Beinahe eine Ode an die Kaufhaus-Restaurants

Wo kann man sich auch mit dreiundfünfzig Jahren noch so richtig jung fühlen? Im Le Buffet, dem Restaurant der Kaufhauskette Karstadt. Ich bin erst den fünften Tag in Magdeburg, aber schon zum zweiten Mal hier. Auf dem Weg zur Kasse kann ich noch jeden überholen, auch wenn die Kaffeetasse kurz vorm Überschwappen ist, hier haben so viele um mich herum weiße Haare, dass mir mein Grau wie das neue Blond vorkommt, und ich brauche mich auch nicht zu schämen, dass ich mir unten am Zeitungskiosk die BILD-Zeitung gekauft habe, das macht hier schließlich jeder. Habe ich bei meinem ersten Besuch mein tägliches Vitamindepot mit einem gemischten Salat aufgefüllt, geht es diesmal um mein Quantum Koffein in Form eines Latte macchiato. Der fünfzig Cent weniger kostet als am Hauptbahnhof und auch noch besser schmeckt. Ich bin begeistert.

  Ich gestehe, ich bin ein großer Fan von Kaufhausrestaurants, ob sie nun Culinaria, Dinea oder eben Le Buffet heißen. Das hat nichts mit dem Angebot von Speisen und Getränken zu tun, wobei die eindrucksvolle Palette hier im Magdeburger Karstadt von einer Marktküche über einen Asia-Point bis hin zur Würzbar reicht. Die in Dreierreihen angeordneten Mineralwasserflaschen (Sodenthaler Gourmet) glänzen wie frischgeputzte Kelche vor einer Ostermesse, die Paulaner-Ecke strahlt bayerische Gemütlichkeit aus, und im Weinkeller hat man die Wahl zwischen einem Merlot, Cabernet Sauvignon, Spätburgunder und Dornfelder, von den Weißweinen und Sektsorten ganz zu schweigen. Nein, was mich regelmäßig hierherzieht, ist die Kantinenatmosphäre, diese seltsame Mischung aus Heimeligkeit und Anonymität, das hoffnungslos Altmodische, der Muff der siebziger und achtziger Jahre, als es unter Kleinbürgern noch eine große Sache war, im Hertie, Kaufhof oder Karstadt essen zu gehen. Ich erinnere mich gut, wie mein Großvater mich in meiner Kindheit in den Soester Kaufhof ausführte. Dabei gab es in seiner Straße eines der besten Restaurants der ganzen Stadt, nämlich im Hotel Gellermann, wo in unserer Familie auch gelegentlich runde Geburtstage oder Erstkommunionfeiern abgehalten wurden. Im Restaurant des Hotel Gellermann gab es allerdings nur eine Speisekarte, das Essen blieb also gewissermaßen abstrakt, zumindest so lange es nicht serviert wurde, im Restaurant des Kaufhof dagegen lag alles direkt vor mir, Schnitzel, Rostbratwürstchen, Fisch, die schweren braunen Saucen und vor allem Pommes. Auch konnte ich bestimmen, wie viel ich davon haben wollte, ich konnte mir die Puddings ansehen, bevor ich einen davon auswählte, wobei es mir manchmal lieber gewesen wäre, ich hätte nicht die Qual der Wahl gehabt zwischen einer cremigen Mousse au Chocolate und einem Vanillepudding mit Eischnee und Erdbeeren. Aber, wie gesagt, es ging ja nicht ums Essen, zumindest nicht in erster Linie.

  Saß ich mit meinem Großvater im Soester Kaufhof-Restaurant, kam ich mir vor wie auf einem Bahnhof. Es war ein ständiges Kommen und Gehen, fast jeder hatte Gepäck in Form von Einkaufstüten dabei, nicht allzu viel Zeit, nicht weil der Zug bald abfuhr, sondern weil der Parkschein jeden Moment ablief. Damals kannte ich das Wort „Transitraum“ noch nicht, aber als ich es zum ersten Mal hörte, traf es genau die Atmosphäre, die ich dort schon als Kind empfunden hatte.

  Später ist mir dieses Kaufhof/Karstadt/Hertie-Restaurant-Gefühl in den Romanen und Erzählungen von Isaac Bashevis Singer wieder begegnet. Bei ihm hießen diese Orte, wo sich nach dem Krieg am Broadway die jüdischen Emigranten trafen, schlicht Caféterias. Im Gegensatz zu den Dianas, Culinarias und Le Buffets hatten sie bis nach Mitternacht geöffnet, man konnte also noch um elf Uhr abends mit einer Zeitung oder einem Manuskript kommen, sich einen Pudding oder ein Sandwich holen und in irgendeiner Ecke in aller Ruhe lesen oder schreiben. Oder eben mit Leuten reden, die es genauso aus einem europäischen Schtetl in die Neue Welt verschlagen hatte wie Singer selber. Ich habe es ihm nachgemacht und viele meiner Stücke teilweise oder ganz an solchen Orten geschrieben, im Gießener Karstadt, Coburger Kaufhof oder Moabiter Hertie. Auch diesen Text habe ich im Magdeburger Le Buffet begonnen. Schließlich bin auch ich in Magdeburg nicht zu Hause, ebenso wenig wie ich in Gießen, Coburg oder Moabit zu Hause gewesen war. Es ist offenbar der Reflex des Exilanten, in Caféterias zu flüchten, an Orte, an denen man jederzeit wieder aufstehen und gehen kann, weil man sein Essen schon vorher bezahlt hat, weil es keinem auffällt, wenn der Teller oder das Glas noch nicht leer ist, weil sich eh groß keiner um einen schert. Und doch erzeugen diese Orte zugleich eine Vertrautheit, ein Stück Heimat, wer weiß, wie sie das tun, vielleicht weil sie nie ganz voll sind, aber eben doch voll genug, um sich nicht einsam zu fühlen, sie lassen einen in diesem seltsamen Schwebezustand zwischen Zuhause und Fremde, den ich immer als produktiv empfunden habe. Man ist hier selber verantwortlich für sich, stellt sich sein Essen selber zusammen, trägt es sich selbst an den Tisch, von dem man es dann auch wieder fortträgt und auf eines der Geschirrbänder stellt, so wie man es zu Hause, abgesehen von dem Geschirrband natürlich, eben auch tut. Man wird nicht von aufdringlichen Kellern behelligt, die einen fragen, ob es noch was sein dürfe oder einem das Glas wegnehmen, obwohl man den letzten süßen oder bitteren Rest noch nicht ausgeschlürft hat, man kann die Jacke oder den Mantel anlassen, gerade so, als säße man am eigenen Küchentisch. 

 Ich frage mich, in welchem Exil die Menschen leben, die heute die Kaufhaus-Restaurants bevölkern. Da die Preise vermutlich saftiger sind als das Fleisch, müssen sie Geld haben. Beziehungsweise ihrem Alter zufolge eine ordentliche Rente. 9,99 Euro für eine Hähnchenbrust alla Milanese mit überschaubarer Spaghetti-Beilage will mir ebenso wenig billig erscheinen  wie meine 4,80 vom Vortag für einen Salat, der kaum größer ist als der auf dem zweiten Tagesgericht-Teller, Große Kohlroulade mit Specksauce und Kartoffelpüree für 8,99. Auf den ersten Blick scheinen die Menschen um mich herum, die zumeist in Paarform und eher stumm das Essen in sich herein schaufeln, nur eines zu verbinden: dass sie älter sind. Älter als ich zumindest, jenseits der sechzig, siebzig, wenn nicht gar achtzig Jahre. Hierhin scheinen sie sich zurückzuziehen, wobei von Rückzug eigentlich nicht die Rede sein kann, denn das Kaufhaus-Restaurant ist, ich sagte es schon, ein Transitraum. Doch um auf dem Sprung ins Parkaus oder die nächste Abteilung oder sonst wohin zu sein, sind sie wiederum zu langsam und gemächlich. Hier herrscht keine Eile. Das Warten in der langen Schlange vor der einzigen besetzten Kasse wird geduldig getragen, nur der Jüngste, also ich, fragt halblaut vor sich hin, warum denn keine zweite geöffnet werde. Die Ungeduld der hier äußerst relativen Jugend. Auch als ich dann sitze, den gleichen Sicherheitsabstand von zwei Tischen einnehmend wie nahezu alle anderen, was wohl auch dem gerade grassierenden Coronavirus geschuldet sein mag, kann ich mich nicht entspannen. Als ich noch regelmäßig in die Kaufhaus-Restaurants ging, war das Publikum gemischter, insgesamt jünger und dadurch auch unruhiger und zumindest an der Oberfläche lebendiger. Jetzt scheint man alle Zeit der Welt zu haben. Irgendwie habe ich sie verpasst, die schleichende Entwicklung an diesen Orten, es ist mir, als käme ich nach Jahren wieder  nach Hause und sähe plötzlich, wie alt meine Eltern geworden sind. Das Moabiter Hertie-Restaurant der neunziger Jahre war auch ein Arbeitslosentreff und von daher deutlich jünger besetzt. Ich war damals schließlich auch arbeitslos. Meine Lebendigkeit speiste sich aus der Erwartung, dass es endlich losginge, mein Leben, zumindest mein berufliches, schon allein deshalb vibrierte das Besteck in meiner Hand. Ich war sozusagen jederzeit bereit, mein Messer zu zücken. Jetzt, so kommt es mir vor, halten alle ihre Messer und Gabeln wie zur Kapitulation gestreckte Waffen in den Händen. Was mich zu der Frage führt, was Menschen, die heute noch in Kaufhaus-Restaurants essen gehen, aufgeben, wovor sie resignieren, was sie mit sich geschehen lassen. Hier, so scheint es, werden keine Pläne mehr ausgeheckt, keine Ideen gesponnen und erst recht keine Geschichten mehr geschrieben. Hier wird vor allem gegessen und geschwiegen. So als führe aus dem Exil des Alters nur noch der Tod heraus.

  Nachdem ich mein Geschirr pflichtschuldig auf dem Band abgestellt habe, schieße ich noch einige Fotos mit meinem Handy. Niemand stört sich daran. Niemand fühlt sich auch geschmeichelt, dass ich einen solchen Ort für wert erachte, verewigt zu werden. Ich könnte genauso gut unsichtbar sein.

  Was mag das für ein Stadtschreiber sein, werden Sie sich vielleicht fragen, der in und dann auch noch über Kaufhaus-Restaurants schreibt? Ein sentimentaler, nehme ich mal an. Einer, der sich nirgends so richtig zu Hause fühlt. Einer, der vielleicht auch schon seine Waffen gestreckt hat.

  Dass Sie sich da mal nicht täuschen. Als ich noch mal runter in den Zeitungskiosk gehe, schaut ein grimmig zu allem entschlossener junger Mann auf einem Zeitschriftencover haarscharf an mir vorbei, und das unter der Überschrift „Schwerteträger“ und über der Unterschrift „Der Abschusskönig“. Ich denke, ich seh‘ nicht richtig, als ich das Hochglanzmagazin aufschlage und mein Blick auf ein Foto dieses Mannes namens Michael Wittmann mit Adolf Hitler fällt. Eine, wie ich später bei Wikipedia lese, nach Einschätzung der Bundesregierung dem Rechtsextremismus nahestehende Zeitschrift in einem Zeitungskiosk bei Karstadt! Und zwar zuoberst, ein Blickfang regelrecht! Es gibt nur dieses eine Exemplar, was zwei Schlüsse nahelegt. Entweder dass es wenige oder viele Käufer gibt, im letzten Fall wäre es also beinahe schon vergriffen. Während ich es, mit zitternden Händen, zurücklege, denke ich: vielleicht ist die Stille in den Kaufhaus-Restaurants eine trügerische, vielleicht wird dort etwas ausgeheckt, vor dem einem nur angst und bange werden kann, vielleicht träumt da so manch einer noch von einem anderen Ausweg aus dem Exil. Ich sehe zu, dass ich hier rauskomme.

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