Nellja Veremej: PS

 

Seit dem unruhigen Tag ist etwas Zeit vergangen, und immer noch sitzt der Dorn in meinem Fuß – vielleicht war ich im Unrecht, als ich dem Vorfall mit dem Fussballfan so viel Aufmerksamkeit schenkte, und das, wo der Osten ohnehin unter Generalverdacht Fremdenfeindlchkeit in Erklärungsnot gedrängt wird? denke ich, die Elbe entlang gehend. Der Fluss, von Frühlingsblüten umhüllt, strahlt Ruhe und Gelassenheit aus, die grünen Ufer sind von jungen Menschen umsäumt, die Hubbrücke ist mit Liebeserklärungen gepflastert – der hässliche Vorfall war nur eine Wolke, die einen Moment lang über die Stadt huschte – die Stadt, deren Schutzpatron der Heilige Mauritius, ein Schwarzer, ist.

Anscheinend gab es in der Weltanschauung von Otto dem Großen keinen Platz für Rassismus, „unser“ galt für ihn damals für alle Christen – die Teilung der Kirche war noch nicht vollzogen. Auch den am Rande des Dombezirkes lebenden Juden bot Otto seinen Schutz an. Und mit den Kalifaten gab es regen Handel und Ideenaustausch, noch hatten sich die Kreuzzüge nicht angebahnt, noch war die Plünderung Konstantinopels außer Sichtweite, noch hatte es keine Bartolomäusnacht gegeben – wies Otto der Große mit der Wahl des schwarzen Heiligen für seine Lieblingspfalz dem Reich eine Tür, welche die Geschichte Europas auf andere, sanftere Wege der Selbsterfindung hätte leiten können?

Durch den Alten Markt spazierend, kann man viel über Ottos Vorlieben erfahren – „Otto isst Geflügel“, „Otto kauft Fisch“, „Otto liebt Wurst“.

Mein Obolus zum Lied: „Ottos Herz ist groß“ – so groß, dass in ihm sogar zwei geliebte Frauen – eine verstorbene und eine lebende – Platz genug fanden.

 

Wie selbstbewusst und entschlossen sitzen die beiden Frauen – Editha und Adelheid – neben dem Kaiser: Kinn hochgereckt, Augen gen Himmel. Die Ottonen hatten keine Angst vor starken und klugen Frauen, und zeigten ihnen gegenüber öffentlich Respekt. 

Wären vielleicht die Hexenjagd-Orgien, die in der frühen Neuzeit in Europa wüteten, unter Otto dem Großen nicht möglich gewesen?

Man fragt sich, ob die angeblich „dunklen Jahre“ – wie wir herablassend das Zeitalter nennen, dem die Ottonen entspringen – diesen Ruf tatsächlich verdienen?

„Otto unser!“ – sage ich im Geiste, der Elbe entlang schreitend – schenk uns allen mehr Geduld und Hoffnung in den unruhigen Zeiten, wo kleine Orte von den Winden der Globalisierung leer gefegt werden und die Großstädte sich in Turm zu Babel verwandeln. Wo Kriminalchroniken immer öfter wie Kriegsberichte aussehen und Kriegsberichte wie Computerspiele vor unserem gleichgültigen Augen flimmern – Otto unser, gib uns Einsicht, Mut und Barmherzigkeit in den unruhigen neuen Zeiten!

Als ich von dem Elbe – Spaziergang nach Hause kam, funktionierte der Fahrstuhl nicht – der Himmel hatte die Maschinen kurz außer Kraft gesetzt, um mir die Wirkung meines Otto – Gebetes zu demonstrieren:

Seufzend gingen die Bewohner die Treppe hoch, nur eine vierköpfige Familie von Geflüchteten blieb ratlos unten stehen, da der ältere Sohn – etwa zwanzig und groß – im Rollstuhl saß. Drei junge Magdeburger – gute Turnschuhe, tätowierte Oberarme, akkurate Frisur – blieben auch im Flur stehen und nach kurzer Beratung legten sie ihre schon sonnengebräunten Hände an die Griffe des Rollstuhls: „Welcher Stock?“

 

 

 

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