Wo waren Sie, als das Sparwasser-Tor fiel?

Ich tue jetzt mal so, als hätte mich Elke Wittich vor zweiundzwanzig Jahren gefragt, wo ich war, als das Sparwasser-Tor fiel. Das hat sie nämlich mit Sepp Maier („Blöde Frage“), Günter Wallraff oder Hermann Kant getan und die Antworten zu einem kleinen Buch gebündelt, das ich vor zwei Wochen bei einem Trödler in der Nähe des Hasselbachplatzes gefunden habe.

  Also: ich war bei meinem Opa in Soest. Der hatte nämlich schon damals einen Farbfernseher, während wir dreizehn Kilometer entfernt in einem kleinen Dorf namens Mellrich noch schwarz-weiß guckten. Zwar war dieses Spiel zumindest aus fußballerischer Sicht keine große Sache – „Warum wir heute gewinnen“, lautete die Schlagzeile der BILD-Zeitung an jenem 22. Juni 1974 -, aber dafür aus politischer. Doch was verstand ich schon von Politik? Ich wusste ja noch nicht mal, dass es zwei Deutschländer gab. Und das seit fast dreißig Jahren.

  „Da kannste mal sehen“, sagte mein Opa auf eine Art, die mich jedes einzelne der sechsundfünfzig Jahren, die zwischen uns lagen, spüren ließ. 

  Mein Opa war kein besonders großer Fußballfan, aber wenn WM war, und das auch noch im eigenen Land, dann guckte natürlich auch er. Aber war es wirklich sein eigenes Land? Anders konnte ich es mir nämlich nicht erklären, dass mein Opa sich nicht darüber ärgerte, dass hier die falsche Mannschaft gewann, zumindest aus meiner Sicht. Während ich mit dem Fuß aufstampfte, lehnte er sich genüsslich in seinem Sessel zurück, und da er das mit seinen über hundert Kilo tat, hob sich die Fußlehne ganz automatisch. Da lag mein Opa nun wie in der Badewanne, während mir der Fuß wehtat. So lernte ich früh, wie ungerecht der Fußballgott sein konnte.

  Am nächsten Tag verpetzte ich meinen Opa bei meinem Vater. Ich tat das auch, weil sich die beiden nicht leiden konnten und ich hoffte, dass mich mein Vater irgendwie an meinem Opa rächen würde. Und prompt ging er darauf ein. „Kein Wunder!“ schnaubte er, „dein Opa ist ja auch ein Sozi.“ Das war das zweitschlimmste Wort, mit dem mein Vater jemanden belegen konnte, schlimmer war nur noch „Kommunist“. Zwar verstand ich nicht genau, was ein Sozi oder ein Kommunist war, aber dass es was mit Politik zu tun hatte, war sogar jemandem klar, der nicht mal wusste, dass es zwei Deutschländer gab.   

  Ein Sozi war das Gegenteil von einem CDU-Wähler, und ein solcher war mein Vater. Was anderes kam überhaupt nicht in frage, schließlich waren wir katholisch und gingen jeden Sonntag in die Kirche, meine Mutter und mein großer Bruder sogar zweimal, morgens ins Hochamt und nachmittags zur Andacht. Komisch war nur, dass mein Opa das auch tat und trotzdem ein Sozi war. 

  Jetzt musste ich nur noch herausfinden, was ein Sozi mit dem anderen Deutschland zu tun hatte, also warum er sich nicht darüber ärgerte, wenn sein eigenes Deutschland gegen das andere Deutschland verlor, und das auch noch bei einer WM in seinem eigenen Deutschland.  Ich fand nämlich, das war erst recht ein Grund, sich zu ärgern, und zwar schwarz. Ich fand, das passte auch deswegen besonders gut, weil die CDU-Wähler nämlich von meinem Opa „die Schwatten“ genannt wurden, während umgekehrt die Sozis von den Schwatten „die Roten“ genannt wurden. Und genau an dieser Stelle brachte mein Vater das schlimmste Wort ins Spiel, also „Kommunist“. Das sei nämlich jeder, der in diesem anderen Deutschland lebte. Ich lernte also an diesem Tag, dass ein Sozi kurz davor war, ein Kommunist zu werden, und das erklärte so einiges. Zum Beispiel, warum mein Opa sich nicht geärgert hatte.

  Als nächstes versuchte ich dahinter zu kommen, warum mein Opa ein Sozi war. War er etwa ein Roter, weil mein Vater ein Schwatter war, so wie ich auch vor allem deswegen Dortmund-Fan war, weil mein Vater zu Schalke hielt? Mein Opa war nämlich nicht der einzige, der so seine Schwierigkeiten mit meinem Vater hatte. Während mein Vater so schwatt war, dass er wahrscheinlich als Schwatter geboren war. Was meinen Opa betraf, so meinte mein Vater, dass der deswegen ein Sozi wäre, weil er von „von drieben“ käme. 

  An dem „von drieben“ hatte ich lange zu knacken. Es klang wie aus dem Mund von Onkel Michael, der eigentlich Gerhard mit Vornamen hieß und gar nicht mein richtiger Onkel war, sondern so eine Art Hausmeister bei uns. Jedenfalls machte er all das wieder heile, was mein Vater beziehungsweise meine Geschwister und ich kaputt gemacht hatten, weil mein Vater, wie Onkel Michael meinte, zwei linke Hände hätte. Onkel Michael sagte zum Beispiel auch nicht Teufel, sondern „Deiwel“. Oder „kraalen“ statt schreien. Oder „Plins nicht!“ statt Heul nicht! Onkel Michael war nämlich auch „von drieben“. Aber wieso sprach dann mein Opa nicht so? Hatte mein Vater mich etwa wieder angelogen, so wie kurz vor Weihnachten, als er meinte, ich würde eine Carrera-Bahn kriegen, aber dann war es doch nur ein Matchbox-Auto gewesen?

  Ich traute mich nicht, meinen Opa zu fragen, ob er „von drieben“ sei. Wahrscheinlich weil ich ahnte, dass es etwas Unheimliches war. Oder besser gesagt: etwas ganz Heimliches. So heimlich, dass man erst gar nicht darüber sprach.

  So dauerte es auch noch viele Jahre, fast zwanzig, bis ich erfahren sollte, von wie weit „drieben“ mein Opa tatsächlich kam. Er kam von so weit „drieben“, dass man dort nicht „Deiwel“, sondern „d’yavol“ sagte, wenn man den Teufel meinte. Oder „krig“ statt schreien. Mein Opa kam nämlich gar nicht aus Soest, wie wir immer gedacht hatten, sondern aus Minsk. Aus der Sowjetunion also, die bei uns zu Hause mit einem besonders scharfen S ausgesprochen wurde, das hatte mein Vater von dem Moderator des „ZDF-Magazin(s)“, der wahrscheinlich noch schwatter war als er. Und die Sowjetunion hatte sich noch nicht mal für die WM 74 qualifiziert. Da hatte es also nahe gelegen, dass mein Opa damals den kleinen Bruder der großen Sowjetunion unterstützt hatte, nämlich die DDR, das andere Deutschland also. Das hätte sogar ich verstanden, wenn man es mir damals erklärt hätte, auch wenn ich ja sonst nichts von Politik verstanden hatte.

  Damals verstand ich aber auch noch etwas anderes nicht, und das passierte genau zweieinhalb Wochen später. Da spielte nämlich unser eigenes Deutschland gegen Holland im Finale. Und diesmal schien sich mein Opa zu ärgern, während ich mich freute. Zwar stieß er nicht mit dem Fuß auf und ich lehnte mich auch nicht im Sessel zurück, klar, in dem saß ja auch mein Opa, aber es war auch so deutlich zu sehen, dass für meinen Opa diesmal die falsche Mannschaft gewonnen hatte. Aber was hatte mein Opa mit den Holländern zu tun? Waren die etwa auch alle Sozis oder Kommunisten oder was? 

  Wieder verpetzte ich meinen Opa bei meinem Vater, doch der sagte diesmal nur: „Frag deine Mutter.“ Schließlich war sie die Tochter meines Opas, also wenn es jemand wissen musste, dann jawohl sie. Aber meine Mutter sagte gar nichts. Allerdings schwieg sie auf eine Weise, dass sie doch etwas sagte. Und das klang so wie: Frag das nie wieder! 

  Und so habe ich auch nie wieder gefragt, weder meine Eltern noch sonst irgend jemanden, und am allerwenigsten meinen Opa selber. Auch später nicht, als ich längst wusste, warum ich ihn nicht fragen durfte. Denn mein Opa kam nicht nur aus Minsk, er war auch noch Jude. Und darüber sprach er nicht, zu niemandem, nicht mal zu meiner Mutter, die durfte es sogar gar nicht wissen und hätte es wohl auch nie gewusst, wenn sie nicht eine Schwester gehabt hätte, die sich eines Tage hatte scheiden lassen und dann einen Mann geheiratet hatte, der sich für Ahnenforschung interessierte.

  Ich weiß, ich bin längst vom Thema abgekommen, der Frage, wo ich war, als das Sparwasser-Tor fiel. Aber es zeigt eben, dass das Sparwasser-Tor nicht irgendein Tor war, am allerwenigsten vielleicht ein Fußball-Tor. Für mich ist es noch immer ein Einfallstor in meine Familiengeschichte, die ein Teil der deutschen Geschichte ist. Und nun bin in Magdeburg, ausgerechnet, der Stadt, in der Sparwasser damals gespielt hat. Wie könnte ich also umhin, über ihn zu schreiben. Über ihn und meinen Opa und mich. Wohin die Reise gehen wird, weiß ich noch nicht so genau. Das heißt, ich weiß es, ich weiß vielmehr noch nicht, wie. Ob mit dem Zug, einem Ballon oder wie man sonst vom Westen in den Osten kam, damals in den Siebzigern. Von Soest nach Magdeburg.

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