Nellja Veremej: Wo Kafka drauf steht, ist auch Harras drin.

Mein neues Zuhause in Magdeburg ist nicht zu übersehen – ich wohne in einem der Moskauer Türme, ganz oben auf dem Dach. Mit dem Fahrstuhl zur letzten Etage, und dann noch höher zu Fuß – noch ein Treppenmarsch, eine neue Tür in das Unbekannte, nur den passenden Schlüssel finden…Hinter der letzten Eisentür liegt ein großes Foyer, eine Art Vorraum für zwei Gästewohnungen. Meine ist unauffällig, die Tür der Nachbarwohnung gegenüber ist mit einem mannsgroßen Kafka-Porträt in Pechschwarz verziert.

Die schwarze Figur an der Tür ist allgegenwärtig – wenn ich das Foyer betrete oder meine Wohnung verlasse – sie springt ins Auge. Und wenn ich aus meinem Spion hinausschaue, verwandelt sich mein Vis-a -Vis in einen schwarzen Fluchtpunkt und wird zum Herzstück der kalten leeren Außenwelt – die ersten Märztage sind klirrend kalt.

Immer, wenn ein vages Geräusch von außen in meine Wohnung durchdringt, laufe ich zur Tür und schaue hinaus – jemand da?

Aber im Foyer ist nur mein gespenstischer Nachbar zu sehen – seine Ohren sind spitz und sein Blick angestrengt, forschend, fast fordernd.

Was sehe ich noch? Fahles Licht, ein totes mehrstämmiges Bäumchen im Topf, eine leere Sektflasche, eine gepolsterte Sitzecke und den Ausgang zur großzügigen Dachterrasse, welche die kleinen Gästewohnungen rundherum umströmt und verbindet.

Die Außenwände in meinem Zimmer sind aus Glas – ich bin hier allen Winden ausgeliefert und den Blicken meiner unbekannten Nachbarn, aber ich klage nicht. Ich klage nicht, schließlich kann ich aus meinem Glaskasten einen Panoramablick auf Magdeburg mit seinen Türmen genießen, schmuck wie eine Postkarte.

Es schneite in der Nacht und die Terrasse ist nun mit flauschigem, frischem Schnee bedeckt.

Die Versuchung, entlang der weißen, antik wirkenden Balustrade auf dem Dach herum zu flanieren ist groß, aber die Angst, ungebeten in den durchsichtigen Alltag meiner Nachbarn zu brechen ist größer. Ich lasse es lieber.

Aber wenn mein Nachbar nicht so ängstlich ist wie ich, kann er jederzeit vor meinem Schreibtisch erscheinen, einen ausgestreckten Arm von mir entfernt. In der Dunkelheit hinter den Jalousien unsichtbar, kann er meinen Telefongesprächen lauschen, wenn ich durchs beleuchtete Zimmer auf und ab laufe, mit der Hörmuschel am Ohr. Oder er könnte mir in den Rücken blicken, wie ich mich in meiner winzigen Kochecke mühe, wie ich esse und wie ich schlafe.

Ich schließe die Augen mit Unbehagen, und plötzlich fällt mir der Name ein, der Name dessen, der mich unentwegt beobachtet und ausspäht – er heißt Harras und er kommt aus einem Buch.

Das war einer der ersten literarischen Texte, die ich im Original auf Deutsch las, es ist eine Ewigkeit, ein Zeitalter her:

 

Franz Kafka, beim Bau der Chinesischen Mauer. Gustav Kiepenheuer, Leipzig und Weimar, DDR. Der dünne Band in solidem Leinenmantel befindet sich immer unweit von meinem Schreibtisch, er hat ein Ehrenplatz in meinem kleinen Gefolge von Büchern, denen ich einst Treue geschworen habe.

Als ich heute das alte Buch in die Hand nehme, schlägt die Erinnerung eine lange Seilbrücke über mehr als ein viertel Jahrhundert zurück – sie nimmt ihren Lauf in Petersburg auf, wo ich mich mit Bleischrift und Wörterbuch über dem Büchlein mühte und führt via Berlin nach Magdeburg, wo mich Kafka nun selbst empfängt.

Ich knipse das Licht aus und werde unsichtbar. Der Wind pfeift und heult über den mit Raureif bedeckten Dächern. Die Stadt schläft, und ich horche noch in die Stille. Das erste, was ich morgen tue – denke ich vor dem Einschlafen, ich gieße das Bäumchen im Foyer – vielleicht ist es gar nicht tot, sondern nur ausgetrocknet. Und danach klingele ich bei Harras. Und wenn er nicht antwortet, gehe ich über den frischen Schnee entlang der Balustrade einmal auf dem Dach herum.

 

 

 

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