Warten auf die Barbaren

 


 

Konstantinos Kavafis (1863-1933)

Warten auf die Barbaren

Worauf warten wir, versammelt auf dem Marktplatz?

Auf die Barbaren, die heute kommen.

Warum solche Untätigkeit im Senat?

Warum sitzen die Senatoren da, ohne Gesetze zu machen?

Weil die Barbaren heute kommen.

Welche Gesetze sollten die Senatoren jetzt machen?

Wenn die Barbaren kommen, werden diese Gesetze machen.

Warum ist unsere Kaiser so früh aufgestanden?

Warum sitzt er mit der Krone am größten Tor der Stadt?

Hoch auf seinem Thron?

Weil die Barbaren heute kommen

Und der Kaiser wartet, um ihren Führer

Zu empfangen. Er will ihm sogar eine Urkunde

Überreichen, worauf viele Titel

und Namen geschrieben sind.

Warum tragen unsere zwei Konsuln und die Prätoren

Heute ihre roten, bestickten Togen?

Warum tragen sie Armbänder mit so vielen Amethysten

Und Ringe mit funkelnden Smaragden?

Warum tragen sie heute die wertvollen Amtsstäbe,

Fein gemeißelt, mit Silber und Gold?

Weil die Barbaren heute erscheinen

Und solche Dinge blenden die Barbaren.

Warum kommen die besten Redner nicht, um wie üblich

Ihre Reden zu halten?

Weil die Barbaren heute erscheinen,

Und vor solcher Beredheit langweilen sie sich.

Warum plötzlich diese Unruhe und Verwirrung?

(Wie ernst diese Gesichter geworden sind.) Warum leeren

Sich die Straßen und Plätze so schnell, und

Warum gehen alle so nachdenklich nach Hause?

Weil die Nacht gekommen ist und die Barbaren doch nicht

Erschienen sind. Einige Leute sind von der Grenzen gekommen

Und haben berichtet, es gebe sie nicht mehr, die Barbaren.

Und nun. Was sollen wir ohne Barbaren tun?

Diese Menschen waren immerhin eine Lösung.

1904

Inspiriert durch dieses Gedicht, schrieb J.M. Coutzee 1980 den Roman „Warten auf die Barbaren“, eine exzellente Parabel, heute lehrhaft wie nie

 

Im Gewächshaus

Die Glashallen waren von Gruson anscheinend nach und nach aneinander gebaut worden, wie der Palast von Knossos, in dessen Innerem man sich leicht verloren fühlt. Dass ich durch die Räume wie in einem Labyrinth herumirrte, merkte ich, als ich mich zum dritten Mal vor einer versperrten Tür befand.

Da hinter der verschlossenen Tür war die  Erde  von kleinen Kakteen und Palmen ubersät, die intakt und zufrieden aussahen, die großen Palmen hingegen, die mit ihren Kronen bis an die Decke reichten, machten keinen idyllischen Eindrück – die Schranken taten ihnen eindeutig weh und mir kam eine russische Erzählung in den Sinn, über das Schicksal einer stolzen Palme in einem Gewächshaus. Die Erzählung stammt aus der Feder eines wunderbaren russischen Schriftstellers des 19. Jahrhunderts, W. Garschin, der sich 1880 als junger Mann das Leben nahm und hiermit auch des seiner Begabung ziemenden Weltruhms verlustig ging . W. Garschin schrieb Novellen und Märchen, die in ihrer Melancholie, Klugheit und Ironie nicht zu übertreffen sind.

Die dramatische Geschichte, die in einem schmucken Gewächshaus spielt, heißt „Attalea prinzeps“, so der Name einer Palme, die höher und schöner als alle anderen Pflanzen war. Die Palme hatte Sehnsucht nach dem offenen blauen Himmel, nach dem Sonnenschein und nach dem frischen Wind ihrer Heimat. Und als eines Tages ein Besucher aus Brasilien sie mit ihrem wahren, nicht wissenschaftlichen Namen ansprach, wurde ihre Sehnsucht nach Freiheit unerträglich und sie begann, die anderen starken Bäume anzustacheln, sich gemeinsam anzustrengen und  in einem synchronen Wachstumsschub die Glasdecke zu sprengen, um die Kronen dem offenen blauen Himmel und der Sonne entgegenzustrecken. Die anderen Pflanzen aber wollten nicht mitmachen und warfen der Rebellin vor, sie gefährde Ruhe und Komfort, nur eine kleine Kletterpflanze an ihrem Fuße wollte der Palme auf dem gefährlichem Wege in die Freiheit folgen…

Die Attalea prinzeps begann zu kämpfen: sie bündelte ihre Kräfte, sie strengte sich enorm an und eines Tages konnte die Glasdecke ihrem Druck nicht mehr stand halten, sprangen die Sprossen und die stolze grüne Krone ragte über der zerstörten Decke. Es war Spätherbst, es regnete und schneite zugleich, der Wind war kalt, der Himmel dunkel und tief. So stand sie erschrocken, angewidert von dem Anblick der trostlosen Landschaft und des schmutziges Hinterhofes, bis ihr Todesurteil gefällt wurde. Die Palme wurde abgesägt weggetragen, zurück blieb nur auf dem Stumpf die zersägte und zerrissene Kletterpflanze, die der Gärtner einsammelte, zum Hinterhof brachte in die Ecke warf, wo die Palme Attalea prinzeps lag, im Schmutz und von Schnee überweht.

In meiner Jugend haben wir das Märchen als allegorische Darstellung der heranrückenden sozialen Unruhen im damaligen Russland gesehen, und meine Sympathien galten der stolzen Palme. Als junger Mensch war ich selbst bereit, für jeden Blödsinn auf die Barrikaden zu klettern – egal was – Hauptsache neu und Hauptsache anders, und zwar schnell – wir waren jung und stark, und dachten, die ganze Welt steht uns offen mit atlantischen Brisen und den Palmen von Mallorca.Und unsere Eltern und Großelten, die mit einem Fuß noch in den alten Zeiten steckten, die in den neuen kalten Winden froren und den geschützten Gewächshäusern nachtrauerten, waren uns egal – sie waren die kleine Kletterpflanze, die unserem Durst und unserer Ungeduld zum Opfer fielen.

Mit dem Alter wächst in mir Angst, ja Abscheu gegen Wachstum, Beschleunigung und Innovationen. In meinen Augen teilt sich die Menschheit in solche, die die Zukunft anbeten, und solche, die mit Begeisterung in die vergangenen Zeiten zurückschauen. Die ersten plädieren für Beschleunigung des sozialen und wirtschaftlichen Metabolismus, die zweiten – stehen für Verlangsamung, als ob sie die Entfernung von den mythischen Goldenen Zeitalter verzögern wollten…
Auch wenn meine Freundin Eva und der gesunde Menschenverstand mir oft vor Augen führen, dass die summierte Lebensqualität der heutigen Menschheit von Tag zu Tag nur besser wird und die Bilanz des Guten nicht zu Gunsten der vergangenen Zeiten ausfällt, flüstert mir eine leise und trotzige Stimme zu, dass unserer Wohlstand nur eine kurze Strecke auf dem Weg zu einem riesigen, noch nie da gewesenen Unheil ist.

 

Gruson und seine Gewächshäuser

Der Tag, an dem ich mich in die Gruson-Gewächshäuser aufgemacht habe, war trüb, der Himmel tief und der Wind böse. „Einsturzgefahr, einige Hallen sind heute zu. Kommen Sie an einem anderen Tag oder gehen Sie trotzdem rein ?“
Ich ging rein und warme stickige Luft hüllte sich um meinen Körper wie Plastikfolie – in manchen Räumen war es feucht, in anderen – trocken, aber überall sehr warm und schwül, mein Herz klopfte wie gefangen. Ich beschleunigte meine Schritte, eilte neugierig aus einer Glashalle in die andere. Merkwürdig, aber die unbekannten, fremdartigen Pflanzen faszinierten mich wenig – anstatt sie zu bewundern, versuchte mein Verstand sie einzuordnen, und wenn sie in keine vertraute Schublade passten, wirkten die Exoten abstoßend, so wie zum Beispiel die Annona muricata, auch: Sauersack, deren pickelige Frucht unappetitlich wie ein krankhafter Auswuchs aussah.



Am meisten sprachen mich die Gestaltformen an, die mit unseren Zimmerpflanzen verwandt sind, aber von den vertrauten, domestizierten Formen abweichen. So wie der Madeira-Storchschnabel , in dem man nur mit Mühe die Verwandtschaft mit unserer banalen Zimmer-Geranie erkennen kann. Sonst eher stämmig, grellfarbig und selbstgefällig auf einem Fensterbrett erschien die Geranie hier ganz anders – schlankgliedrig, strahlend, elegant, in ihrer urspünglichen, also wahren und vollkommenen Form, wie im Garten Eden.

Aber mit Ausnahme der strahlenden Geranium Maderensen wollten die Beeten, Oasen und Haine nicht unbekümmert und paradiesisch wirken. Hinter den Palmen und Kakteen schimmerten keine Sanddünen oder Meereskrusten, sondern weiß lackierte Heizkörper. Die Blätter und Zweige bewegten sich nicht, von bösen Böen, zarten Brisen und hungrigen Hummern und Bienen verschont – oder vernachlässigt? Auch die freilaufenden schmucken Straußwachteln erheiterten die anämischen Oasen wenig, da sie selbst geistesabwesend und etwas dement wirkten. Die Vögel scheuten uns wenige Besucher kaum, streunten desinteressiert zwischen den Farnen und Gräsern und es kostete einige Mühe, um den Blick der Wachtel einzufangen:

 

Die Wachteln trugen Ringe an den Waden, auch jede Pflanze war gezählt, katalogisiert und ausgewiesen, nichts wurde hier in der nachgeahmten Wildnis dem Zufall überlassen. Keine leichte Gotteshand hatte diese Oasen bestückt, sondern der Wille eines einzigen Menschen.
Diese Sammlung von Exoten hatte einst Gruson gehört – einem der berühmtesten Söhne Magdeburgs. Hermann August Jacques Gruson, geboren 1821, ein Nachfahre französischer Einwanderer, war ein talentierter Mechaniker und Ingenieur.
Seine Begabung entfaltete sich in einer Zeit, als sich über die deutschen Länder ein ergiebiger Sternschnuppenregen herausragender Erfinder ergoss – Bosch, Siemens, Junker und viele anderen talentierte junge Menschen mischten bei der Industrierevolution so heftig mit, dass ihre Namen zu Marken wurden, die in der ganzen Welt bekannt wurden und deutsche Qualität und Innovation verkörperten – bis in die jüngere Vergangenheit jedenfalls.

Gruson gründete 1855 bei Magdeburg die Maschinen -Fabrik und eine Schiffsbauwerkstatt mit Werft und Gießerei, deren Hartguss-Produkte bei Lokomotiv- und Panzerherstellern begehrt waren. Die Werke einwickelten sich prächtig, aber Grusons Begeisterung für seine Schienen und Maschinen scheint im Laufe des Lebens
zu geschwunden zu sein – 1886 wurde sein Unternehmen in eine Aktiengesellschaft umgewandelt, bald darauf beendete er seine Mitarbeit im Vorstand der AG und schließlich verkaufte er seine Werke an Krupp. Nun konnte er sich gänzlich seiner naturwissenschaftlichen Studien widmen – seinen Exotischen Pflanzen und seinen Forschungen über Zodiakallichts, auch Tierkreislicht genannt.

Endlich vom Joch des alltäglichen Verpflichtungen befreit, veröffentlichte er das Buch “Im Reiche des Lichts“, es war die Frucht seiner dreißig Jahre langen Grübeleien über ein rätselhaftes Himmelphänomen, das auf der südlichen Halbkugel nach dem Sonnenuntergang manchmal, sehr selten und sporadisch zu beobachten ist.
In wissenschaftlichen Kreisen blieben seine astrologischen Studien weitgehend unbeachtet, was ihn offensichtlich schmerzte, aber nicht verwunderlich war – zu viel Leidenschaft, Pathos und Sehnsucht schwebte zwischen den Zeilen der Schriften des Laien- Astronomen und „erfahrenen Mechanikers“, wie der Autor selbst demütig von sich sagte.
Je mehr ich über Grusons Leben nachlas und in seinen Schriften blätterte, desto klarer wurde mir die Tatsache, dass er, der Mechaniker, Ingenieur, Unternehmer und Geheime Commerzienrath für die Öffentlichkeit, eigentlich ein geheimer Romantiker war und dass seine Studien eigentlich nicht der Wissenschaft galten, sondern seiner nach romantischen Fernen durstigen Seele.
Seiner protestantischen Ethik, seinem Ehrgeiz und Erfolg verpflichtet, hatte er, ein Familienvater und Unternehmer, sich nicht gefährliche Abenteuer und ausgedehnte Reisen gönnen können, und als Trost ließ er in seine Magdeburger Gewächshäuser Pflanzen aus fünf Kontinenten holen und am Feierabend, nach getaner Arbeit richtete er seinen wehmütigen Blick himmelwärts.
„Ein für die Eindrücke der Naturerscheinungen empfängliches Gemüth muss es wie eine heilige Weihe in seinem Innersten empfinden, wenn das Auge in stiller Nacht sich himmelwärts richtet und der Blick die unermessliche Reihe zahlloser leuchtender Gestirne durchschweift. „ – schreibt Gruson. – „ Abgelenkt von der aufreibenden und zerstreuenden Thätigkeit des Alltagslebens mit seinen wechselnden Bildern in unmittelbarster Nähe des Menschen, erhebt sich der Geist in freiem Gedankenfluge aus dem Gebiete des endlich begrenzten Raums zu den unbekannten Welten des Unendlichen und Unbegrenzten, für deren Grösse die irdischen Dinge keinen Maassstab mehr zu bieten scheinen“

Erst 1892, befreit von der „aufreibenden Tätigkeit“ an seinen Werken unternimmt er eine Reise nach Ägypten, um „Beobachtungen von Erscheinungen des Tierkreislichtes in einer südlichen Zone anzustellen“.
Aber zu kurz war die Reise, auf die er sein ganzes Leben gewartet hatte, und das mysteriöse Himmelsphänomen sah er nicht mit eigenen Augen, musste sich mit Bildern und Beschreibungen anderer Reisender begnügen, die mehr Glück gehabt hatten.
Neid und Wehmut schimmern zwischen den Zeilen, gewidmet den Beobachtungen seiner Brüder im Geiste, deren Leben eine ganze aufregende Reise gewesen war – solcher wie des rastlosen Universalgelehrten Alexander von Humboldt oder dey Ägyptologen Heinrich Brugsch…
Grusons Reise dagegen war ein Tropfen auf dem heißen Stein, so schien es mir jedenfalls, während ich in seinem Buch blätterte. Als ich den alten Band der Bibliothekarin zurückreichte, sah ich auf der Vorsatzseite in der linken unteren Ecke zwei Zeilen aus gewundenen schmucken Buchstaben einer unbekannten Sprache. „Die Bücher sind nach dem Krieg als Beute in die Sowjetunion gegangen – das könnte durchaus armenisch sein, oder georgisch – wer weiß?“ – sagte die Bibliothekarin und ich dachte, Gruson würde sich freuen, dass sein Buch tausende Kilometer weit, über hohe malerische Berge reiste und nach mehrere Jahren unversehrt heimkehrte.

Am 30. Januar 1895, nur drei Jahre nach seiner Ägypten-Reise, starb Hermann Gruson in seiner Heimatstadt und am 3. Februar lag „der sterbliche Theil des geheimen Commerzienraths“ in seinem Herrenhause aufgebahrt, wie die Presse mitteilte. Auf einem Tabouret lagen zahlreiche Orden des Verstorbenen, und um seinen Sarg tummelten sich seine exotischen Lieblinge – „Palmen aus dem sonnigen Süden, Farne aus den Urwäldern des Mississippi, seltene Gewächse aus den Cordilleren, dem Caplande, dem fernen Indien und Madagaskar“.

Lange blieb ich vor den Tafeln stehen, auf denen Grusons Lebenslauf und sein Vermächtnis den Gewächshausbesuchern präsentiert wurden. Die Außenwelt hinter den Sprossenwänden wurde immer düsterer, die trüben Sprossenwände und Decken hingen über den melancholischen Pflanzen wie ein Trauerschleier und die ganze Anlage, dieses Labyrint aus Glashallen und Irrwegen schien mir  nichts andres zu sein als ein Denkmal unerfüllter Träume und nicht betretener weiter Wege.