erscheinen hatte.

Das alles ist jetzt viele Jahre her, fast zwanzig um genau zu sein. Und in all dieser Zeit bin ich vielleicht nur zwei- oder dreimal zurück nach Magdeburg gekommen, meistens auf der Rückfahrt von meiner westfälischen Heimat nach Berlin, wo ich inzwischen, trotz oder gerade wegen seiner Fülle, lebte. Doch irgendwie funkte es nicht mehr so richtig zwischen Magdeburg und mir. Sollte sich die Anziehung, die Magdeburg auf mich gehabt hatte, etwa einzig der Abstoßung durch Stendal verdankt haben?
Womit ich wieder beim Anfang dieser Überlegungen angelangt wäre, beim Yin- und Yang Prinzip des Daoismus. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben, die Leere nicht ohne die Fülle und die Fülle erst recht nicht ohne die Leere, der sie sich überhaupt erst verdankt. Mit anderen Worten: alles geht aus dem Nichts hervor. Was mich zu der Frage führt, ob Magdeburg nicht an seinen Grundfesten rüttelt, ja, mit seiner Existenz spielt, wenn es raus aus der Leere will.

Als ich im Dezember zur Unterzeichnung meines Stipendiumsvertrages nach vielen Jahren wieder zurück nach Magdeburg kam, atmete ich erneut auf. Am Bahnhof, beim Gang durch die Stadt, auf der Suche nach den Gästewohnungen, von denen ich eine ab März beziehen würde. Aber diesmal war es nicht die Fülle, sondern die Leere, die mich aufatmen ließ und die natürlich wiederum eine relative war, kam ich doch gerade aus Istanbul, einer Stadt mit mehr Einwohnern als das Bundesland Nordrhein-Westfalen und ebenfalls einmal Kulturhaupstadt Europas, nämlich 2010. Überall, wo sich mir jetzt in Magdeburg die Aussicht auf eine unbebaute Fläche, eine Leerstelle bot, kehrte ich ein, unter freiem Himmel stehend, ins Weite blickend. Ich begrüßte die Leere geradezu und machte sie an diesem Tag zum Leitmotiv meines Stipendiumaufenthaltes, in Umwandlung des Mottos für die Bewerbung Magdeburgs zur Kulturhaupstadt Europas „Rein in die Leere“. Ich spürte, dass ich mit leichtem Gepäck kommen wollte im Frühling, mit einem, höchstens zwei Manuskripten, dass es etwas dauern würde, bis ich Familie und Freunde nach Magdeburg einlüde, dass ich mir die Zeit in dieser Stadt nicht vollstopfen wollte.

Ich weiß, hier spricht ein Gast, kein Bewohner der Stadt, und ich kann mir gut vorstellen, dass jemand, der seit vielen Jahren hier lebt, nichts als raus aus der Leere möchte und diese Überlegungen als romantische Luftblasen abtut, noch dazu geäußert von einem Vertreter jener Zunft, die Verklärung nicht selten zur Tugend erklärt, einem Schriftsteller eben. Aber als solcher bin ich ausdrücklich hierher gebeten worden und darf sagen, dass ich mich für den Posten des Stadtschreibers in Leipzig etwa, wenn es denn dort einen gäbe, nicht beworben hätte. Und das hat nichts damit zu tun, dass ich in der Stadt einmal studiert habe und sie allenfalls ein bisschen kenne.
Magdeburg muss kein zweites Leipzig, keine sogenannte Boomtown werden aus meiner Sicht, okay, sie könnte wieder eine eine Zweit-, wenn nicht gar Erstligafußballmannschaft haben, gerne sogar, und an den Zugverbindungen sollte man auch etwas drehen. Dafür hat Magdeburg aber, was viele Städte nicht haben, auch solche nicht, die vermeintlich „boomen“, vielleicht weil gerade sie denken, sie bräuchten so etwas nicht, nämlich einen Stadtschreiber. Und wenn ich es richtig verstanden habe, dann verdankt sich dieses Amt überhaupt erst der Bewerbung Magdeburgs für den Titel „Kulturhaupstadt Europas“, was mich hoffen lässt, dass auf dem Weg raus aus der Leere ein Blick von außen ausdrücklich gefragt ist.
Lassen Sie mich also in den nächsten Monaten in der ewigen Polarität von Yin und Yang nicht nur für das Yang, sondern auch für das Yin zuständig sein. Lassen Sie mich auch von den vermeintlichen Leerstellen dieser Stadt erzählen, von den Orten, an denen sie Luft zum Atmen, Raum zum Innehalten und damit letztlich auch die Möglichkeit zum Schreiben lässt. Möge dann am Ende aus meinen bescheidenen Einlassungen eine Fülle entstehen, die mit dazu beiträgt, dass Magdeburg seinem großen Ziel einen kleinen Schritt näher kommt.