Protzen

Über den Werder radeln, kreuz und quer, wo der Großvater geboren wurde, wieder die Häuser angucken. Nach dem Stadtbrand herrschte Rauchverbot im Magdeburg und die süchtigen Herren ruderten in ihre Raucherkabuffs auf den Werder. Gründerzeit heißt die Zeit, als der Großvater geboren wurde, fragt sich nur, wer damals zu den Gewinnern, wer zu den Verlierern der Zeit gehörte. Oder ob alle ein bisschen verloren und gewonnen haben, manche aber müssen im Goldrausch gewesen und blitzartig großartig reich geworden sein. Über den Werder radeln, die Häuser angucken – vielleicht war des Großvaters Vater einer, der mithalten wollte, aber doch nicht konnte. Davon muss es besonders viele gegeben haben: die zur Schau stellten, was sie sich nicht leisten konnten. Man hatte zwar, aber es musste doch größer, schöner, reicher aussehen – so wie bei den anderen Reichen eben und sogar noch glänzender, mit Herrenzimmern zum Rauchen, wo man doch viel früher bloß ein feuchtes Mäuerchen hatte. Es gab Wohnungen mit Parkett und Flügeltüren, so ausgedehnt, dass schon nach ihrer Fertigstellung niemand das Geld hatte, sie ohne Untermieter zu bewohnen. Gründerzeitwucht für die Fassaden, muskulöse Figuren in der Einkaufsstraße tragen Eingangsportale als hätten sie am Reichtum so schwer zu schleppen. Und ein Mann, der ein Prokurist von vieren in einer Zuckerfabrik war, in der Familienchronik aber als Direktor einer Zuckerfabrik überliefert wird. Wer hat hier hochgestapelt? Jedenfalls ist der Mann im allgemeinen Rennen auf der Strecke geblieben, ohne einen Abschiedsbrief zu hinterlassen. Sein Sohn schrieb als alter Mann:

„Meine ersten Lebensjahre bis zum Schulanfang habe ich in der Stadt, in Magdeburg und Dessau, zugebracht. Von Dessau habe ich noch eine blasse Erinnerung. Die Pferdebahnen fuhren damals noch und der Herzog fuhr 4spännig, 2 Diener hinten auf der Kutsche, Diener und Kutscher prachtvoll gekleidet und ehrfürchtig gegrüßt, durch die Straßen. Ich musste natürlich auch grüßen. Zu diesem Zweck musste das Gummiband, das zum Festhalten des Hutes diente, entfernt werden, damit ich den Hut in schönem Schwung vom Kopf ziehen konnte. Fürsten waren noch höhere Wesen, so eine Art Wirklichkeit gewordene Märchengestalten für mich. Es war die Jahrhundertwende mit aller scheinbaren Beschaulichkeit.

1901, ich kam Ostern zur Schule, für die Pfingstferien versprach mir mein Vater einen besonderen Ausflug. Aber in der Nacht vom letzten Schultag zum ersten Ferientag starb mein Vater. Diese drückend traurigen Tage danach haben sich bei mir fest eingeprägt.“

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