Über Kunst

Deutlicher kann man es nicht ausdrücken: „Erst Autogramme, dann Kunst.“ Und plakativer schon gar nicht, nämlich auf der Titelseite, groß und in Farbe. Da lächelt der Barde fröhlich ein paar Zentimeter an der Kamera vorbei. Nein, nicht Jürgen Drews schon wieder. So einfallslos ist die Magdeburger Volksstimme dann doch nicht. Diesmal ist es Roberto Blanco. Und der war sogar in der Stadt. Warum? Weil dort gerade die Kunstmesse eröffnet hat. Street Urban Pop Art aus München, Bildende Kunst aus Kärnten, Grafiken aus Dresden. Wen lädt man sich zur Eröffnung einer solchen Ausstellung ein? Robert Blanco. Logisch, oder?
Ich will mehr darüber wissen und schlage die Kulturseite auf. „Neues Programm der Magdeburger Zwickmühle rechnet mit der Corona-Pandemie ab“. „Kunstsammler Erich Marx gestorben.“ Wie jetzt? Der Schlager aus dem Feuilleton vertrieben? Hat sich da offenbar jemand beschwert? Nicht ganz. „Trauer um Gründer von Kool&The Gang“. Wobei – das ist ja Funk, kein Schlager. Geblieben sind aber die halbseitigen Anzeigen. Und da hat man diesmal immerhin einen kulturellen Akzent gesetzt. Nicht nur „Urlaub an der Nordsee“ oder „Silvester in Südmähren“ – auch eine 4tägiges Busreise zu den Störtebeker Festspielen wird angeboten. Aber wo zum Teufel finde ich Robert Blanco wieder?
Auf Seite 15, in der Beilage „Magdeburger Lokalanzeiger“. Zwischen Meldungen über Jugendliche, die sich gegenseitig Bluetooth-Boxen klauen und ein gemeinsames Abbaden von Mensch und Hund im Carl-Miller-Bad. Dafür aber umso spektakulärer. Im roten Sakko, mit ausgestreckter Hand, das Mikrophon vor dem Mund erstrahlt er über ein Viertel der Seite. Unten rechts schaut eine „Nachwuchskünstlerin“ aus München, die Alltagskleidung aus Holz erarbeitet, ernst in die Kamera.
Aber damit noch nicht genug. In einem dem Artikel beigefügten Kommentar wird der Auftritt Roberto Blancos bei der diesjährigen Kunstmesse als „Kluger Schachzug“ bewertet. Ja, es wird sogar die Behauptung aufgestellt, dass sich die unterschiedlichen Genres, also „Der Puppenspieler von Mexico“ und die Lichtkunst von Franz Betz aus Hannover etwa „durchaus beflügeln können“. Wobei den Künstler*innen immerhin attestiert wird, „geschluckt“ zu haben, als sie „davon hörte(n), wer die Messe eröffnen soll“. Aber wären denn sonst so viele Menschen zur Eröffnung gekommen? Und die Schlussfolgerung, die man daraus zieht, liegt auf der Hand: „Solche Anknüpfungspunkte sollte es viel öfter geben, wenn es um Kunst und Kultur geht.“ Also demnächst Heino zur Eröffnung der Magdeburger Literaturwochen. Die Wildecker Herzbuben bei der Verleihung des Telemann-Preises. Und wenn Magdeburg dann am 28. Oktober den Zuschlag als „Kulturhauptstadt Europas 2025“ erhält, dann bitte auch mit dem „König von Mallorca“ als „Publikumsmagnet“. Am besten auf einer riesigen Bühne im City Carré.

Über Kultur

Dass Jürgen Drews keinen gelifteten Po hat, erfährt man wo? Auf der Kulturseite der Magdeburger Volksstimme. Dort schenkt man Jürgen Drews ohnehin große Aufmerksamkeit. Schließlich hat der „König von Mallorca“ – wer es noch nicht wusste, diesen Beinamen verdankt der Barde keinem Geringeren als Thomas Gottschalk – soeben seine Memoiren veröffentlicht, unter dem Titel „Es war alles am besten“. Das muss natürlich gebührend besprochen werden, gleich auf einer halben Seite. Ganz im Gegensatz zu anderen Neuerscheinungen dieses Spätsommers, „Herzfaden“ von Thomas Hettche etwa, „Ein Mann der Kunst“ von Kristof Magnusson oder „1000 Serpetinen Angst“ von Olivia Wenzel. Da passt es doch wunderbar ins Bild, dass die Volksstimme den anderen Teil der Kulturseite für Anzeigen freigegeben hat. Fulminan – Der Beauty-Drink für reife Haut. Oder Deseo nehmen mein Mann und ich ein. Ich zur Luststeigerung, er als Erektionsunterstützung. Es wirkt! (Jutta und Heiner D.) Wer so für sich sorgt, der muss sich auch seinen Po nicht liften lassen.

Marienstift

Im Rahmen der Recherchen für mein Theaterstück „Sparwasser“ – ich bin gerade da, wo der Junge aus Westfalen, der sein Idol in der DDR treffen will, in einem Jugendpionierlager am Arendsee eine Blinddarmentzündung bekommt und dringend operiert werden muss -, bin ich auf das Marienstift gestoßen. Ein katholisches Krankenhaus in Magdeburg, das es schon zu DDR-Zeit gegeben hat, da zuckt ein ehemaliger Messdiener und Bruder eines Paderborner Domprälaten natürlich zusammen. Da ich gerade nicht in Magdeburg bin, muss erst einmal Wikipedia herhalten. „Obwohl von staatlicher Seite offiziell Einrichtungen der Kirchen abgelehnt wurden, war das Haus als Krankenhaus, welches zu dieser Zeit lediglich über die Fachgebiete Chirurgie und Innere Medizin verfügte, auch bei Funktionären der SED beliebt, wenn es um die eigene Behandlung ging.“ Klar, Hauptsache gesund, und wenn es von Gottes Gnaden ist, da machen auch die hartgesottensten Kommunisten keine Ausnahme. In meinem Stück drehe ich es so, dass der Junge erst im Krankenhaus „Gustav Ricker“ operiert werden soll, die Mutter, der es ohnehin am liebsten wäre, ihr Sohn würde im Westen operiert, wofür aber keine Zeit bleibt, dann aber dafür sorgt, dass er wenigstens in einem katholischen Krankenhaus unters Messer kommt. Ob sowas überhaupt realistisch ist? Egal, es handelt sich hier um ein Theaterstück, wichtig ist nur, dass die Namen stimmen. Und dass man aus einem Kriegslazararett keine Promiklinik macht.

  Das mit dem Kriegslazarett habe ich vom MDR, der mal einen Beitrag über die Krankenhäuser in der DDR gemacht hat. „Die Nadeln unserer Spritzen wurden zum Scherenschleifer gebracht, und der hat die neu angeschliffen, manuell! Und das tat natürlich furchtbar weh, damit Blut gezogen zu bekommen.“ – mit diesen Worten wird der ehemalige ökonomische Direktor eines Kreiskrankenhauses im thüringischen Mühlhausen zitiert. 

  Anders dagegen sah es, dem MDR zufolge, in den konfessionellen Krankenhäusern aus. Immerhin 72 davon soll es in der DDR gegeben haben, darunter das katholische Marienstift in Magdeburg, wo vor Gott alle gleich waren, Atheisten wie Tiefgläubige, jedenfalls sei kein Hilfesuchender abgewiesen worden, so ein ehemaliger Chirurg.

  Erinnert sich noch jemand an den Fall einer 25jährigen Frau aus Köln, die Ende 2012 nach einer Vergewaltigung von gleich zwei katholisches Krankenhäusern abgewiesen wurde, weil man dort befürchtete, ihr die Pille danach“ verabreichen zu müssen, was sich mit den katholischen Werten nicht vereinbaren lasse? 2015 hat der Humanistische Verband Deutschlands eine Studie in Auftrag gegeben, die die Benachteiligung nichtreligiöser Menschen in diesem Land untersuchen sollte. Einen breiten Raum nimmt dabei das Gesundheitswesen ein. „Konfessionsfreie und nichtreligiöse Bürgerinnen erhalten nicht in allen Einrichtungen des öffentlichen und privaten Gesundheitssystems den gleichen Umfang an Leistungen“, heißt es da. Das betrifft offenbar nicht nur Untersuchungen wie in dem Fall der 25jährigen Frau aus Köln, sondern auch psychologische Hilfestellungen im Falle einer schweren Erkrankung, also das, was vor allem die katholische Kirche als „Seelsorge“ bezeichnet. 

  All das mögen Einzelfälle sein und von einer strukturellen Benachteiligung nichtreligiöser Menschen in Deutschland zu sprechen, steht mir nicht zu, zumal sich das auch nicht unbedingt mit meiner persönlichen Erfahrung deckt, war ich in meinem Leben doch schon beides, religiös und nichtreligiös. Aber ich weiß schon, warum ich meinen kleinen Helden im Jahre 1974 ins Magdeburger Marienstift schicke. Es soll ihm schließlich geholfen werden.

Back to the roots

Dies sind die ersten Zeilen meines Stadtschreiberblogs, die ich nicht in Magdeburg schreibe. Sondern dort, wo alles begann. Na ja, nicht ganz. Der genau Ort ist eine Etage tiefer, in meinem alten Zimmer, das heute von meinem Vater genutzt wird. Dort, wo vor mehr als vierzig Jahren der Schreibtisch stand, an dem meine ersten Texte entstanden sind, thront heute sein Sekretär; wo sich einst meine Bücher stauten, hat er sein Nervennahrungsdepot aus Katjes, Studentenfutter und Toffifee. Und wo einmal Charles Bukowski mit einer Bierflasche in der Hand an der Wand hing, lächelt einem heute meine Mutter entgegen, die überhaupt keinen Alkohol trinkt.

  Doch auch von hier oben, dem früheren Zimmer meiner Schwester, wo ich jetzt sitze und schreibe, hat man einen Blick auf den Sportplatz der DJK Spielvereinigung Mellrich, meinem Heimatverein. Von hier beziehungsweise meinem alten Zimmer eine Etage tiefer  aus habe ich an manchen Sonntagen, wenn ich mal wieder was ausgefressen hatte und nicht auf den Sportplatz durfte, die Spiele der ersten Herrenmannschaft kommentiert. Meine ersten – sagen wir mal etwas gewagt: künstlerischen Verlautbarungen. Meine Vorbilder waren Jochen Hageleit, Armin Hauffe, Werner Hansch und Heribert Faßbender, die ich allesamt aus der von Kurt Brumme moderierten WDR-2-Sendung „Sport und Musik“ kannte. Rundfunkreporter also, keine Schriftsteller. Bis ich mich traute, über Fußball zu schreiben, das dauerte. Mindestens zwanzig Jahre. Da las ich dann „Fever Pitch“ von Nick Hornby und dachte: Das darf man? Im Namen der Literatur über Fußball schreiben?

  Man durfte noch nicht, zumindest nicht in Deutschland. „Damit können Sie vielleicht in Kolumbien oder einem anderen südamerikanischen Land reüssieren“, schrieb mir ein Lektor eines großen deutschen Theaterverlags zurück, nachdem ich ihm mein Stück „Golden foul“ geschickt hatte, in dem es um einen der legendärsten Platzverweise der Fußballgeschichte ging: den von David Beckham im WM-Achtelfinale 1998 gegen Argentinien, als er den heutigen Trainer von Atlético Madrid, Diego Simone, in die Wade trat und Englands Hoffnungen auf einen zweiten WM-Titel nach 1966 zerschellten. Und der große Tankred Dorst ließ den kleinen Jörg Menke-Peitzmeyer kurz darauf nicht an der Göttinger Dramatikerwerkstatt teilnehmen, weil er genau dieses Thema nicht „gewichtig“ genug fand. 

  Die Zeiten änderten sich erst, als Deutschland den Zuschlag für die Fußball-Weltmeisterschaft 2006 bekam. Plötzlich wollten alle Theater was zum Thema Fußball machen. Und ich konnte liefern, aus der prallgefüllten Schublade, ein Stück nach dem andern, über Abstiegskämpfe, Fußballfans und Nachwuchsspieler. Bis hin zu einem Spieler des FC. Magdeburg, der am 22. Juni 1974 um 21:04 im Hamburger Volksparkstadion Fußballgeschichte schrieb: Jürgen Sparwasser.

  Der Kreis schließt sich also. Ich sitze an meinem Geburtsort als Schriftsteller – ein Wort, mit dem ich übrigens noch immer so meine Schwierigkeiten habe – und schreibe über Fußball. Über Sparwasser. Beziehungsweise über einen kleinen Jungen, der den großen Sparwasser kennenlernen möchte. Dieser kleine Junge bin ich und bin ich auch nicht, wie das eben so ist in der Literatur: noch die wildeste Phantasie wurzelt im wahren Leben. Zumindest die Plattform, die Startbahn teilen wir, der kleine Junge und ich. Sie ist genau hier. Beziehungsweise eine Etage tiefer. Mit dem Blick auf den Sportplatz.

Heute vor 46 Jahren

Um ein Haar hätte ich vergessen, welcher Tag heute ist. Und was heute vor genau sechsundvierzig Jahren um 21 Uhr 03 im Hamburger Volksparkstadion passiert ist. Muss ich noch mehr sagen? Ich kann auch gar nicht mehr sagen. Wo ich um diese Zeit war, steht schon an anderer Stelle in diesem Blog. Ich war der Zeit voraus, zumindest während meiner Magdeburger Stadtschreiberschaft. Und so denke ich an den Mann, für den sich an diesem Tag mehr verändert hat als für die beiden deutschen Staaten. Oder will jemand ernsthaft behaupten, der 22. Juni 1974 habe eine Wende in der Beziehung der beiden deutschen Staaten eingeleitet? Letztlich ist dieser Tag nur eine Fußnote in den Geschichtsbüchern. Aber es wäre nicht das erste Mal, dass das, was der Geschichte nur eine Fußnote wert ist, für andere Schicksal geworden ist. „Wenn man auf meinen Grabstein eines Tages nur ‚Hamburg 74‘ schreibt, weiß jeder, wer darunter liegt“, hat der Mann gesagt, für den sich an diesem Tag sein ganzes Leben verändert hat. Möge es ihm gut gehen, an diesem und an allen anderen Tagen.

Rein in die Leere 10

Ich hatte in den vergangenen beiden Wochen gleich zweimal Besuch: erst kam ein kanadischer Freund für einen Sonntag mit seinem 900-Euro-Rad aus Berlin rüber, dann ein alter Schulfreund gleich fürs ganze Pfingstwochenende mit seinem handgemachten 5000-Euro Rad aus NRW. Und so geschah es, dass ich, der ich im übrigen hier in Magdeburg über ein dreigängiges Damenrad mit Einkaufskorb verfüge, ihnen die Stadt zeigte. Der Einäugige lehrte die Blinden das Sehen. Beziehungsweise der mit dem Drahtesel fuhr den Edeltretern voraus.
Was auch immer dabei herauskam – ich sage nur Dom und Hassel, Buckau und Stadtfeld, Mückenwirt und Treibgut, Riesenrad und Gierfähre, Alte und quasi Neue Elbe -, es löste Begeisterung aus. Nicht nur Erstaunen, so nach dem Motto „Ach, das hätte ich jetzt aber nicht gedacht“, Verblüffung („Donnerwetter!“) oder Verwunderung („Meine Güte!“), nein, regelrechte Begeisterung. Der Kanadier bedauerte, kein Autor zu sein, denn sonst hätte er sich umgehend für die Stadtschreiberschaft im nächsten Jahr beworben, und der Westfale ließ sich beim Sonnenuntergang auf der Zollbrücke zu den Worten „Alter Schwede!“ hinreißen; wer um die legendäre Zurückhaltung der Westfalen in Sachen Gefühlsäußerung weiß, wird diesen schieren Begeisterungstaumel entsprechend zu würdigen wissen. Und beide wollen sie im übrigen wiederkommen, so lange ich noch der Schreiber dieser wunderbaren Stadt bin.
Und das Seltsame daran ist: es hat mich nicht mal gewundert. Im Gegenteil, ich hatte sie bereits am Telefon mit den Worten „Es wird dir gefallen“ eingestimmt; da ich ebenfalls Westfale bin, könnte man auch behaupten, ich hätte gesagt: Es wird der schiere Wahnsinn!
Natürlich kenne ich die beiden seit Jahren bzw. Jahrzehnten, weiß also, was in der Lage ist, ihre Seelen zu erwärmen. Dann hatte ich in den vergangenen drei Corona-Monaten selbst Gelegenheit genug, mich von den zahlreichen Vorzügen Magdeburgs zu überzeugen. Aber mal ehrlich: war ich dabei wirklich immer so begeistert wie die beiden Freunde? Okay, es ist was anderes, ob man an einem Samstag im Corona-Monat April zu einer Elbwanderung aufbricht oder nach Ablauf der Quarantäne im Juni sich mit einem 5000-Euro-Rad ins Getümmel der Pfingstausflügler stürzt, aber rechtfertigt das allein das Gefühlsdefizit? Denn schließlich bin ich hier der Dichter, also der schon von Berufswegen zu Oden, Hymnen und Anbetungen Verpflichtete.
Damit wir uns hier nicht mißverstehen: ich mag Magdeburg. (Mit dem Wort „lieben“ geht unsereins vorsichtig um, fragen Sie mal meine Frau.) Ich bin gerne hier. Mir gefällt es. Und ich weiß schon jetzt, dass der Abschied mich wehmütig machen wird. Aber mit den Gefühlsausbrüchen meiner beiden Freunde kann ich auf Anhieb nicht mithalten. Hätten meine beiden Freunde mich damit beauftragt, schon mal den Wohnungsmarkt für sie zu sondieren, es hätte mich auch nicht gewundert. Eine Zweitwohnung an der Elbe, zumindest der mit dem 5000-Euro-Rad könnte sie sich leisten. Und was den Kanadier angeht, der hat immerhin ein Haus am Wannsee.
Was ich mit all dem sagen will – inzwischen eine beliebte Wendung in meinen Texten, denn schließlich schreibe ich sonst keinen Blog, tue dies also ausdrücklich für meine Lese*rinnen -: Magdeburg ist eine Stadt, die Begeisterung auslösen kann. Halten wir das mal ganz deutlich fest. Auch oder vielleicht gerade bei Westdeutschen. Selbstverständlich ist Magdeburg auch der haushohe Favorit meiner beiden Freunde auf den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“. Denn die anderen Städte kennen sie natürlich, Hildesheim, Hannover und Nürnberg, und, man höre und staune, sogar Chemnitz. Aber kein Vergleich mit Magdeburg.
Ich gebe zu, dass das, was meine beiden Freunde vor allem an Magdeburg begeistert hat, die Elbauen sind. Aber das tut der Sache keinen Abbruch. Denn was wäre Istanbul ohne den Bosporus, Köln ohne seinen Dom, Hamburg ohne seinen Hafen? Und so wie die Kölner neben dem Dom auch noch den Rhein haben, haben die Magdeburger neben der Elbe den Dom. Und da muss sich der Hamburger Michel schon gewaltig strecken, um da mithalten zu können.
Erst jetzt, während ich dies schreibe, fällt mir auf, dass meine beiden Freunde meinem zentralen Bezugspunkt zu Magdeburg so gar keine Bedeutung geschenkt wurde, nämlich der Leere. Ich vergaß sie, und meinen Freunden fiel sie möglicherweise gar nicht auf. Hätte ich ihnen gesagt, dass sie im Zentrum der Magdeburger Bewerbung für den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“ stehe, sie hätten mich vermutlich gar nicht verstanden. „Wie Leere? Was soll denn hier leer sein? Selbst der Himmel ist voller Wolken.“ Wecken wir also keine schlafenden Hunde. Lassen wir Magdeburg sein, wie es ist. Unterschätzt, ja, oft genug buchstäblich links liegen gelassen auf dem Weg nach Berlin, aber jederzeit bereit, Begeisterung auszulösen. Und das bei Menschen, die schon viel rumgekommen sind, mit Fahrrädern, die soviel kosten wie Gebrauchtwagen. Aber das heißt eben auch – und damit wäre ich doch wieder bei meinem Lieblingsthema – : lassen wir Magdeburg ruhig in der Leere verweilen. Denn vielleicht (und meiner Ansicht nach sogar ganz sicher) ist diese Leere die wahre Fülle.

Die Sonne und ich

Allerspätestens ab Juni geht die Sonne vor mir auf. Heute sogar eine knappe halbe Stunde. Will sagen, die Sonne ist um 4:53 aufgegangen, ich erst um 5:21. Dafür ist die Sonne aber gestern Abend auch schon eine Stunde früher untergegangen als ich, nämlich um 21: 33. Wir brauchen also beide ungefähr gleich viel Schlaf, die Sonne und ich.
Dafür scheine ich schneller als die Sonne. Viel schneller. Während die Sonne erst so langsam aufzieht, sitze ich schon gleich um 5:38 am Schreibtisch und schreibe an meinem Blog. Dafür bin ich dann auch mittags, wenn die Sonne ihren höchsten Stand erreicht hat, so um 13:21 schon längst verglüht. Beziehungsweise leiste ich mir dann meistens eine kleine Sonnenfinsternis, auch Mittagsschlaf genannt.
Jetzt, um 5:41, schauen wir uns gegenseitig beim Aufgehen zu. Die Sonne scheint zwar noch nicht, aber sie lässt immerhin ihr Licht auf meine Computertasten fallen. Während ich meinen Blick auf sie fallen lassen, wie sie so langsam hinterm Hotel Ratswaage aufzieht. Mir fällt ein Lied von Udo Jürgens ein, „Die Sonne und du.“ Klar, dass ich sowas als Sonnenanbeter in meiner I-Tunes-Mediathek habe. Für Udo Jürgens ist der Sommer schon vorbei („Das war ein Super-Sommer, in jedem Augenblick.“), während meiner noch gar nicht begonnen hat. Doch in einem Punkt muss ich ihm recht geben: „Und wenn mich heute einer fragt, wie definierst du Glück, dann brauch ich gar nicht lang zu überlegen: Die Sonne, die Sonne und du, uhuhuhu, gehören dazu, huhuhu.“ Du ist gerade ziemlich weit weg. Aber für mich tun es auch die Sonne und ich. Sie aufgehen zu sehen am Morgen, ist wirklich, im wahrsten Sinne des Wortes, ein Geschenk des Himmels. Und einer der vielen, vielen Gründe, warum es sich zu leben lohnt.
Es ist jetzt 05:48. Zeit für einen Kaffee. Ich würde der Sonne ja auch gerne einen einschenken, damit sie etwas in die Gänge kommt, aber aus jahrzehntelanger Erfahrung weiß ich, dass sie keinen Kaffee zu sich nimmt. Keinen Kaffee und auch sonst nichts. Aber das ist ihre Sache. Ich brauche jetzt mein Quantum Koffein. Damit ich weiter scheine. Und über dem, was ich nach dem Frühstück schreibe, erst so richtig aufgehe.

P.S. 6:03. Die Sonne hat sich verzogen. Ob ihr nicht gefallen hat, was ich geschrieben habe?

Angela Merkel

Ich weiß noch, wie meine Patentante Waltraud, Oberstudienrätin a.D., voller Verachtung zu meinem Vater sagte: „Die Merkel? Die stellt doch nichts dar.“

Es muss Anfang der Nullerjahre gewesen sein, Helmut Kohl war gerade über die Parteispendenaffäre gestolpert, die nächste Bundestagswahl stand ins Haus, und man unterhielt sich am Rande einer Familienfeier über den bestmöglichen Kanzlerkandidaten der Union. Stoiber war zu ungelenk, verhaspelte sich ständig oder nuschelte, Volker Rühe war zu dröge und außerdem ein Gewährsmann Kohls, dessen Zeit auch in meiner rückwärts gewandten Familie abgelaufen war, Schäuble saß im Rollstuhl, Jürgen Rüttgers war eine rheinländische Kopie Stoibers und Christian Wulff einfach noch zu jung. Und Angela Merkel, wie gesagt, stellte nichts dar.

  Denn darum geht es in meiner Familie bis heute: ob einer was darstellt. Was hermacht. Sich sehen lassen kann zumindest. Egal, ob er korrupt ist, möglicherweise ausländerfeindlich oder das Arbeitslosengeld kürzt. Hauptsache, er stellt was dar. Ach ja, und von der Union muss er natürlich auch sein. Das ist sogar das Allerwichtigste. Nur so ist es zu erklären, dass Tante Waltraud 2005 dann doch Angela Merkel gewählt hat. Und mein Vater es bis heute tut. Eine Frau aus dem Osten, die ihren Badeanzug zum Trocknen auf den Balkon hängt und zum Wandern in die Berge geht. Aber das hatte Helmut Kohl ja auch schon getan; das mit dem Wandern natürlich nur.

  Als meine Mutter meinen Vater kennenlernte, hatte ihr Vater nur eine einzige Frage: „Ist er katholisch?“ – „Ja“, antwortete meine Mutter. Und damit war alles klar. Nun ist Angela Merkel evangelisch, aber das sei ihr verziehen, schließlich war ihr Vater Pfarrer. Und vor allem ist die CDU noch immer katholisch, zumindest in Westfalen, wo meine Eltern leben.

  Und so haben sie über die Jahre ihren Frieden mit Angela Merkel gemacht. Meine Mutter schimpft manchmal über ihre Kostüme, auch diese komische Merkel-Raute gefällt ihr nicht, und mein Vater meint, nun sei es aber langsam auch mal genug. Ihr gemeinsamer Favorit auf die Merkel-Nachfolge ist übrigens Friedrich Merz. Der stellt was dar. Egal, ob er als Millionär den sozial Schwachen ans Leder will oder die letzten Jahre kein politisches Amt hatte, auch als langer Lulatsch macht er immer noch mehr her als der kleine pummelige Türken-Armin aus Aachen, über den schon seine Frau sagte: Hab halt nichts Besseres gefunden.

  Und selbst ich, der Angela Merkel nie gewählt hat, kann ihrem Politikstil in der Zwischenzeit etwas abgewinnen, vor allem vor dem Hintergrund von selbstverliebten Autokraten, unberechenbaren Selbstdarstellern oder vollmundigen Eintagsfliegen. Die Frau ist unaufgeregt, zäh und gibt einem nicht das Gefühl, sie würde die Hand aufhalten.

  Warum ich das alles aufschreibe? Weil mir in Magdeburg und Umgebung, seitdem ich hier bin, ein regelrechter Merkel-Hass entgegenschlägt. Es scheint nicht zu genügen, ihre Politik abzulehnen, sich einfach nur frisches Blut an der Spitze des Landes zu wünschen oder auch nur mehr Führung und Emotion, nein, man muss sie auch noch hassen. Mir ist dieser Merkel-Hass an den unterschiedlichsten Orten entgegengeschlagen: bei Behördengängen genauso wie auf Demos gegen Corona-Beschränkungen auf dem Alten Markt, in Gesprächen mit Pensionswirten, Friseuren und Gemüsehändlern. Wenn ich Freunden und Bekannten davon erzähle und wir gemeinsam nach den Ursachen forschen, dann landen wir immer wieder bei der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015. Aber ich will mich damit nicht zufrieden geben. Schröder hat Hartz-IV eingeführt und wurde trotzdem nicht gehasst. Empörung, Wut, Entsetzen in den eigenen Reihen, bis hin zur Abspaltung, zur Gründung der Linkspartei, das ja, aber Hass? Helmut Kohl hat man mal mit Eiern beworfen, vor dem Stadthaus in Halle, aber ich war dabei, als er in Leipzig ein letztes Mal Wahlkampf führte, eine Weihestunde, der Atem der Geschichte wehte über den Marktplatz, als die Nationalhymne gesungen wurde und die Deutschland-Fahnen geradezu andächtig im frühen Herbstwind wehten; kein Vergleich mit dem sachlichen Auftritt von Gerhard Schröder ein paar Wochen zuvor auf dem Hallenser Marktplatz, der übrigens nur spärlich besucht war, während Kohl noch immer die Massen anzog. Woher also diese persönliche Konturierung, wenn es um Merkel geht, dieser human factor, den ich vor allem im Osten und in den Monaten meiner Stadtschreiberschaft so oft in Magdeburg spüre? Warum dieses Gefühl, hier werde Politik geradezu persönlich verübelt? Etwa doch, weil sie eine von hier ist, weil sie den Osten verraten, gar vergessen hat, wo sie herkommt? 

  So sitze ich auf einem Rätsel, von dem ich gar nicht weiß, ob ich es lösen möchte. Vielleicht weht mich die Antwort ja noch an, auf meinen Streifzügen durch die Stadt, die mir den Jahren der Merkelschen Kanzlerschaft – 2004 war ich zuletzt hier, da war sie noch nicht mal im Amt – jedenfalls nicht verloren zu haben scheint.

Rein in die Leere 9

Jeden Morgen und jeden Abend um sieben, wenn ich mich für eine halbe Stunde auf ein Meditationskissen vor die weiß gestrichene Wand meiner Stadtschreiberwohnung setze, höre ich sie, die Wagen der Straßenbahnlinien 1,2,4, 8, 9 und 10. Wenn mein Geist sich mal wieder in Fantasien über eine Auferstehung meines gerade verstorbenen Katers Osman verliert oder von einer Stadtschreiberschaft ohne Corona träumt, dann sind sie es, die mich zurück in die Wirklichkeit holen: ohne Kater und mit Corona, auf dem nackten Boden der Tatsachen, der in meiner Stadtschreiberwohnung aus Holz ist. Andere Zen-Schüler mögen auf ihren Atem hören, ich höre auf die Wagen der Linien 1,2,4,8 und 9.

  Am Anfang habe ich immer gedacht, sie bögen um die Ecke, warum sonst sollten sie so ächzen und stöhnen. Dann habe ich von meiner gigantischen Dachterrasse aus gesehen, dass die Wagen sich immer dann anhören, als würden sie ächzen und stöhnen, wenn zwei Bahnen nebeneinander herfahren. Ich dachte auch, sie seien viel näher, in der Ernst-Reuter-Straße und nicht auf dem Breiten Weg. 

  Auch nachts, wenn ich nicht gleich einschlafen kann, schicken sie ihre akustischen Grüße herauf in meinen 9. Stock, und das erste, was ich höre, wenn ich morgens aufwache, ist ihr bronchiales Ächzen und Stöhnen. Sie sind die Taktmesser meiner Magdeburger Stadtschreiberschaft, der Soundtrack meiner Quarantäne. An ihnen zerschellen in schöner Regelmäßigkeit meine Träume von einem Ende der Pandemie. Wobei sie ja auch weiter fahren werden, wenn das alles vorbei ist.

  Warum ich meditiere, werde ich manchmal gefragt, wenn ich mich dazu hinreißen lasse, überhaupt zu erzählen, dass ich das tue. Man könne doch auch anders entspannen oder inneren Frieden finde, als immer nur auf eine Wand zu starren. Ich verstumme dann meistens, will nicht zu pathetisch werden und von der „großen Angelegenheit von Leben und Tod“ reden, wie das der große Zen-Meister Yoko Daishi getan hat. Lieber will ich das nächste Mal von den Wagen der Straßenbahnlinien 1,2,4,8 und 9 erzählen, wie sie den Breiten Weg in Magdeburg entlang fahren und dabei so ächzen und stöhnen, als hätten sie es mit den Bronchien. Denn um ihretwegen meditiere ich. Damit ich höre, was ich höre. Immer und immer wieder. 

  Inzwischen höre ich die Magdeburger Straßenbahnen sogar auch, wenn ich sie eigentlich gar nicht höre. Ihr Ächzen und Stöhnen ist zu einer Art Tinnitus geworden, ein Beleg dafür, dass meine Magdeburger Stadtschreiberschaft in Zeiten von Corona in einer Art Fiktion abzugleiten droht. Dagegen hilft nur eins. Schreiben. Schreiben und meditieren.

Titelseiten

20. Mai 2020

BND-Abhörpraxis verstößt gegen das Grundgesetz

titelt die seriöse FAZ gewohnt sachlich

Urteil gegen BND

die sonst auch schon mal spielerische SÜDDEUTSCHE

und sogar Springers WELT listet kurz und knapp auf

Was der BND nicht darf

Das allerdings weiß dafür die MAGDEBURGER VOLKSSTIMME genau

ganz oben rechts neben einem Foto vom Herrentag mit Deutschlandfahne

BND darf auch keine Ausländer abhören

Honi soit qui mal i pense

etwa

Nicht mal die

oder

Ja was darf der denn überhaupt

Wozu haben wir dann einen BND

und in diesen altvertrauten Tönen