Rein in die Leere 4

Es ist das erste Mal seit meinem Austritt aus der katholischen Kirche vor gut einem Jahr, dass ich wieder in einem Gotteshaus bin. Als Tourist. Oder besser gesagt: als Stadtschreiber. Man hat ja sonst nichts zu tun in diesen Zeiten. Beziehungsweise nichts, worüber man schreiben könnte. Das Innenleben mal außen vor gelassen.

  Ich wäre nie auf die Idee gekommen, die Magdeburger Bischofskathedrale Sankt Sebastian zu betreten, wenn ich nicht auf der gegenüberliegenden Straßenseite eine Frau gesehen hätte, die die Kirchentür aufriss. Ich dachte nämlich, die Brüder hätten dicht. Genauso wie Autohäuser, Erotikshops und H&M.

  In der letzten Bankreihe sitzen zwei Schwestern, von denen mich eine die ganze Zeit nicht aus den Augen lässt. Andacht sieht anders aus. Oder bin ich so ein Exot in diesen heiligen Räumen? Zumindest bin ich der einzige Mann. An einem Freitagnachmittag kurz vor halb fünf.

  Ich setze mich und lasse die Atmosphäre auf mich wirken. Die weiße kahlen Wände und Kreuzgewölbe werden in ihrer Schroffheit von den sandsteinfarbenen Pfeilern und Bogen und den fast gelben Rippen abgemildert. Ich schaue nach oben, wo seltsame Pfeiler die vierjochige Halle stützen. Eine wohltuende Leere geht von dem hohen Langaus aus. Womit ich auch schon wieder beim Motto meiner Magdeburger Stadtschreiberschaft wäre: Rein in die Leere.

  In diese Leere kriechen aber schnell wieder die alten Gedanken. Ich muss an die Worte des neuen Vorsitzenden der Deutschen Bischofskonferenz denken, Georg Bätzing, der kürzlich in der Ostermesse die Auffassung vertreten hat, die Corona-Krise sei ein Glücksfall der Geschichte. So viel Freundlichkeit und Humor habe er jedenfalls selten erlebt. Ob das Klaus Wowereit wohl auch so sieht, dessen Mann an Covid 19 gestorben ist? Oder all die anderen Angehörigen der inzwischen über 150 000 Opfer dieses Virus, von denen sich viele nicht mal von ihren Liebsten verabschieden konnten? Mir fällt auch ein Interview mit dem Münchner Erzbischof ein, von dem ich nur die Überschrift gelesen habe, sowas wie ‚Unsere Botschaft wird wieder gehört.‘ Aber es soll ja auch der bayerische Ministerpräsident in diesen Tagen Zustimmungswerte von über neunzig Prozent haben. Nein, diese Institution und ich werden so schnell keinen Frieden schließen, soviel ist klar nach nicht mal einer Viertelstunde auf der Holzbank von Sankt Sebastian. Da kann die Schwester noch so gucken.

  Pflichtschuldig spaziere ich ein wenig umher, scanne mit dem geübten Blick eines jahrzehntelangen Katholiken die Orgelempore, den Kreuzweg, die Fenster im Chorschluss mit ihren alt- und neutestamentarischen Motiven vom Sündenfall über die Geburt von Jesus Christus bis hin zu seinem Einzug in Jerusalem. Auf den beiden Fenstern der nördlichen Chorseite entdecke ich den Heiligen Liborius, Patron des Erzbistums Paderborn, aus dem ich ursprünglich stamme, und erinnere mich dunkel an so etwas wie eine Partnerschaft beider Bistümer. Ich gehe mal davon aus, dass es Zufall ist, sonst müsste ich noch ins Grübeln kommen.  Dann endlich, auf einem Fenster der Südseite, der Heilige Sebastian. War das nicht ein römischer Soldat, den man gleich zweimal ermordet hat, das erste Mal mit einem Pfeil, das zweite Mal mit einer Keule? So habe ich es zumindest als Kind in einem Heiligenlexikon gelesen. Ich frage mich, wann sein Namenstag ist. Meiner ist in wenigen Tagen, am 23. April. Sankt Georg.

   Bevor ich das Gotteshaus wieder verlasse, ziehe ich unter den immer noch bohrenden Blicken der Schwester aus einem Korb eine kleine Papierrolle. Draußen, in der milden Spätnachmittagssonne, befreie ich sie von dem Gummiband und lese den Spruch: „Man kann die Zeit nicht aufhalten, aber für die Liebe bleibt sie manchmal stehen.“ Das passt zur Osterbotschaft von Bischof Bätzing. Corona als Amors Pfeil, der die Zeit mitten ins Herz trifft, so dass sie stehen bleibt. Ich hatte schon meine Gründe, warum ich diesen Brüdern den Rücken gekehrt habe. Ich frage mich nur, warum es so lange gedauert hat.

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