Der kleine Finger

7. Teil der Erinnerungen der Frau Geheimen Justizrat Catharina Luise Caroline   Kienitz, geb.  Ransleben

Frühling/Sommer 1808

Nun überlegten wir, wie die Sache am besten einzurichten wäre. In Cassel  hatten wir wieder keine Bekannten, die uns auch nur das Mindeste einrichten konnten, auch erfuhren wir, dass es schwer sei, eine Wohnung in Cassel zu bekommen, indem durch die Franzosen viele Menschen dorthin gekommen waren. Wir beschlossen daher wieder, unsere Zuflucht zu meinem lieben Vater zu nehmen, welcher mich auch, sobald er unsere Versetzung erfuhr, sehr freundlich einlud zu ihm zu kommen. Mein Mann hatte noch einige Zeit übrig, bevor er nach Cassel musste, und so unternahmen wir denn die Reise nach Berlin. Unseren Wagen hatten wir, nachdem er manche Irrfahrten gemacht und manchem gedient hatte, schon vor unserer Verpflanzung nach Halberstadt wiederbekommen und so wurde denn ein Fuhrmann gedungen, welcher uns nach Berlin brachte.

Es war Anfang April und das Wetter noch sehr rauh. Die Truppenmärsche der Franzosen gingen noch immer fort und so geschah es denn, dass wir den ersten Abend nach einem Dorf kamen, dass kein Mensch uns aufnehmen konnte. Endlich erfuhren wir, dass der Schulmeister eben seines Amtes wegen von Einquartierung verschont war und dieser ließ sich also willig finden, uns für eine Nacht aufzunehmen. Die Schulstube wurde uns eingeräumt, die Schulbänke aufeinander geräumt und so gewannen wir Platz, um uns eine Streu bereiten zu lassen.

Wir gelangten glücklich und wohlbehalten in Berlin an, nachdem ich 8 Monate in Halberstadt gelebt hatte. Von meinem Mann erhielt ich bald gute Nachrichten aus Cassel. Er hatte Chambre garnie bei einem Prediger Wille bezogen, wo er sich sehr gut gefiel und mit dessen Familie wir nachher immer in freundlicher Verbindung geblieben sind. Zu Johanni mietete mein Mann eine Wohnung und richtete dieselbe nach und nach ein. Ich beschloß daher, im August zu ihm zu reisen. Mein Schwager in Fehlefanz hatte sich freundlichst erbeten, mich, da wir unseren Wagen wiederbekommen hatten, bis Brandenburg fahren zu lassen. Ich packte daher soviel Habseligkeiten, als ich nur irgend fortbringen konnte, ein und machte mich mit meinen beiden Kinderchen auf den Weg. Vors erste fuhr ich nach Fehlefanz, wo ich noch einige Tage verbleiben sollte. Am dritten Tage meines dortigen Aufenthaltes schickte mir mein Vater einen expressen Boten und schrieb mir, ich möchte es mir recht bedenken, ob es geraten wäre, meine Reise fortzusetzen. Der Krieg zwischen Frankreich und Oestereich war ausgebrochen und französische Regimenter durchzogen das Land. Mein Vater war deshalb sehr besorgt, dass ich ohne männliche Begleitung eine sehr unangenehme Reise haben könnte. Ich war in Verzweiflung, was sollte ich nun tun? Ich fragte meinen Schwager um Rat, allein dieser wollte keinen Ausspruch tun. Da beschloss ich, meinem Mann zu schreiben und ihn um seine Entscheidung zu bitten. Nach 8 Tagen etwa erhielt ich seine Antwort, auch er wollte nicht grade zureden, doch atmete sein Brief soviel Trauer, bei dem Gedanken noch länger von Frau und Kindern getrennt zu sein, dass ich beschloss, mich getrost auf den Weg zu machen in der Hoffnung, dass eine Mutter mit ihren Kindern wohl aller Orten gute Menschen findet, welche sich ihrer annehmen. Meine Hoffnung hat mich auch nicht betrogen, einige Unannehmlichkeiten abgerechnet, legte ich meine Reise glücklich zurück. Ich schrieb nach Halberstadt und beschied mir einen bekannten Fuhrmann, welcher mich von Brandenburg abholen sollte. Meinen Mann aber bat ich, mich von Göttingen, wo damals sein ältester Bruder wohnte, abzuholen. Bis Brandenburg gab mir mein Schwager Pferde, dort fand ich meinen ehrlichen Fuhrmann Schöning, welcher sich meiner und meiner Kinder wirklich väterlich annahm.

Mein Fuhrmann, wahrscheinlich um zu sparen oder ob es überall Schwierigkeiten machte, in einer Festung zu übernachten, zog es vor  die Nacht in Pl……… zu bleiben, einem kleinen mechanten Ort, welcher nur einige Berühmtheit erlangt hat, weil Friedrich der Große dort zu übernachten pflegte, wenn er über die Magdeburger Truppen Revue hielt. Dort kam ich gegen Abend so krank an, dass ich mich kaum aufrecht erhalten konnte. In dem einzigen Wirtshause, was dort ist, wurde mir eine Stube angewiesen mit einem großen Bett, wo, wie mir die Leute sagten, eben Franzosen geschlafen hatten, dessen ungeachtet musste ich mich gleich hineinlegen und meine liebe Luise musste späterhin auch noch Platz darin finden, was sehr unbequem für mich war, da sie sehr unruhig schlief. Hanne aber musste mit der kleinen Auguste auf der Erde sich betten, weil auch nicht einmal eine zweite Bettstelle stehen konnte. – Meine gute Natur siegte und ich konnte, obgleich angegriffen, am anderen Morgen meine Reise fortsetzen. Als ich nach Magdeburg kam, hatte ich einige Schwierigkeiten zu bestehen, ich hatte zwar einen Pass nach allen Regeln, in Berlin von der französischen Behörde ausgestellt, aber dennoch legten mir die Franzosen alle möglichen Fragen vor, namentlich als ich herausfuhr und meinten, der Pass hätten müssen visiert werden und was dergleichen mehr. Ich glaubte, es machten den Franzosen Vergnügen, eine Frau, welche ohne männliche Begleitung war, in Verlegenheit zu setzen.

In Halberstadt, wo ich noch manche liebe Bekannte hatte, blieb ich zwei Tage und wurde von R. R. Vetter und dessen Frau auf das freundlichste aufgenommen. Von ihren innigsten Wünschen begleitet, setzte ich meine Reise fort. Ich fand unendlich viel gutmütige Menschen, welche sich meiner Kinder mit wahrer Menschenliebe annahmen. So übernachteten wir unter anderem in einer kleinen Stadt, wo die Wirtin nicht genug wusste, wie sie meinen kleinen Mädchen Liebes und Gutes genug antun sollte. Es war an dem Tage sehr heiß und die gute Frau holte ihre seidnen Brautdecken hervor, welche sie sehr ehrenwert zu halten schien, um meine Kinder damit zu decken. Am anderen Morgen bei unserer Abreise beschenkte sie die Kinder mit allem Obst, was sie auftreiben konnte.

Eines Tages hatte ich durch einen albernen Spaß einen rechten Schreck. Wir mussten beim Grenzposten einer kleinen Stadt eine lange Zeit halten, weil ein ganzes Regiment Franzosen herein zog. Ich hielt meine Hand auf der Seite, wo ich saß auf dem offnen Wagenschlag, sah aber absichtlich nach der anderen Seite hin, um den Soldatengesichtern nicht so nahe zu sein. Mit einem Male fühlte ich einen heftigen Schmerz im kleinen Finger und glaubte, von einem Hund gebissen zu sein. Ich zog schnell die Hand fort und konnte einen kleinen Schrei nicht unterdrücken. Augenblicklich erscholl ein rohes Gelächter und als ich nachher den Handschuh auszog, sah ich, wie der Finger ob mit den Nägeln oder mit den Zähnen weiß ich nicht, tief eingedrückt war. Der Finger wurde nachher braun und blau. Im Übrigen kann ich nicht sagen, dass mir auf der ganzen Reise etwas Unangenehmes begegnet sei. So kam ich wohlgehalten nach Göttingen. Hier kehrte ich in dem ersten besten Gasthof ein und schrieb augenblicklich einige Zeilen an meinen Schwager in der sicheren Überzeugung, mein Mann sei dort. Ich war wirklich in der Zeit, ehe ich Nachricht erhielt, in einer fieberhaften Aufregung. Nach einiger Zeit trat mein Schwager mit seiner sehr sehr liebenswürdigen jungen Frau bei mir ein, aber leider nicht mein Mann, von dem auch keine Nachricht angekommen war. Ich machte mir täglich die schwärzesten Vorstellungen und nur mit Mühe gelang es mir, meine Unruhe zu unterdrücken und der freundlichen Einladung meines Schwagers und seiner Frau Folge zu leisten, welche mich nach ihrer Wohnung nahmen. Eigentlich taten sie es wohl nur, um mir ihr erstgeborenes Kindlein von einigen Wochen zu zeigen, denn beide waren selig beim Anblick des Kindes. Übrigens waren beide sehr freundlich zu mir und brachten mich nach einem Stündchen wieder heim. Mein Schwager hatte mir einen Fuhrmann besorgt, welcher mich am anderen Morgen nach Cassel fahren sollte und alles mit ihm richtig gemacht.

So fuhr ich denn am anderen Morgen sorgenvoll von Göttingen ab, ohne auch nur irgend etwas von der Stadt gesehen zu haben. Zwischen Göttingen und Minden ist ein hoher Berg, über welchen man fahren muss. Am Fuß desselben erklärte der Fuhrmann, wenn ich nicht ein Pferd Vorspann zahlen wollte, so müsste ich mit meinen Kindern zu Fuß herauf gehen. Da dieses unmöglich war, so musste ich mich wohl oder übel dazu verstehen, das Pferd zu bezahlen, obgleich mein Schwager mit dem Fuhrmann ausgemacht, dass ich weiter keine Unkosten haben sollte.

Minden liegt überraschend schön am Zusammenfluss der Werra und Fulda. Ich würde diese Naturschönheit noch weit besser genossen haben, wenn ich ruhigeren Herzens war, aber so ängstigte mich immer der Gedanke an meinen Mann, dass ihm irgend etwas Schlimmes begegnet sein könnte. Etwa 2 oder 1 ½ Meilen vor Cassel sah ich zum Wagen heraus, ohne etwas zu sehen, als meine Augen mit einem Male einen raschen Reiter erblickten, welcher auf uns zutrabte. Mein Herz noch eher als meine Augen erkannten den lieben Mann und mit großer Freude begrüßten wir uns, denn mit Angst hatte ich daran gedacht, wie ich mich in alles finden würde, auch fürchtete ich, mein Mann könnte krank sein. Der Brief war nicht zur rechten Zeit angekommen und erst den Morgen, während mein Mann mit mehreren anderen eine Landpartie verabredet, zu allem Glück ging er aber vorher noch einmal zu Haus, hätte er das nicht getan, so hätte ich vielleicht mit meinen Kindern bis spät auf der Treppe sitzen müssen.

 

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