Rein in die Leere 7

Welcher Ort könnte leerer sein als ein russischer Soldatenfriedhof ein paar Tage nach dem 8. Mai 2020. So leicht wird man ihrer nicht mehr gedenken, der gefallenen russischen Soldaten, in Magdeburg nicht und anderswo auch nicht. Und so bin mal wieder der einzige, der zwischen Gräbern herumstreunt, an diesem trüben Montagnachmittag zwischen fünf und sechs Uhr.
Mein Großvater hätte hier liegen können, wenn seine Geschichte anders verlaufen wäre, wenn seine Mutter nach dem frühen Tod seines Vaters nicht wieder geheiratet hätte, einen deutschen Eisenbahner, beheimatet im westfälischen Soest. Er selber, mein Großvater, 1910 in Minsk geboren, wäre prädestiniert gewesen, gegen die Deutschen im Zweiten Weltkrieg zu kämpfen. Stattdessen hat er für sie gekämpft, gekämpft, na ja, er hatte es mit den Augen, und so konnte er die Front mit der Schreibstube vertauschen. Aber er versah ihn, wie auch immer, seinen Dienst am Vaterland, das nicht seines war, ganz im Gegenteil.
Mein Großvater war Jude, Enkel eines Rabbiners aus einem kleinen Ort südöstlich von Babrujsk an der Bjaresina. Das Dritte Reich hat er unter dem Damoklesschwert der Mischehe verbracht, die seine Mutter 1923 eingegangen war. Er hat nie darüber gesprochen.
Die Männer, denen auf den Grabsteinen gedacht wird, sind überwiegend jünger als mein Großvater. Majore, Offiziere, Leutnante, ums Leben gekommen „bei der Erfüllung der Dienstpflicht“, wie mir eine Freundin via WhatsApp übersetzt. Später lese ich, dass der Friedhof auch als Grabstätte für die Angehörigen der Sowjetarmee genutzt wurde, die während ihres Dienstes in der DDR verstarben.
Vor der zentrale Gedenktafel liegen Blumen und Kränze. Die Linke war hier, die Regionalgruppe „Aufstehen“ Magdeburg, Vertreter der Landesregierung. Ich komme mit leeren Händen. Schließlich war mein Besuch nicht geplant, ich wollte bloß ein bisschen spazieren gehen im Nordpark nach einem langen Tag am Schreibtisch, ich hatte ja keine Ahnung, dass sich dort der Ehrenfriedhof der gefallenen Sowjetkämpfer befindet. Aber was weiß man schon von tieferen Ahnungen. Ich hatte auch schon mal eine Autopanne in Remscheid-Lüttringhausen, und während ich darauf wartete, dass der gerissene Zahnriemen in einer Werkstatt ausgetauscht wurde, trank ich einen Kaffee in der Caféteria eines Krankenhauses. Wochen später erfuhr ich, dass es dasselbe Krankenhaus war, in dem mein anderer Großvater siebzig Jahre zuvor gestorben war.
Als ich wieder in den eigentlichen Park zurückkehren will, kommt doch noch jemand auf den Friedhof. Ein junges Pärchen. Die Frau im roten Mantel hat Blumen dabei. Ich will schon auf sie zugehen und sie in ein Gespräch verwickeln, da fällt mir ein, dass Abstand halten das Gebot der Stunde ist. Und der Einfall stoppt nicht nur meine Schritte, er lähmt auch meine Zunge. Dabei hätte ich zu gerne gewusst, wer sie sind und was sie, so jung noch, hierher führt. All die ungestellten Fragen, die nicht geführten Gespräche, die nicht stattgefundenen Begegnungen und die nicht geschriebenen Texte in Zeiten von Corona.
Im Park ist es dann wieder voller. Kinder enteilen ihren Eltern, Jogger drehen ihre Runden, Halbwüchsige brechen feixend alle Abstandsregeln. In Gedanken bin ich aber noch auf dem Friedhof, beziehungsweise bei dem Bild, das am Wochenende aus Moskau in alle Welt transportiert wurde: der einsame Putin im Regen an der Kremlmauer, in der Hand eine rote Rose. Es war das erste Mal, dass ich ihn irgendwie traurig sah, und ich fragte mich, ob es wegen der siebenundzwanzig Millionen toten russischen Soldaten war oder weil er so allein war, ausgerechnet an diesem Tag. Gestern hätte ich noch gesagt, wegen der Soldaten, jetzt, wo auch das junge Paar zum Ausgang geht und der Friedhof wieder genau so verlassen daliegt wie vor meinem Besuch, bin ich mir da nicht mehr so sicher.

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