Rein in die Leere 10

Ich hatte in den vergangenen beiden Wochen gleich zweimal Besuch: erst kam ein kanadischer Freund für einen Sonntag mit seinem 900-Euro-Rad aus Berlin rüber, dann ein alter Schulfreund gleich fürs ganze Pfingstwochenende mit seinem handgemachten 5000-Euro Rad aus NRW. Und so geschah es, dass ich, der ich im übrigen hier in Magdeburg über ein dreigängiges Damenrad mit Einkaufskorb verfüge, ihnen die Stadt zeigte. Der Einäugige lehrte die Blinden das Sehen. Beziehungsweise der mit dem Drahtesel fuhr den Edeltretern voraus.
Was auch immer dabei herauskam – ich sage nur Dom und Hassel, Buckau und Stadtfeld, Mückenwirt und Treibgut, Riesenrad und Gierfähre, Alte und quasi Neue Elbe -, es löste Begeisterung aus. Nicht nur Erstaunen, so nach dem Motto „Ach, das hätte ich jetzt aber nicht gedacht“, Verblüffung („Donnerwetter!“) oder Verwunderung („Meine Güte!“), nein, regelrechte Begeisterung. Der Kanadier bedauerte, kein Autor zu sein, denn sonst hätte er sich umgehend für die Stadtschreiberschaft im nächsten Jahr beworben, und der Westfale ließ sich beim Sonnenuntergang auf der Zollbrücke zu den Worten „Alter Schwede!“ hinreißen; wer um die legendäre Zurückhaltung der Westfalen in Sachen Gefühlsäußerung weiß, wird diesen schieren Begeisterungstaumel entsprechend zu würdigen wissen. Und beide wollen sie im übrigen wiederkommen, so lange ich noch der Schreiber dieser wunderbaren Stadt bin.
Und das Seltsame daran ist: es hat mich nicht mal gewundert. Im Gegenteil, ich hatte sie bereits am Telefon mit den Worten „Es wird dir gefallen“ eingestimmt; da ich ebenfalls Westfale bin, könnte man auch behaupten, ich hätte gesagt: Es wird der schiere Wahnsinn!
Natürlich kenne ich die beiden seit Jahren bzw. Jahrzehnten, weiß also, was in der Lage ist, ihre Seelen zu erwärmen. Dann hatte ich in den vergangenen drei Corona-Monaten selbst Gelegenheit genug, mich von den zahlreichen Vorzügen Magdeburgs zu überzeugen. Aber mal ehrlich: war ich dabei wirklich immer so begeistert wie die beiden Freunde? Okay, es ist was anderes, ob man an einem Samstag im Corona-Monat April zu einer Elbwanderung aufbricht oder nach Ablauf der Quarantäne im Juni sich mit einem 5000-Euro-Rad ins Getümmel der Pfingstausflügler stürzt, aber rechtfertigt das allein das Gefühlsdefizit? Denn schließlich bin ich hier der Dichter, also der schon von Berufswegen zu Oden, Hymnen und Anbetungen Verpflichtete.
Damit wir uns hier nicht mißverstehen: ich mag Magdeburg. (Mit dem Wort „lieben“ geht unsereins vorsichtig um, fragen Sie mal meine Frau.) Ich bin gerne hier. Mir gefällt es. Und ich weiß schon jetzt, dass der Abschied mich wehmütig machen wird. Aber mit den Gefühlsausbrüchen meiner beiden Freunde kann ich auf Anhieb nicht mithalten. Hätten meine beiden Freunde mich damit beauftragt, schon mal den Wohnungsmarkt für sie zu sondieren, es hätte mich auch nicht gewundert. Eine Zweitwohnung an der Elbe, zumindest der mit dem 5000-Euro-Rad könnte sie sich leisten. Und was den Kanadier angeht, der hat immerhin ein Haus am Wannsee.
Was ich mit all dem sagen will – inzwischen eine beliebte Wendung in meinen Texten, denn schließlich schreibe ich sonst keinen Blog, tue dies also ausdrücklich für meine Lese*rinnen -: Magdeburg ist eine Stadt, die Begeisterung auslösen kann. Halten wir das mal ganz deutlich fest. Auch oder vielleicht gerade bei Westdeutschen. Selbstverständlich ist Magdeburg auch der haushohe Favorit meiner beiden Freunde auf den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“. Denn die anderen Städte kennen sie natürlich, Hildesheim, Hannover und Nürnberg, und, man höre und staune, sogar Chemnitz. Aber kein Vergleich mit Magdeburg.
Ich gebe zu, dass das, was meine beiden Freunde vor allem an Magdeburg begeistert hat, die Elbauen sind. Aber das tut der Sache keinen Abbruch. Denn was wäre Istanbul ohne den Bosporus, Köln ohne seinen Dom, Hamburg ohne seinen Hafen? Und so wie die Kölner neben dem Dom auch noch den Rhein haben, haben die Magdeburger neben der Elbe den Dom. Und da muss sich der Hamburger Michel schon gewaltig strecken, um da mithalten zu können.
Erst jetzt, während ich dies schreibe, fällt mir auf, dass meine beiden Freunde meinem zentralen Bezugspunkt zu Magdeburg so gar keine Bedeutung geschenkt wurde, nämlich der Leere. Ich vergaß sie, und meinen Freunden fiel sie möglicherweise gar nicht auf. Hätte ich ihnen gesagt, dass sie im Zentrum der Magdeburger Bewerbung für den Titel „Kulturhauptstadt Europas 2025“ stehe, sie hätten mich vermutlich gar nicht verstanden. „Wie Leere? Was soll denn hier leer sein? Selbst der Himmel ist voller Wolken.“ Wecken wir also keine schlafenden Hunde. Lassen wir Magdeburg sein, wie es ist. Unterschätzt, ja, oft genug buchstäblich links liegen gelassen auf dem Weg nach Berlin, aber jederzeit bereit, Begeisterung auszulösen. Und das bei Menschen, die schon viel rumgekommen sind, mit Fahrrädern, die soviel kosten wie Gebrauchtwagen. Aber das heißt eben auch – und damit wäre ich doch wieder bei meinem Lieblingsthema – : lassen wir Magdeburg ruhig in der Leere verweilen. Denn vielleicht (und meiner Ansicht nach sogar ganz sicher) ist diese Leere die wahre Fülle.

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