Wirdse

Adler-Ummendorf

Sie packt, sie geht. Kommt sie wieder, das Mensch?

Wirdse.

Sagt Rudi. Er wird verfolgt von einer hässlichen schmächtigen Taube, sie breitet einen Flügel über ihn, sie möcht ihn küssen, er flieht, erst zu Fuß, sie tippelt rasend hinterher, er fliegt, sie hinterher, er landet, sie auch, sie verfolgt ihn, er rennt vor ihr weg. Rund um Gudrun herum. Ruhig sitzt sie auf der Balustrade, Rudi ist doch ewig ihrer, egal, wer noch über sie wacht.

 

Vokabeln Magdeburg

Alte Elbe

Zollelbe

Taube Elbe

Stromelbe

Kleiner Werder

Großer Werder

 

Zollhafen

Industriehafen

Wissenschaftshafen

Handelshafen

 

Elbeschifffahrt

Seilschleppschifffahrt

Kettenschleppdampfer

Schiffskörper

Personenfähre

Binnenschiffer

 

Wasserschutzpolizei

Landesschifffahrtsamt

Wasserstraßengeneraldirektion

Schifffahrtsverwaltung

Bundesanstalt für Wasserbau

 

Deich

Hochwasserpolder

Flutflächen

Überschwemmungsfläche

Sommerdeich

Hochwasserschutzanlagen

 

Hochwasserentstehungsgebiet

Hochwasserentlastungsstollen

Hochwasserentlastungsanlage

 

Landesbetrieb für Hochwasserschutz und Wasserwirtschaft

Hochwasservorhersagezentrale

Hochwassermessprogramm

Hochwassergefahrenkarten

 

Aufbauhilfe Hochwasser

Extremflut

Scheitel

Flutspitze

Sandsäcke

 

Hochwassergeschädigte

Hochwasserentschädigung

Landeshochwasserbetrieb

Wasserbauexperte

Hochwasserschutzkonzeption

Deichrückverlegung

Überflutungsfläche

Grabenpflege

Protzen

Über den Werder radeln, kreuz und quer, wo der Großvater geboren wurde, wieder die Häuser angucken. Nach dem Stadtbrand herrschte Rauchverbot im Magdeburg und die süchtigen Herren ruderten in ihre Raucherkabuffs auf den Werder. Gründerzeit heißt die Zeit, als der Großvater geboren wurde, fragt sich nur, wer damals zu den Gewinnern, wer zu den Verlierern der Zeit gehörte. Oder ob alle ein bisschen verloren und gewonnen haben, manche aber müssen im Goldrausch gewesen und blitzartig großartig reich geworden sein. Über den Werder radeln, die Häuser angucken – vielleicht war des Großvaters Vater einer, der mithalten wollte, aber doch nicht konnte. Davon muss es besonders viele gegeben haben: die zur Schau stellten, was sie sich nicht leisten konnten. Man hatte zwar, aber es musste doch größer, schöner, reicher aussehen – so wie bei den anderen Reichen eben und sogar noch glänzender, mit Herrenzimmern zum Rauchen, wo man doch viel früher bloß ein feuchtes Mäuerchen hatte. Es gab Wohnungen mit Parkett und Flügeltüren, so ausgedehnt, dass schon nach ihrer Fertigstellung niemand das Geld hatte, sie ohne Untermieter zu bewohnen. Gründerzeitwucht für die Fassaden, muskulöse Figuren in der Einkaufsstraße tragen Eingangsportale als hätten sie am Reichtum so schwer zu schleppen. Und ein Mann, der ein Prokurist von vieren in einer Zuckerfabrik war, in der Familienchronik aber als Direktor einer Zuckerfabrik überliefert wird. Wer hat hier hochgestapelt? Jedenfalls ist der Mann im allgemeinen Rennen auf der Strecke geblieben, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. Sein Sohn schrieb als alter Mann:

„Meine ersten Lebensjahre bis zum Schulanfang habe ich in der Stadt, in Magdeburg und Dessau, zugebracht. Von Dessau habe ich noch eine blasse Erinnerung. Die Pferdebahnen fuhren damals noch und der Herzog fuhr 4spännig, 2 Diener hinten auf der Kutsche, Diener und Kutscher prachtvoll gekleidet und ehrfürchtig gegrüßt, durch die Straßen. Ich musste natürlich auch grüßen. Zu diesem Zweck musste das Gummiband, das zum Festhalten des Hutes diente, entfernt werden, damit ich den Hut in schönem Schwung vom Kopf ziehen konnte. Fürsten waren noch höhere Wesen, so eine Art Wirklichkeit gewordene Märchengestalten für mich. Es war die Jahrhundertwende mit aller scheinbaren Beschaulichkeit.

1901, ich kam Ostern zur Schule, für die Pfingstferien versprach mir mein Vater einen besonderen Ausflug. Aber in der Nacht vom letzten Schultag zum ersten Ferientag starb mein Vater. Diese drückend traurigen Tage danach haben sich bei mir fest eingeprägt.“

Früher

Früher war alles besser, da hatten die Puppen noch Zähne.Puppenkopf

In der Ernst Reuter-Straße fallen die Haselnüsse von den Bäumen, überall auf dem Gehweg vom Bahnhof bis zur Johanniskirche liegen welche. Oh, gucke, da ist Rudi, sage ich zu meinem Begleiter, wir bleiben stehen, der frisst die durch Passantenschuhe geknackten Nüsse.

Das ist Rudi? Ob ich meine, er würde mich erkennen. Natürlich erkennt Rudi mich.

Ob ich ihn denn erkennen würde. Klar. Gucke, der hat nur drei Zehen und weiße Flügel. Und gucke, der geht ja nicht mal zur Seite, der weiß, dass er vor mir nichts zu fürchten hat.

Wir gehen wieder, aber mein Begleiter anders als zuvor. Er tritt auf alle Nüsse, um sie für die Tauben zu knacken.

Gras

Ausruhen, am Elbstrand liegen, Zeitung lesen, plötzlich ein Getrappel rund um mich herum, ein leichtes Vibrieren des Bodens, sonst alles ganz still.

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Jahrelang konnte der Obst- und Gemüsehändler einen Abschnitt des Elbstromdeiches auf der Höhe Wasserfall Cracau vom Gesundheitsamt pachten. Das Gesundheitsamt hatte diesen größeren Deichabschnitt der Alten Elbe vom Deichverband (Elbstromverwaltung) gepachtet und stückweise unterverpachtet. Nach dem Krieg gab es Unmut von anderen Bewerbern, weil immer derselbe das Stück vom Elbstromdeich zur Deichgrasnutzung bekam. Also wurde ihm, um Streit zu vermeiden, ein flaches Stück zwischen Alter Elbe und Deich verpachtet. Aber die Verwaltung war zu langsam für das Wetter. Also schrieb der Obst- und Gemüsehändler ans Amt. „Ich erwarte von Ihnen schnell Nachricht weil hier nämlich noch allerhand Steine und Unrat wegzubringen ist und wenn das Gras erst lang, ist das vorbei und so kann nachher keiner mähen. Und wenn wir heute die Sense entzwei machen werden Sie ja auch wissen, das man so schnell keine kriegt.“

Auf den Wiesen hinter dem Herrenkrugpark grasen 600 Schafe, die Wiesen werden gehütet, die Hirten leben in Wohnwagen, es sind verschiedene, manche sitzen im Auto und warten den ganzen Tag bis die Sonne untergeht undihre Schafe eingezäunt sind. Der Hirte, der mit Kollegen von Thüringen raufkam („Von meinem Haus aus meinem Wohnzimmerfenster sehe ich drei Burgen. Aber bin fast nie da. Immer woanders.“) führt seine Tiere zu Fuß, mit Stock und Hund an die Elbe, auf die Elbwiesen und den Deich. Es können nicht genug sein, 2 Millionen Muslime in Europa, das Fleisch ist gleich weg. Die Wolle? Kommt zum Stricken  aus China. Wie, und die Wolle von den Schafen hier? Hier wird geschoren, die Wolle nach China gebracht, dort verarbeitet und hierher zurückimportiert. Die Haut wird nach Tschechien gebracht, dort gegerbt (darf man in Deutschland nicht mehr) und hier für die Lederbezüge in Autos verarbeitet. DieLeute haben ja Geld. Ist auch alles billig, viel zu billig.

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Verfälschung der Geschichte

„Also mögen wir auch die Stadt bewahren vor Leid, Krieg und Ungemach, wenn wir wissen, was früher geschah.“  So lautet übersetzt, was Schöffenschreiber Heinrich von Lammesspringe 1350 in die Schöffenchronik schrieb. Wenn es doch bis heute so wäre, dass Leute, die schreiben, auch wissen oder wissen wollen, was früher geschah. Und es wahrhaftig mitteilen wollen.

Im Einkaufszentrum City Carré steht derzeit die Ausstellung „Illustrierte Geschichte – Gezeichnete Episoden aus 1200 Jahren Magdeburger Stadtgeschichte“. Ich ging daran vorbei und nanu? Der erste Weltkrieg kommt gar nicht vor, die Zeit der Diktatur der Nationalsozialisten kommt gar nicht vor, der 2. Weltkrieg kommt nicht vor. Dazwischen hat Bruno Taut Häuser bunt anmalen lassen und der Breite Weg das Flair einer Metropole verbreitet. 1946 liegt die Stadt plötzlich in Trümmern.

Ich dachte: Aber so was tut man doch nicht mehr. Die Zeiten der Scheinheiligkeit sind doch längst vorbei, als plötzlich niemand ein Nazi gewesen ist, es plötzlich nur Opfer gab und man dachte, durch Schweigen verschwinden unangenehme Sachen irgendwie von selbst. Irrtum.

Wenn ich zugute halte,

dass es sich nur um Episoden der Geschichte handelt…

dass der Platz für Text begrenzt ist…

Wenn ich bedenke,

dass der Manager des Einkaufszentrums die Ausstellung als kindgerecht anpreisen will (weil bunte Bilder da sind?), was sie natürlich kaum ist….

dass alle Macher gut daran verdienen wollen…

Die Ausstellung war schon eine Serie in einem Familienmagazin, das Buch erschien im Verlag des Texters, das Buch wird im Einkaufszentrum und im Buchhandel verkauft, die Ausstellung wurde gesponsert und macht auf fast jeder Stellwand Werbung für das Buch.

Das Einkaufszentrum will Leute anlocken, damit sie dort Geld ausgeben. Dazu dienen die Ausstellungen. Denn das „City Carré Magdeburg“  ist eine Tochtergesellschaft der Wealth Management Capital Holding GmbH mit Sitz in München. Die ist eine Tochter der Hypovereinsbank und für die Immobilienfonds der Bank zuständig.  Die Bank gehört zur italienischen UniCredit Bank, die international agiert. Also muss Geld verdient werden.

Aber trotz all dieser Punkte darf man nicht weglassen, dass Bruno Taut nicht aus Jux und Laune in Istanbul bis zu seinem frühen Tod arbeitete, sondern weil er aus Deutschland fliehen musste. Wo er dort begraben wurde, verschlingt dann aber 5 Zeilen Text.

Das Buch zur Ausstellung enthält einige Episoden mehr als die Ausstellung. Wer hat wohl ausgewählt, welche zehn Tafeln nicht aufgestellt werden?

Im Buch kommt die NS-Diktatur mit dem  Jahr 1945 vor. Aber wie.

In dem Maße, in dem die Arbeitslosigkeit sank, „schien die Bevölkerung dem nationalsozialistischen Regime zu folgen“.

Es ist ziemlich genau erforscht, wie es war, da muss man nicht so munkelig schreiben. Oder hat die Magdeburger Bevölkerung Hitler nur zum Schein gewählt? Ihm nur zum Schein zugejubelt?

Als die Wehrmacht andere europäische Länder und die Sowjetunion angegriffen und überfallen hatte, geschah etwas ganz Merkwürdiges: „So führten viele Länder erbitterten Krieg gegen Deutschland, bis sich dieser Krieg immer mehr gegen Deutschland selbst kehrte.“

Sind die anderen Länder dann doch am Krieg schuld? Deutschland erbittert bekämpfen, warum bloß? Oder ist die ganze Sache mit dem Krieg vielleicht ein Naturereignis, das „dieser Hitler“ in Gang gesetzt hat?

Wenn man wie der Autor Hobbyhistoriker ist, müsste man auch wissen, dass in keinem seriösen Buch mehr der Nazibegriff „Reichskristallnacht“ steht und sich die Historiker seit mindestens 20 Jahren auf den Begriff Pogromnacht verständigt haben.

Und das Ende der Episode?  „am 8. Mai 1945 endete dieser längst verlorene Krieg mit der bedingungslosen Kapitulation Deutschlands. Es war auch die Befreiung der Deutschen vom Nazi-Terror.“

Nanu?

Also doch die Deutschen alle nur Opfer? Oder haben die Deutschen sich selbst vom Nazi-Terror befreit? Wer war’s denn? Die Deutschen jedenfalls hatten scheinbar mit dem Nazi-Terror nichts zu tun.

War da eigentlich noch was?

Vielleicht eine Mehrheit, die mit dem Regime einverstanden war?

Vielleicht die Denunziation derer, die nicht einverstanden waren, durch ihre Nachbarn oder Arbeitskollegen?

Vielleicht die Ausgrenzung von Tausenden Magdeburgern durch ihre Mitmenschen, weil sie plötzlich eine andere Rasse sein sollten mit all den mörderischen Folgen? Oder eine andere Meinung, einen anderen Glauben, andere Lebensweisen, eine andere Gesundheit hatten als die Mehrheit?

Aus welchen Gründen auch immer die Ausstellung so geworden ist, und wenn es aus naiver Einfalt geschah – diese Darstellung ist einfach ärgerlich, irreführend und sträflich geschichtsverfälschend.

Wer unter den Teppich kehrt oder kehren will, der muss sich nicht wundern, wenn das so Verschwiegene sich monströs auswächst. Aber dann kann man ja immer noch wieder weggucken.

Montagmorgen

montagmorgenEine Einwilligung des Fotografen zur Veröffentlichung dieses Fotos von einem Montagmorgen im September liegt vor. Eine der abgebildeten Person – geht sie zum Dienst ins Denkmal? – liegt natürlich nicht vor.
Anders ist es bei den Fotos von Gudrun, Urs oder Rudi. Sie haben mir ihr Einverständnis gegeben. Sie sprechen mir ja direkt ins Ohr, sie diktieren sogar. Man könnte die Person aber auch als „Beiwerk zu einer Örtlichkeit“ betrachten (im Sinne §23 KunstUrhG). Aber sind wir alle, Tauben wie Menschen, nicht eher Inhalt der Örtlichkeit Stadt? Beiwerk, das klingt wie Erbsen auf dem Teller. Ein bisschen mehr Wichtigkeit wäre angenehm, statt nur Erbse zu sein. Die Tauben protestieren, ihnen wär’s recht, wenn wir Erbsen wären. Am liebsten grüne, die sind süßer. Heute, an einem anderen Montagmorgen im September, ist der Dom verschwunden, vom Nebel verschluckt.