Nellja Veremej: Am 9. Mai

Frieden denken, den Frieden schauen, oder Bilder und Begriffe eines Zauberwortes, so hieß die Vorlesung, der ich neulich im Magdeburger Forum Gestaltung beiwohnte. „Es liegt nahe, Frieden zunächst über die Abwesenheit von Krieg und Gewalt zu bestimmen. Wie aber sieht eine befriedete Welt aus?“ – die Frage, die Prof. Dr. Thomas Kater aus Leipzig in die Runde stellte, schärfte meinen Blick, als in den darauffolgenden Tagen durch die Stadt ging.
Welche Augenblicke des Stadtlebens könnten als „Frieden“ betitelt werden? – fragte ich mich und entschied mich schließlich für diesen Ausblick:

 

In letzter Zeit denke ich viel über Krieg und Frieden nach – ein Teil meiner Verwandtschaft wohnt in Kiew, ein anderer in Russland und ich in Deutschland, das fest entschlossen ist, die kleinen Völker im Osten vor den Russen zu schützen.
Wenn man täglich Zeitung liest, hat man ein Gefühl, wir sind allen Friedens überdrüssig und steuern gezielt auf die nächste Kriegsrunde zu.
Mir wurde bange, als ich las, die Bundeswehr wolle sich in diesem Jahr mit dreimal so viel Soldaten wie 2017 an Nato-Übungen im Baltikum zur Abschreckung Russlands beteiligen; die Manöver sollen „Flammender Donner“ oder „Eiserner Wolf“ heißen… – noch vor einigen Jahren hätten wir uns solche Zeitungsaufmacher nicht im Alptraum vorstellen können.

Russland seinerseits lässt am 9. Mai Iskanderraketen auf Lastwagen durch Kaliningrad rollen – „Die Bürger der Exklave sollen sehen und verstehen, dass die modernsten Waffentypen der russischen Armee zum Schutz der Region aufgestellt sind“ – so Itartass.
Daraufhin rügen die Deutschen den Altkanzler Schröder, der mit Putin öffentlich auftritt – mit Feinden redet man nicht, mit Feinden… ja, was macht man mit ihnen sonst?

Was ist heute von dem Elbe-Geist in Torgau übrig geblieben, der an die Menschen aller Nationen appellierte, ihre Differenzen mit friedlichen Mitteln zu lösen und für das gemeinsame Wohl der gesamten Menschheit zusammenzuarbeiten?

***

Am 9. Mai war ich dieses Jahr in Petersburg bei der Parade, auch hier Bilder, die mit dem Begriff „Frieden“ wenig kompatibel waren. Der Schlossplatz, wo vor den Tribünen mit den wichtigen Gästen Regimenter marschierten, war abgeriegelt, nur die Zuschauer in den ersten Reihen konnten die Parade mit bloßem Auge genießen und die anderen Abertausende wogten durch die Straßen und versuchten, einen Blick auf den Platz zu erhaschen. Die Menschen krochen auf Gesimsen und Bäumen empor, die Klügsten hatten Klappstühle oder gar Leitern mitgebracht, wir haben nur sehr wenig gesehen.

 

 

Nach der Parade blieben die Straßen im Zentrum voll – vor den weit aufgerissenen Augen zogen weitere Prozessionen vorüber. Erst rollten die Veteranen auf rustikalen Lastwagen aus den Vierziger Jahren, dann marschierte eine Kolonne mit den Porträts von Verwandten, die im Zweiten Weltkrieg gekämpft hatten, vorbei. Viele Menschen trugen Militärschiffchen auf dem Kopf, der Stadtverkehr spielte verrückt, und die Aufregung stieg – irgendwann dachte ich, ich bin eine Statistin in einem Film über einen beginnenden Krieg und die Mobilisierung.
Danach hätte man alte Militärtechnik bewundern können, allerdings konnten wir auch hier nichts sehen – so viele wollten an die alten Panzer ran.

 

Fragt man jemanden nach der Natur dieser Begeisterung, kriegt man die Antwort, Russland sei von der NATO umzingelt, und diese Schlinge werde immer enger. Klingt genauso plausibel, wie die in Deutschland gängige Behauptung, dass die Russen nachdem sie sich die Krim geschnappt haben, im Begriff seien, in Riga einzumarschieren.
Als ich vor einer Woche auf dem Weg nach Petersburg in Riga Halt machte, hatte ich mir vorgenommen, mit der Stadt keinesfalls auf Russisch zu kommunizieren, wo doch die Lage so ernst ist.
Aber es stellte sich heraus, der böse Ivan hat Lettland schon längst erobert – kaum stotterte ich mein „I would like…“ in einem Café, bekam ich Antwort auf Russisch. Der Kunde hinter mir wurde genau so höflich auf Deutsch bedient, der nächste aus Lettisch – und so überall – im Bus, im Café, in der Drogerie, in Einkaufspassagen, in der Apotheke – wechselt man zwischen mehreren Sprachen. In den Mai-Tagen atmete Riga – zum Bersten voll mit Touristen aus Russland – sehr ruhig, wirkte freundlich und entspannt.

Und die Russen, die in ihren Maskerade-Schiffs – Mützchen auf die alten Panzer kriechen und auf den Westen schimpfen, fahren jedes Wochenende zum Einkaufen nach Finnland und schwärmen von dem kleinen Land, das kaum fünf Millionen Einwohner hat, so viel wie Petersburg.

Sind vielleicht die täglichen Meldungen über den drohenden Krieg im Baltikum nur heiße Luft, die Journalisten uns in die Köpfe pumpen? Dachte ich mir, durch Riga spazierend…

Bevor die beiden Weltkriege begannen, hatten die Medien Jahre im voraus schon Feindbilder in Umlauf gebracht und die Öffentlichkeit täglich damit gefüttert.
Im August 1914 jubelten präparierte Massen in ganz Europa vor Begeisterung, schwenkten mit Flaggen, zitterten vor Ungeduld – endlich dem kleinen Bruder zur Hilfe zu eilen oder tolldreisten Barbaren (Serben/Russen/Deutche/Österreicher) für ihre miesen Taten zur Rechenschaft zu ziehen.
Unter den wenigen, die kühlen Kopf und klaren Blick bewahren konnten, war Kafka, der am 2. August 1914 in seinem Tagebuch notierte:
„Deutschland hat Russland den Krieg erklärt. – Nachmittags Schwimmschule“.
Ich habe die Kafka-Biographie von Rainer Stach verschlugen, in der schönen, spannenden Lektüre öffnet sich ein ganzer Kosmos „Mitteleuropa“ in Kafka und um ihn.
Mit jeder Seite spürt man, wie die Spannung in den europäischen Städten von Tag zur Tag wächst und angeheizt wird. Der durchschnittliche Österreicher, der nie einen Serben gesehen hat, beginnt, ihn zu hassen, während der durchschnittliche Russe, der das kleine Serbien nicht auf der Karte zeigen könnte, bereit ist, für die Serben in den Krieg zu ziehen – der Kontinent damals strotzte regelrecht vor Zorn, vor Ungeduld, vor Rechthaberei.

***
Ich bin sehr schnell müde geworden in dem 9. Mai-Spektakel in Sankt – Petersburg und war froh, als ich plötzlich eine Art Boje im Meer sah:

Fast alles war an dem Tag in der Stadt geschlossen, und ich wunderte mich, dass die Türen des Marmorpalastes offen waren.

 

Zwei uniformierte Wachmänner grüßten mich höflich und ich wanderte ganz allein durch die Ausstellung von Käthe Kollwitz und Ernst Barlach, zwei meiner Lieblingskünstler, die sich vor hundert Jahren mit Gedanken über Krieg und Frieden quälten.

 

 

 

 

Und, ja, von Magdeburg war auch die Rede:

„Die kenne ich doch, diese Plastik!“ wollte ich sagen, aber es gab niemanden im Zimmer außer mir. Die mit Marmor verkleideten Zimmerfluchten waren menschenleer.

Auch draußen wurde alles ruhiger. Ich ging über die Brücke auf die andere Seite, ich wollte meinen Blog unbedingt mit einem friedlichen Bild beenden, und ich fand es im Ausklang des unruhigen Tages mitten in der Stadt. Wer Frieden sucht, findet immer.

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