Stadtschreiben in Zeiten von Corona

Was macht eigentlich ein Stadtschreiber in Zeiten von Corona, tue ich jetzt einfach mal so, als sei das eine mir oft gestellte Frage.
Nun, er tut zunächst einmal das, was er sonst auch tut, in Zeiten ohne Corona, er steht beizeiten auf. Beizeiten heißt bei ihm so zwischen 6 und 7. Dann setzt er sich, und zwar noch vor dem Frühstück, ja dem Zähneputzen – soviel Intimität sei gerade mal erlaubt – entweder an den Computer oder er nimmt ein Notizbuch zur Hand, was aufs gleiche hinausläuft, nämlich aufs Schreiben. Er nutzt die ein, zwei Stunden, in denen der innere Zensor noch nicht auf der Höhe ist – der ist nämlich kein Frühaufsteher – , schamlos aus, indem er munter drauflos schreibt, ohne sich um Originalität, Stil oder was auch immer zu kümmern; er lässt sich gehen, wobei er den Tiefen seines Unterbewusstsein so manches entlockt, was ihm der innere Zensor sonst niemals durchgehen lassen würde. Erst dann checkt er die News, die in diesen Tagen natürlich vor allem von der Ausbreitung des Corona-Virus handeln, geht ins Bad, duscht, frühstückt, trödelt noch ein wenig herum, liest vielleicht auch noch etwas, bevor er dann sein festes Schuhwerk schnürt – Hydro Seal von The North Face, auf die er schwört – und zu einem von zwei Tagesmärschen ansetzt.
Einen Plan hat er dabei nicht. Er geht immer der Nase nach, wohin der Wind ihn weht, so lange ihn die Füße tragen, mal als erstes zum Hasselbachplatz, mal direkt an die Elbe, mal die Otto-von-Guericke-Straße, in der er wohnt, in die andere Richtung, jeden Tag neu. Dabei fällt ihm so mancherlei auf: wieviel Fleisch den Menschen in Magdeburg angeboten wird, wie viele Eisdielen es gibt, ein pinkfarbener Aufkleber an einem Strommasten in der Benediktinerstraße mit der Aufschrift „Liebe für alle“, ein Geschäft am Hasselbachplatz, das mit dem Spruch wirbt „Wir machen auch ihre Muschi glatt“, sein eigener Schatten auf dem Trottoir. Unterwegs trinkt der Stadtschreiber irgendwo einen Kaffee und zieht ein Buch aus der Tasche, in dem er ein paar Seiten liest, in diesen Tagen „Irreführung der Behörden“ von Jurek Becker. Dann zieht er weiter, meist schon mit einer Idee für seinen Blog im Kopf. So nach zwei, drei Stunden ist er dann wieder zu Hause, wo er erst mal zur Entspannung eine halbe Serienfolge guckt, gerade eine aus der letzten Staffel von „Homeland“. Dann kocht er sich was, und da er ein Freund des Mittagsschlafes ist, legt er sich hin. Zwischen all dem hat er natürlich mit seinen Liebsten kommuniziert, zumeist auf WhatsApp. Wenn er wieder aufgestanden ist, spricht er auch mit ihnen, mit der Allerliebsten via Skype, mit den Eltern und Geschwistern am Telefon, mit den Freunden sowohl als auch, aber das erst am Abend. Denn jetzt muss er mal stadtschreiben, das heißt, die Ideen, die ihm auf seinem langen Marsch gekommen sind – der Stadtschreiber ist kein Spaziergänger, eher ein Marschierender – auf ihre Gültigkeit hin prüfen. Das geht dann nicht mehr ganz so flüssig wie am Morgen, weil inzwischen längst der innere Zensor aufgewacht und um diese Tageszeit so richtig auf der Höhe ist. Lieblingsspruch des inneren Zensor: Wasn das wieder fürn Scheiß! Oder: wen interessiert denn das! Oder: Das hat doch XY schon viel besser gesagt! Mit den Jahren wird seinem Geschwätz aber immer weniger Aufmerksamkeit geschenkt. Beziehungsweise die Aufmerksamkeit bleibt, aber die Neigung, den Anweisungen des inneren Zensors Folge zu leisten, die nimmt doch erkennbar ab. Ist der Stadtschreiber erschöpft, gönnt er sich die zweite Serienfolge. Dann macht er sich sein Abendbrot, zumeist einen Salat. Bevor er entweder zu seinem zweiten, diesmal aber nur ein- bis anderthalbstündigen Tagesmarsch aufbricht, der ihn aber eher auf vertrautes Terrain führt, oder aber erst einen Freund anruft, in jedem Fall aber tut er beides. Oder sagen wir: so hat er es in diesen letzten Tagen gehalten. Denn der Stadtschreiber kennt bisher noch wenig Leute in der Stadt, er ist ja erst seit einer Woche da, und kaum hat er die ersten kennengelernt, kam auch schon das Virus bzw. die Maßnahmen dagegen, so dass die Leute schon wieder verschwunden waren, wie auch der Stadtschreiber selber für die Leute verschwunden war. Und vielleicht kam dem Stadtschreiber auch deswegen heute eine Idee. Wie wäre es, wenn er in Zeiten von Corona mal was für die Leute täte, und zwar die älteren, besonders verwundbaren? Was Unstadtschreiberisches? Wie zum Beispiel einkaufen gehen? Oder ihren Hund ausführen, denn schließlich hat er da, wo er wohnt und wo er jetzt nicht hin kann, nämlich in Istanbul, auch einen Hund. Er meint das ernst. Und hofft, das vielleicht genau so jemand diesen Eintrag liest. Dann hätte der Stadtschreiber nämlich zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen. Und das ist in diesen Tagen von Corona schon eine ganze Menge.

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