Nellja Veremej: Unser täglich Buch

 

Es gibt Ecken in Magdeburg, von denen aus der majestätische Dom etwas fehl am Platz aussieht, ein paar Nummer zu edel, ein paar Nummer zu schön – so wie vom Busbahnhof aus zum Beispiel.

 

Mir wurde die Ehre zuteil, für die Stadt Magdeburg auf der Buchmesse zu lesen. Ich fahre nach Leipzig, der Morgen ist grau. Der Bus verspätetet sich, ich studiere den Reiseplan an der Glaswand: Košice, Poprad, Trenčin, Brno – unbekannte, poetische Namen – fremd und vertraut zugleich. Die kleinen und großen Orte sind Knoten in jenem dichten Kapillarengeflecht des Ostens, das die billigen Arbeiter und Arbeiterinnen in den Norden und Westen der Union pumpt. Diese Männer und Frauen sind in unseren Städten allgegenwärtig, aber fast immer unsichtbar – sie kochen, putzen, mauern, malern, kacheln durch Wände, Gerüstplanen und Bausperren von uns getrennt. Wenn die Wanderarbeiter zu ihren Alten und Kleinen nach Hause fahren, haben sie die Hände voller Geschenke – mehrere Männer laden Kisten und Taschen aus einem Transporter auf den Bahnsteig und rauchen. Als ihr Bus kommt, stopfen sie ihre Beute mit starken rauen Händen in das ohnehin volle Gepäckabteil. Im Land meiner Kindheit war der Proletarier mit seinen dunklen, starken Händen eine Kultfigur, jetzt ist er unsichtbar geworden, wählt schattige Straßenseiten, wenn er auf der Suche nach Arbeit durch Europa wandert. Der Wanderarbeiter kommt immer von Osten: und ich, eine Ostlerin, die sich mit leichter Tasche zur Buchmesse aufmacht, bekomme als Überläuferin etwas Gewissensstiche.

Niemand weiß, wo die Mitte Europa liegt, aber seine Peripherie kann nur im Osten liegen. Denn mit seinen anderen Flanken schaut Europa auf Meere und Ozeane und die Küstenorte sind dazu verdammt, wohlhabend, weitsichtig und weltoffen zu sein. Nach Osten hin erstreckt sich Europa mit gewaltigen Erdmassen, Binnenland verwandelt sich unmerklich in Hinterland – wo genau, kann niemand sagen.

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Als unser Bus startet, fällt Schnee. In Leipzig schneit es auch. Der Tram ist voll, überwiegend mit kostümiertem jungem Volk. Nass und durchfroren drängen sich Drachen, Mikas und Badass Psychos zusammen. Das übergewichtige Eichhörnchen weiß nicht wohin mit dem prachtvollen hochgestellten Schwanz, die Fee mit verwelktem, nassem Tüllflügel und zerlaufener Schminke schimpft.

Aus der Ferne sieht die Messeanlage am Stadtrande wie eine Raumschiffstation aus – große Hallen – zusammengebunden durch gläserne Tunnel, eingebettet in ein weites, kahles Feld.

Gewaltige Menschenmengen wogen durch das riesige Foyer – die Ströme teilen sich, biegen ab und fließen durch die gläsernen Rohre weiter – ich segele den sicheren Hafen Stand Magdeburg an. 

 

Von dort dann weiter im Ozean umher.

Bei der Planung der Reise ist mir ein Fehler unterlaufen: ich habe die Abfahrt für halb neun abends gebucht, ohne zu wissen, dass die Messe ihre Pforten um sechs schließt. Ich werde zwei Mal in ein Café einkehren, sehr langsam durch die Hallen laufen, lange an Ständen stehen bleiben, um die Zeit tot zu schlagen.

Menschen sind unzählige hier, aber Bücher gibt es noch viel mehr. Selten fühlte ich mich so klein und überflüssig, wie bei diesem Besuch bei der Buchmesse. An meiner Berufung zweifelnd irre ich durch die Bücherlabyrinthe und beneide alle Köche, Lehrer, Maurer und Fliesenmeister der Welt, die nach dem Sinn ihrer Tätigkeit nicht zu fragen brauchen – der liegt auf der Hand, der wird von anderen Menschen täglich und dankbar in Anspruch genommen.

Fast 90.000 neue Titel werden pro Jahr bei uns im Lande gedruckt – was wird mit all den Bänden geschehen? Ein Paar Dutzend ausgezeichneter Bücher werden ihren Triumph feiern, und die restlichen Dutzende von tausend Titel werden verzweifelt nach Aufmerksamkeit schreien. Das meiste endet später im Ramsch, auf dem Müll.

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Es dauerte, bis das Buch, eine Erfindung des Orients, unseren Kontinent eroberte.

Die kleinen und einfachen Sachen notierte man bei uns auf Buchrinde, das große Wissen und die großen Empfindungen wurden in Sagen gespeichert, die Sagen gehörten allen. Reim sollte die Geschichten zusammenhalten – ginge ein Wort verloren, würde es der Erzähler und Zuhörer sofort bemerken.

In unseren nördlichen Breiten erzählte man an kalten, blauen Abenden gerne von Riesen , Trollen und Wölfen, die alle den Baum anbeteten – den gnädigen, den großzügigen, den allmächtigen. In seiner Toleranz unübertroffen, schützte und nährte er die Guten und die Bösen. Selbst den Würmern, die an seinem Fleisch nagten und dem Drachen, der sich in seinem Wurzelwerk einnistete und plünderte, war der Baum wohlwollend gegenüber. „Alles wird gut“ – raschelte es in seinem Blattwerk. „Solange ich für euch da bin, wird die Geschichte dauern.“

Der Segen wurde von Eichhörnchen ausgetragen, die zwischen dem Himmel, der Erde und der Unterwelt auf und ab pendelten.

Der Baum, seine Gnade und Ruhe und Größe – und sein Weitblick segnete die Welt. „Sch-sch-sch“ – flüsterte der Baum – „zähme deine Wut, deinen Zorn – es gibt kein Böse auf Ewigkeit, auch der Henker und Mörder und Dieb wird zu Staub, der das Wurzelwerk des ewigen Lebens füttert. Und nach dem Winter kommt immer Frühling…“

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Und dann kam das Buch, und das Buch war die Bibel, und diese brachte neues Zeitalter mit sich. Die heilige Schrift verbreitete sich rasch, tauchte an entlegendsten Ecken des Kontinents auf – das Buch wurde zur Nadel und die Botschaft zum Faden, sie nähten den grünen Kontinent zusammen. Die Schneider waren lesekundige Mönche.

Die Kernbotschaft des Buches blieb lange unklar und diffus, und das Volk beobachtete die neue Mode mit Misstrauen: Wenn Jesus Gott war und ihm die Wiederauferstehung garantiert wurde, woraus sollte sein Opfer bestehen? Und wenn Jesus ein Mensch war, wie du und ich, wie sollte er mir Erlösung und ewiges Leben verheißen?

Die Sprache der Priester klang wirr und fremd, die neuen Geschichten spielten am Ende der Welt, in Wüsten und an Meeresküsten, die biblischen Orte und Helden trugen skurile Namen, auch die Tiere und Pflanzen, die im Buch der Bücher agierten, schienen mit dem Wald nicht das Geringste zu tun zu haben. Was soll man sich bitte schön unter einem Palmzweig vorstellen, oder einer Feige oder Löwen, wenn man nie welche gesehen hat?

Eingangs brachte die Bibel viel Verwirrung und Zweifel, die vagen und schlimmen Prophezeiungen machten die Botschaft nicht beliebter, aber das Buch selbst … Mit Silber und Gold beschlagen, von Edelsteinen schimmernd zog es die neugierigen Blicke auf sich – ein Schatz, vom Himmel gefallen, und die Hand langte nach ihm wie von allein.

 

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Durch den Tunnel des kargen Daseins kriechen – von Kirchenfest zu Kirchenfest, und keine Garantie für ein gutes Leben danach – die in dem prachtvollen Buch verschlüsselte Ideologie des Verzichts etablierte sich in Europa erstaunlich schnell und verpflichtend. Aber da wo Dogma herrscht, lechzen die Lebewesen besonders stark nach Alternativen (Seit mein Mann bei sich eine Katzenallergie diagnostiziert hat und dem Kater den Zutritt in sein Zimmer verweigert, sitzt das Tier stundenlang an der Türschwelle und schreit, als ob da, hinter der Tür, das ultimative Glück auf sich warten ließe).

Selbst die Mönche, die in Skriptorien an der Vermehrung der Heiligen Schriften arbeiteten, wurden allmählich ihrer monotonen Arbeit überdrüssig und begannen zwischen den sakralen Zeilen oder auf den Rändern etwas Nützliches oder Romantisches zu kritzeln, oder beides, wie hier:

Auf dem unteren Rand einer Seite der apokryphen Visio St. Pauli schrieb ein Mönch ein Rezept für die Besprechung und Zähmung des Bienenschwarmes kopfüber auf und die Formel gilt als die älteste gereimte Dichtung in deutscher Sprache:

Kirst, imbi ist hûcze
Nû fliuc dû, vihu mînaz, hera
Fridu frôno in munt godes
gisunt heim zi comonne
Sizi, sizi, bîna
Inbôt dir sancte Maria
Hurolob ni habe dû
Zi holce ni flûc dû
Noh dû mir nindrinnês
Noh dû mir nintuuinnêst
Sizi vilu stillo
Uuirki godes uuillon

Christus, der Bienenschwarm ist ausgeflogen!

Nun fliege du mein Tierchen wieder her,

Um in göttlichem Frieden, im Schutz Gottes

Gesund heimzukommen.

Sitze, sitze Biene!

Das hat dir die Heilige Maria geboten:

Abschied solltest du nicht nehmen,

Zum Wald solltest du nicht fliegen,

Weder sollst du mir entwischen

Noch sollst du mir entweichen!

Sitze ganz stille:

So wirke Gottes Wille!

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So bekam die mächtige Bibel allmählich tüchtig Konkurrenz.

Niedergeschrieben wurden Verse, Sprüche, Gerüchte, Heldentaten des eigenes Königs, Untaten der Nachbarfürsten. Dazu die Entstehungsgeschichte der Welt und ein paar Rezepte für Gifte mit Angaben zu optimalen Mischungen (eine Prise für die Maus, eine Schöpfe voll für ein Frauenzimmer). 

Und hier ist das erste Prosawerk und Rechtsbuch in deutscher Sprache, das ich im Magdeburger Kunsthistorischen Museum aufspürte.

Und hier ist das erste Prosawerk und Rechtsbuch in deutscher Sprache, das ich im Magdeburger Kunsthistorischen Museum aufspürte.

In die hermetische westeuropäische Welt sickerten Studien arabischer Gelehrten, antike Texte tauchten auf – und konnten Christen zum Denken, Zweifeln und Lachen verführen, galten als gefährlich und wurden am meisten begehrt.

Auch in meiner Jugend gab es verbotene, im Ausland gedruckte Bücher, die bekam man meistens nur für kurze Zeit, und wer so ein Buch oder Manuskript besaß, war mächtig wie Saruman.

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Und dann kam Gutenberg, und die Bücher fingen an, sich rasant zu vermehren. Bald verblassten die Farben, auf ihren Mänteln trugen die Bände nun selten Gold oder Silber, immer öfter waren es gemeine, grobe Hände, die nach einem Buch griffen. Das Buch wurde zum Schlüssel der europäischen transnationalen Aufklärung – Voltaire machte mit seinen Büchern eine so steile Karriere, dass er mehrere Monarchen beraten und belehren durfte, Goethe hielt mit seinem „Faust“ dem neuen, nach Wissen, Tat und Grenzüberschreitung dürstenden Kontinent einen Zauberspiegel vor, in dem Warnungen für alle künftigen Katastrophen und Höhepunkte von Europa verschlüsselt sind, Tolstoj steckte mit seinen Werken Millionen Seelen mit radikaler Empathie für Mensch, Tier und Baum an…

Hier in den Messelabyrinthen will man glauben, dass die abertausendmal potenzierte Wirkung des Buches im Stande ist, unsere Welt wachzurütteln. Bücher, Bücher, Bücher – über Tod, Liebe, Ungerechtigkeit, Intrigen, die Abgründe der Pornographie, die Schönheit der Tiere und die Hässlichkeit des Krieges. Es gibt Bücher über Menschen auf der Flucht und über Menschen in Wut, über leckere Speisen, ferne Länder und die Verwurstung der Erde – alles ist gesagt, wir sind über alle Tief- und Höhepunkte unseres Denkens und Tuns aufgeklärt und wir sind gewarnt – und?

Um sieben, als die Hallen geräumt sind, fliegen kleine und große Papierschnipsel durch die großen Tunnel, die Wachmänner leiten die letzten einzelnen Besucher zum Ausgang. Der Bus kommt erst in zwei Stunden, ich versuche die Zeit bei MacDonalds zu vertreiben, aber als ich wieder draußen bin, fühle ich mich endgültig verloren: Es ist dunkel, die Haltestelle, an der man mich einsammeln soll, ist ein einsamer Pfosten im verschneiten Feld. Und wenn man mich hier vergessen hat? Ich bin ganz allein auf der Welt, die Erde ist weiß, der Himmel schwarz, die Sterne zwinkern kalt und gleichgültig über der Schneewüste im März.

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Einige auf der Messe gefeierte Titel habe ich mir bei der Magdeburger Buchhandlung in der grünen Zitadelle bestellt. Ohne Nacht gibt es keinen Tag – ich betrete den kleinen, mit Büchern umstellten Raum.

Ein kleines Gegengift gegen die nächtliche Leipziger Melancholie – kein unberechenbarer Bücherozean, sondern ein kleiner, gemütlicher Teich, mit Bäumchen und Pflanzen, von einer sorgsamen Fee gepflegt. Holzegale zwischen den Bogenfenstern, ein Sofa mit orientalischen Kissen – der Laden gleicht einer Schatzkiste, er ist schmuck und rund und sogar ein bisschen heilig, wie ein Osterei.

Wie gesagt, es gibt auch Ecken in Magdeburg, von denen aus der majestätische Dom geheimnisvoll aussieht und schmuck, nicht zu groß, nicht zu klein, genau richtig.

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