Nellja Veremej: Ein unruhiger Tag und der Dorn im Fuß

Irgendwo auf einem benachbartem Dach wohnt ein Habicht, der manchmal auf Augenhöhe über meinem Turm kreist. An diesem Samstag ist viel mehr los im Himmel über Magdeburg. Das Stück Äther in meinem Fenster ist von Kondensstreifen quer und durch gezeichnet. Ab und zu eilt geschäftig ein Hubschrauber vorbei. In der Ferne schwebt ein Luftballon mit wackelnder Gondel voller Menschen. Auch unten ist viel los – heute empfängt der 1. FC Magdeburg den Karlsruher SC, Dritte Liga, Aufstiegskampf, lese ich in der Zeitung.
„Unsere Jungs haben richtig Druck. Die ganze Stadt hofft, dass wir aufsteigen“, sagt Maik Franz. Man hat sich wieder nach oben geackert, ehrlich gearbeitet. Franz, von 1998 bis 2001 Spieler beim FCM, zählt auf, was sich alles verändert hat. Stadion, Laufhalle, Jugendzentrum, drei Kunstrasenplätze, ein Internat mit zwölf Zimmern, „das ist alles neu (…)“. Stück für Stück habe sich der FCM weiterentwickelt. Dasselbe gilt für die Stadt, die einer einzigen Großbaustelle gleicht. Überall wird gebaut: Ob am Bahnhof oder an den Elbbrücken.
(Stimmt, mein Turm ist regelrecht von Baukränen umstellt!)
„Die Stadt lebt, sie ist besser als ihr Ruf“, sagt Franz. Wieder zählt er auf: „Domplatz, Stadion, Elbe, viel Grün. Magdeburg ist auch Studentenstadt. Man spürt: Es entwickelt sich hier überall etwas, das kann man vielleicht auch auf den Verein projizieren.“
Ich stimme zu und hoffe mit.

***
2-0 für Magdeburg! Irgendwo in der Ferne hallen durch Megafon verstärkte Ausrufe und tausende einzelne Stimmen der Freude. Von diesem Fest ist in meiner Otto-von-Guericke Straße nichts zu spüren. Nur kleine Grüppchen blau betuchter Männer und Frauen hier und da – Stolz in den Augen, Bier vor dem Mund, Röte im Kopf. Manche sind laut und offensiv, aber wir, die ohne Tücher, weichen ihnen aus – es ist heute ihr schöner Tag, obgleich auch dieser sich langsam zu Ende neigt.
Als ich einkaufen gehe, läuft im Allee Center ein junger Mann vor mir, er strahlt große Unruhe aus – als ob er eine dicke, knisternde Wolke um sich tragen würde. Sein Schritt ist nicht schnell, aber sehr energisch, seine Ellbogen leicht abgestellt – mit ihnen versucht er einige, die ihm entgegen kommen, zu rammen. Nicht alle, nur welche, die schwarze Haare haben und einen dunklen Teint. Er stellt sich kurz vor ihnen auf, sagt etwas Höhnisches und läuft weiter. Er strotzt regelrecht vor Kraft, mir scheint, sein überladener Kopf schießt kleine Stromfunken aus. Sein Kopf ist nicht kahl, aber sehr akkurat frisiert – Härchen zu Härchen, sie glänzen vor Gel. Oder Lack? Seine Haut ist glatt, wohltemperiert und sonnengebräunt. Frisches T-Shirt, knielange Hose. Seine Waden zieren grazile Tatoos, die Füße in teuren Nike Turnschuhen und schneeweißen Socken, wie aus der Werbung: „Nicht nur sauber, sondern rein“.
Meine Seele versucht, einen kleinen Ausflug in diese saubere Hülle zu machen – was treibt ihn? Was liegt ihm am Herzen? Wo drückt es ihn, den wohlgenährten, sauberen, gepflegten Menschen, Bürger eines der wohlhabendsten Länder der Welt? Kinn ausgestreckt, Brust hoch, wie eine Galionsfigur – fühlt er sich wie ein Ritter des Lichtes oder Otto mit Schwert oder Georg mit Speer?
Einmal rammt er einen älteren, dunkelhäutigen Herr, der in Begleitung seiner Familie die Allee entlang spaziert, dann einen Jüngeren, aber schmächtigen – dumm ist der wütende Mann nicht – er wählt sich passende Gegner, nicht stärker als er.
Es gibt viele Menschen um uns herum, die merken, dass es etwas nicht stimmt, aber er fuchtelt ja nur mit den Händen vor den fremden Gesichtern, ohne sie zu berühren. „Es ist noch nichts passiert“ – sage auch ich mir, und folge dem wütenden Mann, ich trete buchstäblich in seine Spuren, als ob ein kräftige Windzug mich in seiner Laufbahn fest halten würde.
Und plötzlich bleibe ich stehen, weil auch er stehen bleibt: endlich findet sein funkelndes Auge jemanden, der richtiggehend passt: einen schlecht gekleideten, schwarzen Mann mittleren Alters, der mit seinen breiten Kleidern tollpatschig wie Charlie Chaplin wirkt.
Ich stehe nun ganz nah, die hässlichen Wörter prallen auch in meine Ohrtrommel, aber ich kann mich nicht bewegen. Ohnehin verwirrt starrt der Schwarze angestrengt in das Gesicht des jungen weißen Mannes mit den tätowierten Oberarmen und Waden, und als dieser den Schwarzen weit weg schicken möchte und ich in die imaginäre Schusslinie seiner sauberen Zeigefinger gerate, stürze ich die Treppe ins Untergeschoss hinunter.
Ich bleibe kurz vor der Supermarktschwelle stehen – horche nach oben. Vom Erdgeschoss, da wo die fahrbare Treppe endet, dringt keine Tumult: „Es ist nichts passiert“, sage ich mir und gehe zu REWE rein.
„Es waren ja auch andere da oben. Hähnchenkeule oder Hähnchenbrust? Und außerdem ist er ja weiter gezogen. Harzer-käse ist besser, stinkt ein bisschen, dafür aber praktisch ohne Fett. Freilich kenne ich die beiden Männer nicht und meine Aussprache hätte ihn vielleicht zusätzlich gereizt. Was für Äpfel? Schließlich bin ich kein Petrus, und der Afrikaner ist kein Jesus.“
Anscheinend irre ich verdächtig lange durch die Supermarkt-Labyrinthe, denn irgendwann merke ich, dass mir der Wachmann in Schwarz wie ein schleichender Schatten folgt und mir gestohlen auf die Hände schaut. Nach oben auf die Erdoberfläche gestiegen, stelle ich fest, dass ich in der Tasche weder Käse noch Äpfel habe, nur eine Schachtel Pralinen, die mir flott und geschickt ohne Erlaubnis in den Mund springen, ohne dass ich es merkte. Als ich nach zehn Minuten mit dem Fahrstuhl in meinen Turm hinauf sause, ist die Schachtel leer und der Bauch voll .
Anfangs wollte ich dieses Ereignis nicht in meinen Blog nehmen, ich bin ja hier nicht, um die Stadt zu denunzieren – über einer Wiese schwebend wird die Fliege ein Stück Dreck im Auge behalten, und die Biene – Blumen. Jede Stadt hat reichlich von beidem, man muss nur suchen, denke ich am nächsten Morgen, unterwegs Richtung Elbe. Heute ist Fischmarkt am Hafen – ich habe auf diesen Tag gewartet und mir vor meinem inneren Auge reich bestückte Vitrinen und Theken mit silberschimmerndem Fisch ausgemalt.

Die Stadt ist am frühen Sonntagmorgen leer wie gefegt, aber am Fluss ist viel los: Alle eilen, wie ich zum Fischmarkt, auf dem es aber eigentlich kaum Fisch gibt. Ein paar geräucherte Aale in fahrbaren Vitrinen und Fischbrötchen. Sonst Würstchen auf Deutsch, Würstchen auf Polnisch, Gulasch, Soljanka, Geranien, Gartensträucher, tausendfach Socken und Unterhosen in wilden und zarten Farben, Taschen, Schuhe, Uhren – was dein Herz begehrt!

Hier in diesem farbenfrohen Parlament der Vielfalt, finde ich sogar mich in dreifacher Ausführung auf der Bank mitten im Bild sitzend.

Zwar wird hier auch das Böse feil geboten:

Aber das Gute überwiegt: zwei friedliche Männer vor einem Kranarm ( die Stadt, die einer einzigen Großbaustelle gleicht ) gesegnet.

Viele Verkäufer reden gebrochenes Deutsch, aber das scheint hier niemanden zu stören.

Es riecht nach Soljanka und geräuchertem Aal, die dunkelhäutigen Gemüsehändler bieten mit grollenden Stimmen ihre Angebote feil, jemand tritt auf meinen Fuß – aber es herrscht Frieden hier oder ein geschäftiges Nebeneinander, was eigentlich dasselbe ist.

Ich stehe mit meinem Fischbrötchen vor einem runden Tisch, daneben ein Trüppchen älterer Menschen, angeführt von einem Mann mit breiten Hosenträgern. „Magdeburg ist sehr schön, wir unterschätzen es oft“ – sagt er zu den Damen, die Eis essen und sie nicken. „Früher wollte man nach Mallorca oder sonst irgendwohin. Wozu? Der Harz ist so schön und so nah!“

Als mein Vater krank wurde, wollte er nicht nach Magdeburg, wollte in Halberstadt sterben, aber als er dann sah, wie nett es hier ist, war er glücklich. Mein Vater war ein angenehmer Mensch und pflegeleicht…“- sagt eine der Frauen.

Ja, übrigens, Ilse ist gestorben“ – meldet sich eine andere Frau und sie reden nun über Krankheit, Pflege und Tod, sachlich und nüchtern, und lecken dabei am Eis.

Die Stadt lebt, sie ist besser als ihr Ruf“, sagte Maik Franz der Zeitung und an diesem Morgen stimme ich ihm zu.

***

Eigentlich wollte ich diesmal über den Fluss schreiben, aber irgendwie schlich sich der böse Mann wider meinen Willen in den Blog hinein, und macht sich breit und drängt die Elbe weg. Und an dem Tag noch erlebe ich im Magdeburger Dom ein kleines Nachspiel zu der Geschichte: Als ich mich zu dem Figürchen am bronzenen Fuße des Erzbischofs Friedrich von Wettin neige,

glaube ich in der Gestalt des kleinen, vom richtigen Weg abgekommenen Sünders die Züge des jungen Fußballfans von gestern zu erkennen.

Und der Heilige Mauritius, der keine zehn Schritte entfernt am Sarg von Otto des Großen wacht, ist dem schwarzen, beleidigten Mann aus dem Allee Center wie aus dem Gesicht geschnitten.

 

 

 

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