Nellja Veremej: In Buckau. Zum 1. Mai.

Wenn ich vom Magdeburger Ufer zur Elbe schaue, bietet ihr Äußeres nichts Außergewöhnliches, und ihre Parameter enthalten kaum Superlative: Von der Länge her belegt sie den achten Platz unter den europäischen Flüssen. Einmal aber schallte ihr Name durch die ganze Welt, und diese ihre Sternstunde fiel auf einen Tag, als ihre Ufer in Trümmern lagen: Am 25. April 1945 begegneten sich die Großmächte an der Elbe und die ganze Erde – mit immer noch stockendem Atem von den Schmerzen des Krieges– sah hin und horchte.

Der „Elbe Day“ heißt auf Russisch „Begegnung an der Elbe“, und da wo sich die beiden Kräfte begegneten und küssten, entstand kurz darauf Zwist – Magdeburg wurde beinahe entlang der Elbe entzwei gerissen zwischen dem Westen und dem Osten. Wer konnte, versuchte ans westlichen Ufer zu gelangen – die Furcht vor dem Osten war groß: Der Russe wird unsere Zungen an die Türe nageln, erzählte man den Kindern des geschlagenes Volkes.

Was haben die Magdeburger damals empfunden, als man im Sommer verkündete, dass die GANZE Stadt und die Umgebung darüber hinaus dem Osten zugeteilt wird? – frage ich mich heute, als ich die Elbe entlang laufe. Schreck? Resignation? Hoffnung? Oder Demütigung?

Von Magdeburg aus hatten die Ottonen ihren Siegeszug gen Osten verkündet – und nun kam der Osten hierher. Die stolze Industriestadt sollte ab jetzt in einem Verband und im Gleichschritt mit jenen Völker des Ostens laufen, auf die man davor im Dritten Reich so verächtlich hinabgeblickt hatte.

Zurückblickend empfinde ich großen Respekt vor den Leistungen der kleinen DDR, die so viele Entbehrungen und Härteprüfungen durchmachte. Christa Wolf schrieb einst, dass sie es waren, die DDR Bürger, die mit dem Gesicht zu den Völkern standen, denen Nazi-Deutschland so viel Gräuel angetan hatte.

Anders als Westdeutschland zahlte die DDR Reparationen, auch in Fabriken. Etwa 3.000 ostdeutsche Betriebe wurden in die Sowjetunion abtransportiert, die Magdeburger Werke blieben. Es gibt Schätzungen, dass jeder Westdeutsche für die Kriegsschuld etwa 35 DM aufzuwenden hatte, und jeder Ostdeutsche – über 6.000.

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Obgleich von einer einheitlichen und obligatorischen Ideologie durchdrungen und zusammengehalten, war der Ostblock keine homogene Erscheinung. Allein innerhalb der Sowjetunion gab es viele Gefälle, zwischen Stadt und Land, Süd und Nord, und wir alle waren damals jung, und die neue Welt reifte und alterte mit uns zusammen – so fällt die  Erinnerung an die „rote“ Zeit unterschiedlich aus.

Vor ein paar Jahren habe ich mit einer Freundin und ihrer Mutter, die aus Petersburg in Berlin zu Besuch war, die Ausstellung „Alltag in der DDR“ besucht. Die alte Dame, die ihr Leben lang in der Leningrader Motorenfabrik „Stromkraft“ gearbeitet hatte, erkannte ein Stück ihrer eigenen Vergangenheit in jenen Fotos, in denen es um den DDR – Arbeitsalltag ging. „Ja die Mensa! Wie bei uns! Und wir haben auch viele Ausflüge gemacht, damals waren wir noch alle zusammen, und jetzt sind viele meiner Kollegen tot. Und die Versammlungen. Und Theaterkarten haben wir kostenlos bekommen, es war so schön!“

„Das war nicht schön,“ sagte meine Freundin streng zu ihrer Mutter, „das war Diktatur!“, und diese nickte mit dem Kopf, bereitwillig wie eine gehorsame Schülerin, mit leichter Schuld, dass sie sich mit ihrem „schön“ zur Apologetin oder gar Komplizin der Unfreiheit gemacht hatte.

Ihrer Tochter zuliebe war die Mutter natürlich bereit, ihre Erinnerung zu revidieren, aber was bedeutete es damals, in einer großen Fabrik zu arbeiten? Das erste, was mir einfällt, ist die Tatsache, dass ich mit meinen dann 55 in diesem Jahr in Rente gegangen wäre. Alle meine Verwandten haben ihr Leben lang gearbeitet, der Großteil von ihnen in Fabriken. Arbeit war Pflicht, was natürlich lästig sein konnte, dafür aber waren die Arbeiter quasi unkündbar und wuchsen mit einer Körperseite mit ihren Betrieben zusammen, wie siamesische Zwillinge mit gemeinsamem Herzschlag.

Während ich darüber nachdachte, schickte mir der feinfühlige und hilfsbereite Magdeburger Himmel die Einladung, an einer Stadt- und Literaturführung durch die verlassenen Industrielandschaften der einstigen Grusonwerke, die in der DDR nach „Ernst Thälmann“ umbenannt wurden, teilzunehmen. Mehr als vierzigtausend Menschen arbeiteten hier damals, heute liegt das Gelände größtenteils brach.

Angeführt von der Schriftstellerin Annett Gröschner und der Stadthistorikerin Nadja Gröschner verbrachten wir, etwa ein Dutzend Menschen – zwei Stunden in Buckau, und machten dabei eine Reise durch hundert Jahre Magdeburgs. Wir haben die heruntergekommene Villa Grusons erkundet – des berühmtesten Magdeburger Unternehmers, der die Stadt zu einer Industriestadt machte, Kakteen liebte und den gestirnten Himmel anbetete.

Die einst von Industrie geprägten Areale, bestückt mit verlassenen wie auch renovierten und bewohnten Gebäuden – war bis auf uns menschenleer, und wirkte in den tiefen und schrägen Strahlen der sinkenden Sonne surreal.

Blieben wir stehen, tauchte aus dem Nicht ein schweigsamer Mann im blauen Arbeitskittel auf und bewirtete uns mit Getränken und Imbissen à la damals. Aufzählungen der damals existierenden Berufen klangen aus dem Munde von Annett Gröschner wie pure Poesie – in den langen und langwierigen Worten schien schweres rhythmisches Pochen zu hallen. Der Dichtung horchend bissen wir in Käsestullen. Dieser Spaziergang war eine der geistvollsten Führungen, die ich je besucht habe. Perfekt komponiert, eine kleine Buckauer Streichersymphonie, für das stillgelegte eiserne Herz Magdeburgs.

Unweit vom Technischen Museum zeigten sich die ersten Bewohner, Kinder, die in einem Hof spielten. Die schweren Türen gingen auf, drinnen nahmen uns weitere gute Geister in blauen Kitteln in Empfang – hier in den hohen Hallen zwischen monströsen Maschinen und Motoren las Annett Gröschner aus ihrem Manuskript. Während der ersten Station hörten wir ein Fragment über die Nachkriegskindheit im Magdeburger Knattergebirge.

Dann zogen wir weiter und platzierten unsere Bänke unter einem Kranarm mit dem Warnschild, dessen Inschrift die Autorin als Titel ihres Romans verwendet: „Unter schwebenden Lasten lauert der Tod“

Hier wurde über den Arbeitsalltag der Protagonistin erzählt, die auf einem Lastenkranwagen arbeitete. Stolz und Resignation mischten sich auf wunderbare Weise in den schroffen Worten, in denen die Frau über ihre Arbeit da oben im Himmel sprach. Im gleichen anteillosen Ton erzählte sie auch, wie einer der Kollegen, unglücklich verliebt, in das glühende Stahl sprang und, ganz standhafter Zinnsoldat, zu einem Metallklumpen einschmolz.

Von Lesestation zur Lesestation wanderten wir mit unseren Sitzbänken in der immer dichter werdenden Dämmerung wie im Zauberwald.

Unter den Zuhörer gab es auch Menschen, die in den gelesenen Texten ihr Leben wiedererkannten, das sah man ihren Gesichtern an und ihren Augen – oder bildete ich mir das nur ein?

Mich haben besonders die Szenen angesprochen, in denen die Kranfahrerin über ihr Leben im Himmel erzählt: die ganze Stadt liegt ihr zu Füßen und um ihre Ohren wehen Radiofrequenzen, die denen da unten untersagt sind. Wenn ihre Hände von den Hebeln frei sind, flickt sie die abgewetzte Kleidung ihrer fünf Kinder.

Die letzte Sitzung fand im Freien statt. Auf den Eisenschienen stand eine Plattform mit Maschinen und Geräten. Die dunklen Konturen, die sich im rasch dunkler werdenden Himmel abzeichneten, waren unscharf und undeutlich.

Gut zu sehen war ein kleiner Bagger, der neben einem zyklopischen, zwei Mann großen Holzfass noch schmächtiger wirkte als er war. Unter seinem Arm suchte eine verängstigte Schar Säulenpappeln Schutz, über der Brache stieg der Mond auf.

PS: Heute wird bei uns nicht mehr jeder zu harter Arbeit gezwungen, viele Maloche wird dem östlichen Nachbar überlassen: in Moskau klettern Tadschiken über die Baugerüste, in Polen Ukrainer, in Berlin ist jede Baustelle ein Turm zu Babel, die Schlachthäuser in ganz Deutschland sind bis zu 90 Prozent mit Bulgaren und Rumänen bestückt. Und irgendwo ganz weit im Osten, in Bangladesch und Umgebung, arbeiten kleine schwarzäugige Frauen Tag aus Tag ein für das Wohl von uns allen. Auch heute, am 1. Mai, dem Tag der internationalen Solidarität der Arbeitnehmer, sitzen sie mit gesenktem Kopf über ihren Maschinen und nähen Jogginghosen, Hemden und Kleider für uns alle, die wir hier den Ersten Mai feiern und mehr Gerechtigkeit fordern. Für uns, das versteht sich.

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