Rein in die Leere 6

Der 1. Mai ist kein Tag für Friedhofsbesuche. Wobei ich nicht wissen möchte, wie viele der Toten, die hier auf dem Buckauer Friedhof liegen, sich totgearbeitet haben, in der Stadt des Schwermaschinenbaus. Warum also ihnen nicht mal einen Besuch abstatten. Zu den Toten muss man ja auch nicht auf Abstand gehen in diesen Tagen.
Dabei fällt mir etwas ganz anderes auf, als ich meine erste Runde mit dem Fahrrad über den Friedhof drehe. Wie viel Platz hier ist. Als beherberge der Buckauer Friedhof weniger seine alten Toten, sondern warte vielmehr auf neue. Oder als hätten emsige Friedhofsgärtner vor Wochen schon mal Platz geschaffen für die zu erwartenden Corona-Toten. Wie zur Strafe für solche unseligen Gedanken fängt es auf einmal an zu regnen.
Ich bin nicht der einzige Besucher an diesem späten Nachmittag. Wobei ein junges Pärchen den Friedhof nur als Durchgangsstation zu gebrauchen scheint. Während eine Frau mitten im Regen die Blumen auf einem Grab gießt. So als würde sie dem Klima, das es nach Wochen endlich mal wieder regnen lässt, nicht so recht trauen.
Ich bin erstens katholisch und komme zweitens vom Land. Da sind Friedhöfe bisweilen eine wuchtige Angelegenheit, zumindest in Westfalen. Riesige Familiengrüfte mit blank polierten Doppelsteinen oder spaltrau gebrannten Felsen und den Namen von Toten über Generationen hinweg, von Frank und Anja über Herbert und Adelheid bis hin zu Friedrich-Wilhelm und Franziska. Dazu alle paar Meter ein kunstvoll geschnitzter Corpus, damit ja kein Zweifel entsteht, dass der Tod noch immer eine Sache der Kirche ist.
Der Buckauer Friedhof dagegen ist eine ziemlich unchristliche Angelegenheit. Die Grabsteine, die darauf hindeuten, dass hier gute Christenmenschen begraben liegen, sind längst verwittert, die Grüfte ungepflegt, ja wie aufgegeben; es dominieren die bunten Blumen auf den Urnengräbern. Dafür entdecke ich erfreulich wenige Stätten, auf denen die Angehörigen ihren Gefühlen in Form von Maskottchen, Spielzeug-Harley Davidsons für verstorbene Rocker oder Miniaturgitarren für jemanden, der zu Lebzeiten Mitglied einer Tanzcombo war, freien Lauf gelassen haben. Alles schon gesehen.
Ich drehe noch eine Runde, dann suche ich mir eine Bank, nehme mein Handy und schaue mir ein paar Fotos von meinem Kater an, der vor zwei Tagen vom Balkon meiner Istanbuler Wohnung gefallen und anschließend gestorben ist. Vielleicht ist das ja der tiefere Grund für meinen Friedhofsbesuch ausgerechnet am ersten Mai. Auch er hat ein Grab bekommen, auf einem der wenigen Grünstreifen in meinem Viertel. Und auf einmal fühle ich mich gefangen wie nie zuvor in diesen Corona-Zeiten, weit weg von dem Ort, an dem ich inzwischen zu Hause bin. Dabei ist er so trügerisch nah. Auf der Rückfahrt entdecke ich direkt neben dem Friedhof einen Sultan-Grill.

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