VIII Sex sells. Oder: Der Liebe wegen.

Wir sind visuelle Wesen und reagieren auf optische Reize. Das wissen naturgemäß auch die Medien; und nutzen es zur Steigerung ihrer Auflagenzahlen. Dass Zeitungen überleben wollen, daran ist per se nichts verwerflich, die Krux liegt im Detail, in der Frage des Wie; vor allem aber in der Sprache, die sie zur Umsetzung ihres Wunsches nach Aufmerksamkeit nutzen. Diese verrät auch ein Weltbild, welches sie selbst vertreten und/oder das ihnen symptomatisch für ihren Leser*innenkreis erscheint.

Seien wir ehrlich, wir denken ständig daran. Manche nehmen diese assoziativen Gedanken wahr, andere verbergen sie – vor sich, vor anderen. Doch Sexualität ist stets ein Thema, welches unsere Tage und Nächte begleitet. Im Frühling und Sommer, wenn die Temperaturen steigen und die Bekleidungsvarianten luftiger werden, wird dieses Denken-an in den Hin-und-weg-Blicken offensichtlicher, während gleichzeitig die Magazine über Sommerlieben schreiben, sei es der angeblich nötigen ›Bikinifigur‹ wegen, die dieser ›Liebe‹ förderlich sein soll, was mit Verlaub ein Humbug ist. Wahrhaftige Zuwendung zu einem Du hat sich noch nie nach der Waage gerichtet, und sie wird dies hoffentlich auch in Zukunft nicht nötig haben. Und den Herren wird die Entfernung ihres Winterpelzes empfohlen, sollten sie neben dem Blick auf die Tour de France durchaus auch mal andere Bedürfnisse haben, die Damenwelt werde ihnen ihre entzündeten Haarwurzeln schon danken, von Nichts komme eben bloß Nichts. Wie auch immer man darüber denken mag, Begehren liegt jedenfalls von April bis September in der Luft – ›Liebe‹ würde ich jene Emotion eher nicht nennen. Doch Begehren ist ja auch etwas Schönes, nicht?

Mitten in den allgemein romantisch genährten Sommer-Dialog fällt auch der Christopher Street Day, am 28. Juni jährt er sich, um genau zu sein. Manchen ist dieser Gedenktag nicht unter jenem Namen bekannt, sondern unter dem Titel »Pride Parade«, welcher die Konsequenz des historischen Ereignisses in den Blick rückt: Man hat sich vorgenommen, selbstbewusste Existenz bereits in der Benennung zu vermitteln und will andere gleichfalls dazu zu ermutigen. Aus Sorge, die Betitelung mit »Pride Parade« ließe den Demonstrationszug zum bloßen Spektakel werden und den ernsten Hintergrund in Vergessenheit geraten, entschied man sich zur verweisenden Rückkehr und verwendet seither im deutschsprachigen Raum beide Termini synonym: In den frühen Morgenstunden des 28. Juni 1969 kam es in einem Lokal in der Christopher Street in Greenwich Village, New York City, zu einer Polizei-Razzia, welche durch ihre Gewalt in die Annalen unserer globalen Geschichte einging. Bullen gefielen sich darin, Menschen zu verprügeln, einzig und allein weil deren Anderssein sie von der heteronormativen Norm abrückte. Tagelange Straßenschlachten waren die Folge, denn zum ersten Mal in der Geschichte schlossen sich diese ausgestoßenen Existenzen zusammen und begehrten gegen diskriminierende Behandlung durch die Mehrheit auf. Daraus entwickelten sich im nachfolgenden Jahr bereits erste Demonstrationsumzüge. Nicht nur die Zahl der Menschen, die sich mobilisierten, wuchs, sondern der Protest griff zudem in andere Länder über, sodass acht Jahre nach den erschreckenden Ereignissen in zahlreichen Städten Protestzüge, bald schon regelrechte Paraden, Sichtbarkeit und Akzeptanz für eine andere Liebesart einmahnten. Nein, kein Tippfehler meinerseits, Liebesart, nicht Lebensart, denn sie arbeiten, ziehen Kinder groß, atmen, lieben und streiten, zahlen Steuern, hoffen und vergeben, zweifeln und ängstigen sich wie alle anderen auch. Ihr Leben in seiner Grundessenz differiert nicht; nur wen sie lieben, wählen sie anders.

Die Gründe, sich diesem Zug anzuschließen, sind simpel: Wenigstens einmal im Jahr man selbst sein, vielleicht auch nur am Rand des Demonstrationszuges – oder mitten darin, wer bereits den Mut hatte, sich zu bekennen; was gerade auch durch das Treten aus dem verbergenden Schrank durch Prominente hierzulande oder anderswo für viele andere eine mutmachende Dynamik erfuhr.

Sicherheit und Akzeptanz einzufordern, ein Grundrecht, selbst wenn das in manchen politischen Parteien bis heute nicht angekommen ist. Vor allem dann nicht, wenn sie sich selbst mit Offenheit und Ehrlichkeit schwertun und lieber als Demagogen die Geschichte unserer Welt bewegen. Nur manch ewig im Gestern verharrende Zeitgenoss*innen mag die Forderung nach Gleichberechtigung im gesellschaftlichen Alltag noch immer zu misogynen, homophoben, diskriminierenden Ergüssen ermutigen. Nimmt sie den gönnerhaften Ton an, sie dürften ja existieren, aber sie sollten bitte weder auffallend noch sichtbar sein, ist das kaum besser. Dass sich der Rest der Welt alljährlich mindestens von Juni bis August solches anzuhören hat, ob sie es wollen oder nicht, nervt nicht bloß, es ist auch ein Gradmesser für die Frage, wie es um unsere Kultur bestellt ist, in welche Richtung wir als Gesellschaft marschieren. Medien sind hierfür ein guter Gradmesser. Ich habe mich schon von mehr als einer Zeitung verabschiedet, weil ich deren Positionierung zu diesem Themenkreis untragbar finde und solch ein Blatt nicht mit meinem Geld unterstützen will. Nein, ich spreche nicht vom Boulevard und dessen bekannten, reißerischen Methoden, sondern von gemeinhin als seriös angesehenen, langjährig etablierten Medien. Nach eher zurückhaltenden Jahrzehnten, in denen es zum guten Ton gehörte, Offenheit zu signalisieren, sei sie real oder bloß geheuchelt, verändert sich erneut der Ton, der im Hinblick auf Gender und Sprache, LGBTQ und andere Liebesformen allgemein angeschlagen wird. Ein neuer Konservativismus hält Einzug in Europa, und wer ihn einzig in den Ländern des ehemaligen Ostblocks wie Polen oder Ungarn erkennt, verschließt die Augen vor weniger auffälligen Formen seiner Spielart. Das Magdeburger CSD-Team setzt bewusst ein Gegenzeichen und will sich um die »EuroPride 2025« bewerben. Im Gegensatz zum Titel der Kulturhauptstadt entscheidet darüber keine Jury aus einigen Personen, sondern alle der rund 300 Mitglieder der »Pride«-Organisation. Möge es Magdeburg gelingen, denn es wäre ungemein wichtig, die »EuroPride« in kleinere Städte, ja, ganz bewusst auch in den ruraleren Raum zu holen, und nicht bloß in Metropolen. Gerade auch wenn sich unter die befürwortenden Postings immer mal wieder homophobe Kommentare mischen oder LGBTQs, die in der Region leben, von mancher Anfeindung erzählen, deren Ton eindeutig auf eine rechtsgerichtete Gesinnung verweist, insbesondere, wenn die persönliche Form der gelebten Queerness optisch auffälliger ist, gilt es – auch als Stadtverwaltung – bewusst Stellung zu beziehen und ein Zeichen zu setzen. Ich denke an meine Lesereise nach Belgien, an die Wand, welche dort im »Citizen Garden« steht, und aus deren hunderten Zitaten ich just eines des kubanisch-amerikanischen Wissenschaftlers José Esteban Muñoz zog: »We have never been queer, yet queerness exists for us as an ideality that can be distilled from the past and used to imagine a future. The future is queerness’s domain. Queerness is a structured and educated mode of desiring that allows us to see and feel beyond the quagmire of the present.«

Der Sumpf der Gegenwart, den es zu überwinden gilt, um eine Zukunft zu schaffen … in den Medien, so dünkt mir, ist der Morast stärker denn je, vielleicht auch bloß offensichtlicher geworden, weil das Verbergen hinter selbstkreierten Namensgebungen Bedenken schwinden lässt. Und viele Medien, auch jenseits des Boulevards, diese Dynamik für sich nutzen wollen. Verräterisch sind dabei die Wahl, die ein Blatt hinsichtlich des Kolumnenwortes, des Gastkommentars oder der Glosse trifft. Allesamt Rubriken, die eine Meinung vertreten, welche polarisieren kann, darf oder sogar soll – natürlich mit schielendem Blick auf die Leser*innenzahlen, denn die Krise der Medien ist noch lange nicht vorbei. Gegenwärtig spazieren in jenen Rubriken zahlreiche Blätter haarscharf an einer Grenze entlang. Auf enthüllende Einblicke in ehedem Privates – der letzte Ehestreit, die jüngsten Kapriolen der Kinder –, folgt nun anderes. Der Voyeurismus, den man während der vergangenen Jahre bereits konstant zu befriedigen trachtete, lockt eben auch nicht ewig die Welt hinter dem Ofen hervor, werden die Töne nicht schärfer, gewagter. Mir dünkt manchmal, man nutze diesbezüglich die Lehre der nicht besonders sozialen Social Media Foren und setze zusehends intendierter Aufreger mit der Kraft des Schürhakens ein. Natürlich erreicht man jene in Postings zutage tretende Infamie noch lange nicht, will sich ja auch bloß ein wenig anlehnen – und hofft auf die zweifelhafte Kompetenz der User*innen-Kommentare darunter: Sie werden das Werkel dann schon am Laufen halten, triggert man bloß gekonnt.

Frappierenderweise beginnt die Gehässigkeit bereits bei einer Thematik, von der man doch denken könnte, sie wäre lange schon gegessen – könnte höchstens ein Aufreger für unsere Urgroßeltern gewesen sein, aber doch bitte nicht mehr heutzutage! Schließlich haben wir das alles bereits in den 1980er-Jahren des Langen und Breiten diskutiert, wie oft sollen wir es noch wiederholen? Ein letztes Mal also:

Sprache bildet Welt ab.

Und wollen wir in dieser Welt, wie sie ist, fürderhin nicht leben, weil sie uns unmenschlich dünkt, so ist es unsere Aufgabe, darauf – als bewusste Menschen – das Augenmerk zu lenken und in jenem Sinn, Sprache als Störfaktor zu nutzen. 

Ein alter Hut – würde man glauben. Aber die Welt belehrt uns eines besseren: Sie will es noch immer debattieren, selbst wenn die Einwände sich nicht weiterentwickelt haben. Dafür passen sie besser zur gegenwärtigen, konservativen Politik. ›Argumente‹ möchte ich sie aus Überzeugung nicht nennen, denn es sind Wände, hastig aufgezogen, die keinen Dialog anstreben. Sonst würden sie ihm ja in ihrer Entwicklung folgen und sich nicht bis zum Erbrechen wiederholen …

Noch immer ist der Haupteinwand gegen die Sichtbarmachung aller Menschen in unserer Welt die ignorante Aussage, man verstünde ›es‹ doch auch ›so‹, dass Frauen ›eh mitgemeint‹ seien. ›Eh mitgemeint‹, bitte, wer will ›eh mitgemeint‹ sein, so unter ferner liefen? Sie etwa?

Wer diesem Palaver heute noch anhängt, dem sei nachfolgende Denkaufgabe empfohlen – stellen Sie diese doch Ihrer Umgebung, ohne vorherige Ankündigung oder thematische Erläuterung. Die Antworten könnten aufschlussreich sein:

»Ein Vater und sein Sohn haben einen Auto­unfall. Der Vater wird dabei getötet, das Kind schwer verletzt. Als das Kind in den Operations­saal gebracht wird, sagt einer der Chirurgen: ›Ich kann die Operation nicht durchführen, dieser Junge ist mein Sohn.‹ Wie ist das möglich?«

Ein Einwand im zusehends hitziger werdenden ›Dagegen!‹ ist jedoch neu: die angebliche Verhunzung des Schriftbildes störe das Auge – ja, wahrhaftig! Eine Verhunzung des Schriftbildes. Klicken Sie sich ruhig durch ein paar Seiten, die Social Media Foren und Presseportale sind wahre Fundgruben dieses Wetterns! Ein kleines Sternchen, ein Doppelpunkt, ein großes Binnen-I erzürnt auf höchst erstaunliche Weise derart die Gemüter, weil es ›so hässlich‹ aussehe? Ich würde diesen besorgten Geistern ihre unnötigen Bedenken nur zu gerne abnehmen – ›Greifen Sie doch nach den Sternen! Das ist modern.‹ –, doch spricht Holzhammersatzbau, ignoranter Umgang mit Genitiv und Konjunktiv gegen die Behauptung der Besorgnis. Ach, würden sie sich doch mit gleicher Vehemenz darum kümmern, ihr Wissen um die Nuancen des Vokabulars zu nähren! Oder wäre ihnen wenigstens die Differenz zwischen doppelten und einfachen Anführungszeichen (vulgo: Gänsefüßchen) annähernd ein Begriff; von Orthografie und den Feinheiten der Interpunktion schweigen wir lieber, auch wenn ich wahrhaftig nicht verstehe, was an der Zeichensetzung einer direkten Rede so kompliziert sein soll oder wieso ein Satz zum Emmentalerkäse verkommen muss. Vollfett steht dann ein Wort neben dem anderen. Kirschgroße Löcher thronen dazwischen. Und dann hat Ironie mit ›on‹ / ›off‹ markiert zu werden – als würde man eigener Kompetenz darin nicht trauen. Aber Schönheit wollen sie erhalten! Weshalb ein Sternchen sie zur Weißglut bringt. Wenn das kein vorgeschobenes Anliegen ist! Vor allem wenn gleich nachgereicht wird: ›Es geht nicht nur um Geschriebenes. Nicht lesen kann man das. Nicht sprechen!‹ (Holzhammersatzbau, übrigens, exemplarisch ausgeführt. Je weniger Wörter, umso besser. – Eine ›Und dann‹-Kette konnte ich leider an der Stelle beim besten Willen nicht unterbringen, die glänzt dafür ein paar Zeilen weiter oben …)

So liegt also hier der knurrende Hund begraben! Denn im Sprechton solcher Stern bestaubten Sätze taucht nämlich plötzlich eine andere Welt auf. Von einer Sekunde zur anderen ist für schlampig gewordene Ohren nur noch von Künstlerinnen, Chefinnen und Handwerkerinnen, von Politikerinnen und Busfahrerinnen, ja, auch von Chirurginnen die Rede, denn die maskulinen Vertreter derselben Berufsgruppen sind natürlich ›eh mitgemeint‹: in der Sekundenpause vor der Endung ›-innen‹. Und eine Sekunde ist jemandem, der an ausschließliche Präsenz gewöhnt ist, natürlich zu wenig. Klar, das versteht sich von selbst.

Es geht folglich in der ganzen Debatte nicht um Sprache. Es geht um Macht. Vor allem aber geht es um die Angst vor Machtverlust; und gleichfalls um die Angst, die das Eingeständnis der Ohnmacht evoziert: Nicht genannt zu werden, nicht vorzukommen, immer nur ›eh mitgemeint‹ gewesen zu sein, sich das einzugestehen, das schmerzt und evoziert Abwehr. Ja, ich kann sie durchaus verstehen, die Frauen wie die Männer, die dagegen aufbegehren. Ebenso ist nachvollziehbar, dass der Verlust an Sprachmacht einen in Abwehr bringt: Sich zu einer Auseinandersetzung und Reflexion genötigt zu sehen, weil einige Menschen rundum behaupten, es sei ›falsch‹, so zu sprechen wie einem der Schnabel gewachsen sei, wie man immer schon gesprochen habe. Das kann einen schon in Rage bringen, fehlt es einem an Selbstbewusstsein.  Veränderungen fordern uns heraus, ja, und dennoch führt kein Weg an ihnen vorbei, wollen wir eine Welt, die alle gleichwertig mitgestalten, in der alle einander auf Augenhöhe begegnen.

Sie glauben mir nicht, weil doch eh alles wunderbar und zum Besten und diese Welt sowieso schon eine der Gleichwertigkeit sei? Dann machen Sie ruhig die Probe aufs Exempel: Verwenden Sie eine Woche oder auch nur einen Tag ausschließlich weibliche Formen, und Sie werden staunen, was Sie damit als Echo evozieren! 

Solange mehrheitlich echauffierte, impertinente, übergriffige und diffamierende Kommentare unter Artikeln landen, die gegen sprachliche Sichtbarkeit aller wettern, wird es nottun, lautstark darauf hinzuweisen: Auch ich bin da, bin Teil eurer Gesellschaft. Und es wäre wohl sogar eine Überlegung wert, unsere Weltwirklichkeit durch die Schaffung neuer Personalpronomen zu bereichern, denn Sprache ist per se – auch – kreativ und verändert sich. Weshalb also nicht erSie und sieEr, um all jenen in unserer Mitte Sichtbarkeit zu verleihen, die sich so definieren?

Darum geht es auch denjenigen, die sich alljährlich anlässlich des Christopher Street Days zu Umzügen formieren. Menschen, die entschieden haben, dass sie sie selbst sein wollen und keiner sie einen weiteren Tag zwingen kann, sich zu verstecken. Oder die ihre Kinder, ihre Partner*innen dorthin begleiten, weil sie deren Entscheidung mittragen wollen. Unter den Zaungästen der Paraden finden sich neben Neugierigen wiederholt zudem diejenigen, die noch zu viel Angst vor etwaigen beruflichen und sozialen Konsequenzen haben, denen der Mut noch fehlt. Um ihnen diesen zu vermitteln, tun sie not, die Umzüge, auch fern der großen urbanen Zentren. Gerade gegenwärtig, wenn alles wieder auf Rücklauf steht und international Bedenkliches geschieht, wie die zuletzt bereits erwähnte Abmahnung einer Buchhandelskette wegen des Verkaufs eines Kinderbuchs, in dem sich zwei Väter liebevoll um ein Kind kümmern, und das nicht den Vermerk ›gefährlicher Inhalt‹ am Cover trug. Das ist ein gefährlicher Inhalt? Ein Gefahrengut, das die seelische Gesundheit eines Kindes bedroht? Sind wir in Europa wirklich so weit gekommen?

Vor rund dreißig Jahren argumentierte Ratzinger übrigens ebenso. Grund genug für einen Austritt aus der katholischen Kirche! Wohlgemerkt: Diskussionswürdig agierten und agieren hier eine Regierung und ein Kardinal, nicht ›die Ungar*innen‹ oder ›die Katholik*innen‹, die es sowieso nicht gibt. Ja, Engstirnigkeit und Dummheit überdauern offenbar unbeschadet Jahrzehnt um Jahrzehnt in Führungsriegen und finden ständig neue Träger, die ihre Vorurteile in die Welt posaunen. Ratzinger behauptete – wie auch die ungarische Regierung –, dass homoerotische Liebe keine Liebe sei, sondern bedauernswerte Krankheit, derer man sich mitmenschlich erbarmen solle. Was solche Köpfe über Menschen sagen würde, die andere lieben, weil sie Menschen sind, das will ich mir gar nicht ausmalen … Auf jeden Fall – so der Ton dieser Epistel – soll queeres Lieben nicht selbstbewusst als Teil der Gesellschaft gesehen werden, sondern lieber beschwiegen.

Wer das in den deutschsprachigen, ach so fortschrittlichen Ländern für Schnee von gestern hält, der blättere zum Beispiel in der »Neuen Zürcher Zeitung«. Dort schlägt die Kolumnistin Birgit Schmid in gleiche Kerbe – ja, schon klar, sie wollte witzig sein. Leichtfüßig im Ton und locker aus der Hüfte schießen, um alle Welt zu unterhalten.

So liebt man Kolumnen.

So gewinnt man Leser*innen.

So erhält man den Auftrag als Kolumnistin; ich weiß.

Ein Freibrief ist das dennoch nicht.

Was dabei nämlich am 18.6.2021 herauskam, war alles andere als witzig. Im besten Fall überaus peinlich. Im schlimmsten Fall eine impertinente Grenzüberschreitung.

Ihre Kolumne hängte Birgit Schmid an einer Instagram-Äußerung eines Models auf, welches zuvor eine Beziehung zu einer Frau hatte, nun mit einem Mann liiert ist und diese neue Beziehung lapidar damit kommentierte, sie sei pansexuell. Jener Terminus, schreibt Schmid, der gehe um und zwar ›in progressiven Kreisen‹: »Fast täglich wird man darüber informiert, wer diese bei sich entdeckt hat. Wie zu erwarten ist, etikettieren sich damit vor allem die Berühmten. Ein Jugendarbeiter hat mir aber erzählt, dass sich auch immer mehr Jugendliche als pansexuell outen, die davon im Internet gelesen haben.«

Ja, meine Güte, da ist Gefahr im Verzug, nicht wahr? Wenn man schon im Internet davon liest – und verstanden haben sie es sowieso nicht, also bitte, ›gefährlicher Inhalt‹, rettet die bedrohte Jugend. Oder haltet die Klappe und versteckt euch … Ungarn ist – wie es scheint – in der Schweiz gleichfalls zu Hause, ist überall dort zu Hause, wo Menschen andere davor bewahren wollen, ihren Horizont zu erweitern, weil sie dann vielleicht auf Ideen kämen; die sie im Falle der Unrichtigkeit ohnedies nach ein paar Jahren durch neue ersetzen werden. Wozu all die Aufregung? Ich frage mich manchmal, wieso kaum einer bei Ballerspielen & Co., bei rechten Comics und erschreckenden Liedern – mit oder ohne Lagerfeuer – ›Schutz der Jugend‹ brüllt. Oder weshalb sich unsere ewigen Mahner nicht mit gleichem Elan und Aufhebens Sorgen machen, weil die Kids sich kaum mehr konzentrieren können, ihr Aggressionspotenzial zu und ihre Empathiefähigkeit abnimmt, sie sich egomanisch gebärden und bereits jetzt erkennen lassen, dass sie wohl gutes Potenzial zu den Tyrannen von morgen entwickeln. Das finde ich persönlich nämlich weitaus bedrohlicher als einige wenige Jugendliche, die sich eventuell als Pansexuelle outen, ›weil sie davon im Internet gelesen haben‹, und sich womöglich über sich selbst irren. 

Aber weiter im Text, es kommt nämlich noch besser, denn Frau Schmid weiß nicht so recht, was anfangen, mit diesem neuen Begriff, der ihr nichts sagt: »Zuerst dachte ich, es handle sich um die Neigung, sich zu allem hingezogen zu fühlen, was sich bewegt, und darüber hinaus auch zu Unbelebtem: Man verliebt sich in ein Pferd, ein Windrad, die Topfpflanze.« Was hier so salopp daherkommt, zeigt den Mangel: Wer je die Reaktionen auf ein Outing miterlebt hat oder auch nur darüber las, kennt diese oft mit einem abwehrenden Auflachen verbundenen Wendungen, die verletzen wollen: Ja, ja, jetzt verliebst du dich in eine Frau und dann wohl in einen Hund ….

Nur das Windrad, das war mir neu. Wohl der in aller Munde seienden Thematik des Klimawandels wegen. Ich sagte ja schon, Sprache ist kreativ, sie bildet Welt ab und gestaltet sie mit, sie verändert sich. 

»Pansexuelle«, fährt Birgit Schmid fort, »sind auch offen für Transmenschen, was sie auch gleich mitdeklariert haben wollen. Geschlecht, sexuelle Orientierung und Identität spielten absolut keine Rolle, sagen sie. Sie neutralisieren also jede sexuelle Präferenz. […] So betonen sie gern: Sie fühlten sich von einem Menschen als Ganzes angezogen, nicht nur körperlich, sondern auch romantisch, spirituell und emotional. Wichtig sei, wie jemand aussehe, was für einen Charakter er habe und wie er sich verhalte. […] Pansexualität ist die sexuelle Orientierung der sozial Gerechten. Sie ist ein Ausdruck der ‹Woke›-Kultur. Wer sich als pansexuell bezeichnet, schliesst niemanden aus. […] Heute trägt man sein Triebleben wie eine Auszeichnung vor sich her. Die Pansexuellen mit ihrer vorgezeigten Offenheit und Toleranz geben den anderen vor allem zu verstehen: Wir lassen eure langweiligen Liebesformen hinter uns. Hetero ist normativ und von gestern.«

Die Wortwahl, das Arrangement der Sätze, der Tonfall – all das erzählt viel, und es fragt sich wirklich, weshalb Frau Schmid sich derartig davon attackiert fühlt. Ob eine*r diesen oder jenen Menschen liebt, sich deklariert oder nicht deklariert, wieso liegt für manche eine Bedrohung darin?

Ich kann es nicht verstehen.

Sie etwa? 

Und warum in aller Welt kommt Frau Schmid zu dem Schluss ›hetero ist normativ‹ – sollte das ein misslungenes Wortspiel zu ›heteronormativ‹ sein? Zu dem Begriff also, der bezeichnet, dass eine Gruppe, nur weil sie zufällig auch die Mehrheit stellt, ihre eigene sexuelle Vorliebe über alle anderen Menschen und zur Norm erhebt. Wer einen Satz wie ›Hetero ist normativ und von gestern.‹ an das Ende einer Kolumne stellt, führt den Schürhaken nicht bloß bewusst, diese Person kalkuliert auch auf ersehntes emotionales Echo, wenn sie Leser*innen den inkorrekten Schluss nahe legt, Pansexuelle würden behaupten, Heterosexualität sei von gestern: Es ist nichts als Öl ins Feuer. Und ein Freibrief für User*innen-Kommentare, die alsdann ihren Zorn über ›abstruse Lebensweisen und Ansichten‹, ›kaputt‹ und ›dekadent‹, dem ›Untergang der Zivilisation‹ in die Tasten hämmern. Natürlich sei der Grund für ein pansexuelles Outing einzig der Wunsch ›nach Außergewöhnlichkeit und Beachtung‹, aber all das sei ›eh kein Problem‹, die stürben von alleine aus, denn ›Fortpflanzung geht nur zwischen Männlein und Weiblein‹ und sicher würden einige von ihnen bald ›ihre Haustiere ganz legal heiraten‹. Letztes Kommentar hat bizarrerweise die Lacher auf seiner Seite, sonderbar, dass es noch derart erheitert, auch diese Dummheit ist ein altbekannter Hut, zum Gähnen langweilig und seit vielen Jahrzehnten eine der Antworten, die man erhalten kann, teilt man eigener Umgebung mit, man liebe nicht den vorgesehenen Menschen der Norm, sondern jemand anderen.

Verstehen Sie mich nicht falsch, es ist durchaus legitim, die Selfie-[Un]Kultur der Bekenntnisse infrage zu stellen! Es ist auch berechtigt, darüber nachzudenken, wem es etwas bringt, deklariert sich jemand von sich aus als was-auch-immer. Oder darüber nachzusinnen, ob wir wirklich so armselig im Denken sind, dass wir Schubladen und Etiketten benötigen, um uns etwas weniger bedroht zu fühlen, in dieser Welt, die sich so rasend schnell verändert hat und weiterhin verändert. Weshalb – auch das ist wenig überraschend – manche der User*innen die ›Gnade der späten Geburt‹ ins Feld führen und ›ihrem Gott‹ [!] danken, dass sie die Partner*innen-Wahl schon hinter sich hätten, denn ›was da jetzt kommt, brauch ich nicht mehr und ich schaffe es auch nicht, mich mental darauf einzustellen‹.

Denn was da jetzt kommt …?

Menschen, täte ich sagen.

Schlicht und ergreifend: Menschen. 

(Ja, Sprache war schon immer verräterisch … )

Und spricht man Menschen ihr Menschsein ab, indem man ihre Liebesart – im Scherz oder im Ernst – mit einer Beziehung zu Pferden vergleicht, sie also dessen bezichtigt, was man einst Sodomie nannte, öffnet man eine Tür, zu einer Zeit, von der ich hoffte, dass sie lange schon hinter uns liege. Was diese im Hinblick auf ein Leben mit sich bringen kann, das lehrt uns die Geschichte Deutschlands und Österreichs. Sie ist ein Exempel par excellence für alles, was dann blüht. Wer daran zweifelt oder mangelnde Kenntnisse hat, darf sich gerne lesend bereichern. Ein Blick in meinen Faction-Roman »¡Leben!«, dessen spanische Vorzeichen sich inhaltlich entschlüsseln, wiewohl sie nicht gerade zur Popularität des Romans beitrugen, könnte sich gleichfalls lohnen.

Was all das mit Magdeburg zu tun hat? Viel, denn ich kehrte in meinem Schreiben zu diesem Thema zurück, nachdem ich im Frühjahr an der Elbe entlang spazierte, ein herrlich schöner Sonntag war es, einer der ersten wirklich warmen Tage im Jahr. Der Fluss glitzerte im Sonnenlicht, die Spaziergänger*innen plauderten und lachten, vor den Eisdielen reihten sich die Schlangen, Kinder sausten über die Promenade. Friede, Freude, Eierkuchen und eine heile Welt. Vor mir spazierten zwei schicke Mädchen, denen die Begeisterung für Mangas anzusehen war. Zwei Radfahrer kamen uns entgegen, Männer um die vierzig, machten den Mund auf – und was sie sagten, verschlug mir die Sprache. Ich war zu perplex, um sogleich eine Entgegnung auf ihre misogyne Impertinenz zu finden. Und danach viel zu verärgert über meine Sprachlosigkeit. Deswegen tippte ich ihren Satz in die Suchmaschine, und was das Internet ausspuckte, ließ mich frösteln. Und ein Theaterstück schreiben, welches in Ausschnitten im Magdeburger Schauspielhaus am 22. September seine gelesene Uraufführung erleben wird … Übrigens, wer es vergessen hat: »Friede, Freude, Eierkuchen« war das Motto der ersten Berliner »Love Parade« im Jahr 1989, damals noch eine als politische Demonstration deklarierte Veranstaltung, die für Abrüstung, Völkerverständigung und eine gerechte Verteilung der Nahrungsmittel eintrat …

Aber bleiben wir noch einen Moment bei jenem Gedanken, weshalb es manche ihrem weiteren Umfeld mitteilen, weshalb es manche Promis sogar der ganzen Welt sagen wollen. Ich erinnere mich noch gut an das Echo, auf die Outings einiger prominenter Personen in den 1990er-Jahren, seien sie Politiker*innen, Schauspieler*innen oder Sportler*innen. Sie trugen Relevantes dazu bei, dass ein Diskurs in Gang kam, und ich denke, ich greife nicht zu hoch, wenn ich sage, ihretwegen kam der Gedanke in der Mitte der Gesellschaft an, dass Liebe Liebe ist, und es somit völlig irrelevant ist, wen man sich wählt. Die Abschaffung des § 175 in den 1990er-Jahren, der Homosexualität als Strafbestand diffamierte, mag ein erster Schritt gewesen sein, aber die Eliminierung eines Unrechtparagraphens allein hat noch nie die Welt verändert. Es bedarf auch der Menschen, die den Mut zur Sichtbarkeit haben. Pansexuell als Begriff kannten die 1980er noch nicht, und man kann meines Erachtens durchaus zu Recht sagen, er sei eine Konsequenz jener Entwicklung in den 1990er-Jahren. Nun haben wir also ein Wort dafür: Liebe ist Liebe. Und das ist gut so. Denn wir Menschen brauchen Termini, um uns und unsere Gedanken, Gefühle auszudrücken. Kaum etwas ist so bedrohlich und beängstigend wie Sprachlosigkeit.

Jüngst leitete ich einen Schreib-Workshop an einer Schule im ruralen Raum. Ein Kind in jener Klasse nutzte die Möglichkeit der Imagination, der Narration, um sich selbst als Mädchen zu erzählen, langsam sich voran tastend, Wort für Wort, implizit in der entworfenen Geschichte durchaus auch der Wunsch, den Klassenkamerad*innen die eigene Verwirrung deutlich zu machen, denn biologisch wurde es als Junge geboren, empfand sich selbst aber nicht so. Es war eine verständliche Suche nach Zeichen ihrer Akzeptanz – bitte sagt mir, dass es in Ordnung ist, Ich zu sein, wie auch immer ihr das nennen wollt. Eine Verwirrung, für die jenes Kind noch kein Wort hatte, nur davon erzählen konnte, sich herantasten. Es wird es finden, das Wort, wenn die Zeit dafür reif ist, dessen bin ich mir sicher, solange sich unsere Gesellschaft eine Offenheit bewahrt, die wir uns während der vergangenen vierzig Jahre mühsam Schritt für Schritt erarbeitet haben. Um diese zu nähren, ist es wichtig, rund um den Christopher Street’s Day auf die Straße zu gehen, unsere Mitmenschen zu ermutigen, sie selbst zu sein und einen Diskurs darüber zu pflegen, von mir aus auch in ›unscharfen‹ sozialwissenschaftlichen Begriffen, wie Frau Schmid meint, völlig powidl. Nur gehässige Kolumnen, die ebensolche User*innen-Kommentare nach sich ziehen, die braucht keiner. Und Printmedien sollten sich selbst respektieren und sich deshalb davon verabschieden, ihre Auflagen dadurch steigern zu wollen, dass sie solche drucken.

Ebenso wie sie sich davon verabschieden sollten, Schlagzeilen zu bringen, denen es aus jedem einzelnen Zeichen schreit, dass sie einzig dazu ausgewählt wurden, um als Eyecatcher zu fungieren. Samt dazu passendem Bildwerk. Haben unsere Medien und diejenigen, die für sie schreiben, wirklich gar kein Gefühl für meinungsbildende Verantwortung mehr? Da titulierte doch jüngst wahrhaftig ein Magdeburger Blatt »Polizei gibt Tipps für käufliche Liebe«. Mal ganz davon abgesehen, dass diese Schlagzeile sicher verkaufsfördernd ›funktioniert‹, insbesondere wenn sie prominent auf Seite 1 thront, sagt sie außerdem etwas darüber aus, wie dieses Blatt die eigenen Leser*innen einschätzt. Sie erzählt aber auch eine Menge, was manche in der Redaktion wohl lieber nicht erzählt wissen wollten, denn die Titelzeile hieß ja nicht: ›Polizei warnt Freier vor Betrügern‹ oder ›Polizei informiert Kunden der Sexarbeiterinnnen‹. Nein, da steht: Die Polizei gibt Tipps; was an ›Freund und Helfer‹ erinnert. Also, die Polizei, dein Freund und Helfer, sagt dir, wie du am besten Liebe kaufst – wie bitte? Kaufst? Kann man Liebe kaufen? Wieso diese – im besten Fall – verschämte Bemäntelung, dieser Euphemismus? Und im schlimmsten Fall: eine völlige Ignoranz für einen Diskurs, den wir gleichfalls schon seit vierzig Jahren führen. Sexarbeit ist Sexarbeit, und solange sie freiwillig geschieht, alle sozialen und rechtlichen Normen des Arbeitslebens gewahrt sind, gibt es meines Erachtens nichts dagegen einzuwenden, solange kein Ausbeutungsverhältnis vorliegt, welches Freier durch ihre Zahlung finanzieren und damit prolongieren. Seien wir ehrlich: Diese Situation ist kaum je gegeben.

Diese Debatte über Sexarbeit, Pro und Kontra, die können wir gerne ein anderes Mal führen, hier soll es um ein Nachdenken über die Frage gehen, wie ein männlicher Journalist im Jahr 2021 wirklich und wahrhaftig noch den Terminus ›käufliche Liebe‹ verwenden kann. Was geht in solch einem Menschen vor? Oder sollen wir annehmen, die einfachen Guillemets, die er zur Kennzeichnung nutzte, seien leider auf dem Weg von seinem Schreibtisch zum Druck sonderbarerweise verloren gegangen? Wohl der eiligen Schritte wegen, damit es sicher noch ins Blatt käme, sein Einser-Kastl? 

Greife ich zu weit, wenn ich sage, ›käufliche Liebe‹ sollte eine Ohrfeige sein, die ebenso schmerzt wie das N-Wort oder die diffamierende Bezeichnung, die Roma und Sinti lange mit sich herumzuschleppen hatten? Bringt man hierzulande den Kindern nicht bei, dass Freundschaft nicht gekauft werden kann, niemals? Und ist ihnen deswegen nicht klar, dass auch ›Liebe‹ kein Gut ist, mit dem Handel getrieben werden kann? Wieso schrieb er nicht, was es in Wahrheit ist: Sex. Männer kaufen Sex. Männer kaufen Frauen. Manchmal im Setting der Sexarbeit, manchmal fern davon.

Weitaus seltener: Frauen kaufen Sex. 

Doch ob Mann oder Frau: Mit Liebe hat beides im Fall des Kaufens nichts gemein. Sie kaufen einen Körper zur Benutzung. Manchmal auch zur Machtdemonstration. Liebe? Ist etwas gänzlich anderes. Ist Zuwendung und Hingabe, ist ein Wahrnehmen des Gegenübers, ein Sich-Einlassen. Verlange ich zu viel von einem Journalisten, wenn ich finde, er solle bewusst mit Sprache umgehen? Schließlich fordern wir ja auch von einem Maurer, dass er sein Zement-Gemisch beherrscht und außerdem weiß, welche Ziegel er wofür benötigt.

Schreibt einer heute ›käufliche Liebe‹, verrät er eben ungewollt auch, wessen Geistes Kind er ist, denn: Sprache bildet Welt ab.

Und Sprache verändert sich konstant, weil Begriffe hinzukommen, wegfallen. Sie verändert sich, weil Termini in einer gewissen Phase der Geschichte für einen bestimmten Zweck verwendet wurden, der sie einfärbte, der auch Jahrzehnte danach noch nachhallt, und man kann diese Wörter nicht mehr unbedacht verwenden, weil ihnen ein Rattenschwanz anhängt. Das N-Wort ist ein Paradebeispiel dafür, auch die ›Kulturnation‹; die meisten Wendungen, denen ein unangenehmer Geruch anhaftet, verdanken wir den Nazis: ›durch den Rost fallen‹ oder ›mein Kampf‹, ›jedem das Seine‹, ›asozial‹, um nur einige Beispiele zu nennen. »Wie viele Begriffe hat die Sprache des Nazismus geschändet und vergiftet!«, schrieb Viktor Klemperer bereits 1947 und brachte darin eindeutig auf den Punkt, was mit ihnen geschah: Sie sind vergiftet. Wer sie weiterhin benutzt, sollte sich der Folgen bewusst sein.

Und ›käufliche Liebe‹ ist gleichfalls ein Begriff, dessen toxische Kraft uns Anlass genug sein sollte, ihn zu meiden, wollen wir jene Emotion, die wir als eine der wichtigsten für uns Menschen ansehen, nicht vergiftet wissen. Werfen Sie mir nicht das Argument in die Sprachlandschaft, soweit denke doch kein Mensch, es werde halt so genannt, immer schon.

Gut möglich. 

Umso trauriger. Und ›immer schon‹ war noch nie vernünftig und schon gar kein Grund.

Als ich bei einer Debatte sagte, Sprachkünstler*innen wie Journalist*innen hätten auch eine Verantwortung für Sprache, sie seien diejenigen, die einen Diskurs über Sprache und Welt zu pflegen haben, die gegen ein Verarmen des Wortschatzes, gegen eine kontinuierliche Einengung des Sprachfeldes antreten müssten, indem sie ihren Leser*innen nicht nach dem Mund schrieben, sich an Alltagssprache anpassten, entgegnete man mir, ich träume wohl.

Ich gestehe: Ich träume gerne. Darin bin ich Österreicherin. (Tag)Träume sind eine höchst konstruktive Kraft, gefüllt mit tausend Ideen wie wir spätestens seit Freud und Schnitzler wissen.

Die Zeiten, entgegnete man mir des Weiteren, in denen Sprachkünstler*innen es sich leisten konnten, nicht gefällig zu schreiben, seien – ›leider, leider‹ – ein für alle Mal vorbei. 

Übrigens, diese Aussage tätigte eine Verlegerin. Der Wirtschaft wegen. Ich aber bin überzeugt, es gibt auch die anderen Leser*innen. Sich auf-Teufel-komm-raus anzupassen, das überlasse ich gerne anderen, denn nur tote Fische schwimmen grundsätzlich mit dem Strom. Ich aber, ich fühle mich noch recht lebendig. Und wenn schon ›leider, leider‹ der Grundtenor in manchen Verlagen und Medien ist, dann können wir auch bewusst den anderen Weg einschlagen, er steht uns ja gleichfalls offen: Bereichern wir das Sprachfeld wieder; sagen wir: ›Der Liebe wegen!‹

Swelch mensche wirt ze einer stunt
von wârer minne rehte wunt,
der wirt niemer mê wol gesunt,
er enküsse noch den selben munt,
von dem sîn sêl ist worden wunt.

Wird eine Mensch zu einer Stund
Von wahrer Minne wirklich wund,
So wird er nimmermehr gesund,
Er küsste denn den selben Mund
Der ihm die Seele machte wund.

(Mechthild von Magdeburg)

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