Rein in die Leere

Rein in die Leere

Einige Gedanken zum Motto der Magdeburger Bewerbung für den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“
In den östlichen Weisheitslehren ist die Leere ein durchweg positiv besetzter Begriff. Im Tao Te King von Laotse aus dem 4. Jahrhundert vor Christus heißt es: „Schaffe Leere bis zum Höchsten.“ Denn „leer ist der unermeßliche Schoß aller Dinge.“ Auch der große Mystiker Meister Eckhart wusste: „Was empfangen will, muss zuvor leer sein.“ Und sogar der gottlose Bertolt Brecht schrieb: „Geh ich zeitig in die Leere/Komm ich aus der Leere voll.“

Dem gegenüber steht das westliche Verständnis von Leere, das mir bereits meine Großmutter im Alter von sechs Jahren vermittelte, als sie über unsre geschwätzige Nachbarin sagte: „Nur eine leere Dose klappert.“ Leere muss demnach gefüllt werden, möglichst mit Sinn und Gehalt, mit etwas Bedeutungsvollem und Nachhaltigem, gerne auch Spektakulären. Leere also als ein Mangel, ein Defizit, das es zu beheben gilt.

Doch so leer ist Magdeburg ja nicht. Erst recht nicht, wenn man wie ich, anno 2001 bis 2004, aus der noch leereren Altmark ein- bis zweimal im Monat in die Landeshauptstadt reiste, auf der Suche nach der Fülle, die Magdeburg zu bieten hatte. Das begann schon mit einem kräftigen Aufatmen beim Ausstieg aus dem Regionalzug am Hauptbahnhof. Endlich Stadt. Dabei kam ich aus Stendal, einer Provinzstadt, mag sein, von deren Bahnhof aber Züge in gleich drei europäische Metropolen abfuhren, und zwar direkt: Amsterdam, Krakau und Berlin. Nach Berlin fuhren an nahezu jedem probenfreien Tag die jungen Kolleginnen und Kollegen des Landestheaters, an dem ich damals engagiert war, und zwar in der Regel umsonst. Stendal war der letzte Halt vor Berlin, und oftmals hatten die Schaffnerinnen bzw. Schaffner so kurz vor Dienstschluss keine Lust mehr zu kontrollieren, und wenn man sich zudem noch schlafend stellte, konnte man fast sicher sein, die knapp fünfzehn Euro Fahrtgeld gespart zu haben, besonders für einen mit einem Anfängervertrag ausgestatteten Schauspieler kein ganz unwesentlicher Betrag, den man in der Hauptstadt im Handumdrehen wieder investieren konnte.
Mir jedoch war Berlin zu groß und zu voll. Ich hatte es schon damals gerne etwas ruhiger und leerer. Nicht so leer freilich wie Stendal oder Tangermünde, wohin ich auch so manches Mal ausbüchste, wenn mir sogar Stendal zu voll war. Da kam mir Magdeburg gerade gelegen. Im Regionalzug von Stendal nach Magdeburg konnte man nicht schwarz fahren, ich hätte es auch gar nicht gewollt. Ich zahlte gerne für die beschauliche Fahrt über die Dörfer, die gerade mal so lange dauerte wie die Halbzeit eines Fußballspiels, seit jeher die Zeitspanne, in der sich bei mir so etwas wie konzentrierte Aufmerksamkeit messen lässt. Man könnte also sagen, dass ich perfekt eingestimmt war auf Magdeburg, als ich am Hauptbahnhof ausstieg.
Das Aufatmen erwähnte ich bereits. Es verdankte sich der Fülle, nicht der Leere Magdeburgs. Oder vielmehr der Leere Stendals, die jetzt von der Fülle Magdeburgs abgelöst wurde. Der Polarität also. Stendal war Yin, Magdeburg Yang. Bereits auf dem Weg vom Hauptbahnhof in die Innenstadt passierte man ein Kino, und zwar ein Cinemax. Heute, da ich die Beschaulichkeit eines Capitol, Rex oder Odeon genannten Programmkinos weit mehr zu schätzen weiß als die seelenlosen und austauschbaren Mulitplex-Säle mit ihren elektrisch verstellbaren Luxus-Ledersesseln und ihrer dröhnenden Soundtechnik, würdige ich das Cinemax keines Blickes mehr, damals brauchte ich nur an eine „Ice-Age“-Vorstellung in den Stendaler Uppstall-Kinos zu denken, und bog gleich links ab, um zu sehen, welche Abendvorstellung im Magedburger Cinemax sich mit dem letzten Zug zurück in die Altmark verbinden ließ.
Mein zweiter Weg führte mich dann in die Erich-Weinert-Buchhandlung. Hier gab es nicht nur die üblichen Bestseller oder regionalen Kochbücher à la „Von Kühen, Kirchen und Klapperstorchen“, sondern echte Literatur, Gedichte- und Essaybände, Reihen wie die edition Suhrkamp oder die Friedenauer Presse. Wenn ich mich dort durch die Neuerscheinungen gelesen hatte, dann war es meistens schon zu spät fürs Kino oder Theater. Das gab es ja auch noch, nämlich in Form der Freien Kammerspiele. Zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich dort nur ein- oder zweimal zu Besuch war. Wobei: welcher Koch geht schon gerne an seinem freien Abend in einem Restaurant essen?
War es Frühling, Sommer oder auch noch Herbst, so führte mich mein nächster und letzter Weg zwangsläufig zur Elbe. Die floss zwar auch durch die Altmark, aber hier brauchte man nur den Kopf zu drehen, und man sah vom Fluss aus den Dom und konnte sich, wenn man wollte, wie in Köln fühlen. Aber ich wollte nicht. Magdeburg war mir in solchen Momenten genug. Ich hätte an keinem anderen Ort der Welt sein wollen. Zumal wenn ich am nächsten Morgen wieder pünktlich auf der Probe zu erscheinen hatte.

Das alles ist jetzt viele Jahre her, fast zwanzig um genau zu sein. Und in all dieser Zeit bin ich vielleicht nur zwei- oder dreimal zurück nach Magdeburg gekommen, meistens auf der Rückfahrt von meiner westfälischen Heimat nach Berlin, wo ich inzwischen, trotz oder gerade wegen seiner Fülle, lebte. Doch irgendwie funkte es nicht mehr so richtig zwischen Magdeburg und mir. Sollte sich die Anziehung, die Magdeburg auf mich gehabt hatte, etwa einzig der Abstoßung durch Stendal verdankt haben?
Womit ich wieder beim Anfang dieser Überlegungen angelangt wäre, beim Yin- und Yang Prinzip des Daoismus. Das eine ist nicht ohne das andere zu haben, die Leere nicht ohne die Fülle und die Fülle erst recht nicht ohne die Leere, der sie sich überhaupt erst verdankt. Mit anderen Worten: alles geht aus dem Nichts hervor. Was mich zu der Frage führt, ob Magdeburg nicht an seinen Grundfesten rüttelt, ja, mit seiner Existenz spielt, wenn es raus aus der Leere will.

Als ich im Dezember zur Unterzeichnung meines Stipendiumsvertrages nach vielen Jahren wieder zurück nach Magdeburg kam, atmete ich erneut auf. Am Bahnhof, beim Gang durch die Stadt, auf der Suche nach den Gästewohnungen, von denen ich eine ab März beziehen würde. Aber diesmal war es nicht die Fülle, sondern die Leere, die mich aufatmen ließ und die natürlich wiederum eine relative war, kam ich doch gerade aus Istanbul, einer Stadt mit mehr Einwohnern als das Bundesland Nordrhein-Westfalen und ebenfalls einmal Kulturhaupstadt Europas, nämlich 2010. Überall, wo sich mir jetzt in Magdeburg die Aussicht auf eine unbebaute Fläche, eine Leerstelle bot, kehrte ich ein, unter freiem Himmel stehend, ins Weite blickend. Ich begrüßte die Leere geradezu und machte sie an diesem Tag zum Leitmotiv meines Stipendiumaufenthaltes, in Umwandlung des Mottos für die Bewerbung Magdeburgs zur Kulturhaupstadt Europas „Rein in die Leere“. Ich spürte, dass ich mit leichtem Gepäck kommen wollte im Frühling, mit einem, höchstens zwei Manuskripten, dass es etwas dauern würde, bis ich Familie und Freunde nach Magdeburg einlüde, dass ich mir die Zeit in dieser Stadt nicht vollstopfen wollte.

Ich weiß, hier spricht ein Gast, kein Bewohner der Stadt, und ich kann mir gut vorstellen, dass jemand, der seit vielen Jahren hier lebt, nichts als raus aus der Leere möchte und diese Überlegungen als romantische Luftblasen abtut, noch dazu geäußert von einem Vertreter jener Zunft, die Verklärung nicht selten zur Tugend erklärt, einem Schriftsteller eben. Aber als solcher bin ich ausdrücklich hierher gebeten worden und darf sagen, dass ich mich für den Posten des Stadtschreibers in Leipzig etwa, wenn es denn dort einen gäbe, nicht beworben hätte. Und das hat nichts damit zu tun, dass ich in der Stadt einmal studiert habe und sie allenfalls ein bisschen kenne.
Magdeburg muss kein zweites Leipzig, keine sogenannte Boomtown werden aus meiner Sicht, okay, sie könnte wieder eine eine Zweit-, wenn nicht gar Erstligafußballmannschaft haben, gerne sogar, und an den Zugverbindungen sollte man auch etwas drehen. Dafür hat Magdeburg aber, was viele Städte nicht haben, auch solche nicht, die vermeintlich „boomen“, vielleicht weil gerade sie denken, sie bräuchten so etwas nicht, nämlich einen Stadtschreiber. Und wenn ich es richtig verstanden habe, dann verdankt sich dieses Amt überhaupt erst der Bewerbung Magdeburgs für den Titel „Kulturhaupstadt Europas“, was mich hoffen lässt, dass auf dem Weg raus aus der Leere ein Blick von außen ausdrücklich gefragt ist.
Lassen Sie mich also in den nächsten Monaten in der ewigen Polarität von Yin und Yang nicht nur für das Yang, sondern auch für das Yin zuständig sein. Lassen Sie mich auch von den vermeintlichen Leerstellen dieser Stadt erzählen, von den Orten, an denen sie Luft zum Atmen, Raum zum Innehalten und damit letztlich auch die Möglichkeit zum Schreiben lässt. Möge dann am Ende aus meinen bescheidenen Einlassungen eine Fülle entstehen, die mit dazu beiträgt, dass Magdeburg seinem großen Ziel einen kleinen Schritt näher kommt.

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