Der Magdeburger Meister (1)

„Der Mensch hat eine Seele“ hat er an seine Ateliertür geschrieben. Aber nicht nur die von ihm geschaffenen Menschen, auch die Sterne, Wolken, Engel, Tiere und Gräser sind beseelt – das verblüffte mich schon bei meiner ersten Begegnung mit einigen von ihnen vor vielen Jahren. Eines Tages hatte ich mich auf den Weg gemacht, um mir Werke des Naumburger Meisters anzuschauen, dabei entdeckte ich einen anderen, den aus Magdeburg, er heißt Heinrich Apel.
Zu den Stifterfiguren hinaufschauend lief ich durch den Naumburger Dom, den Kopf im Nacken, daher hätte ich die kleinen bronzenen Figuren, die den Handlauf der Treppe zum Ostchor schmücken, beinahe übersehen. Es waren Vögel, Schlangen, Eidechsen, Käfer, winzige Drachen und sogar eine lebendige Ranke – sie alle zogen den Handlauf empor zu dem Mann, der die Spitze des Eisengeländers krönte.
Es war der Hl. Franziskus, der vor den Vögeln predigte. Vor seinen Füßen saß eine bronzene Libelle, unten schloss die Prozession ein Pfau ab, dessen zusammengelegter Schweif ein perfekter Knauf war, der sich an die Handfläche anschmiegte.

Wie haben die Figuren die Jahrhunderte so gut überstanden? – staunte ich, fest davon überzeugt, dass die Figuren wie der Dom aus den Zeiten der Romanik stammten. Als ich aber erfuhr, dass es sich um Arbeiten eines modernen Künstlers handelt, staunte ich noch mehr und staune immer aufs Neue, wenn ich für mich neue Arbeiten von Heinrich Apel entdecke. Ich staune über seinen Mut, von dem aufdringlichen Kanon moderner prominenter Künstler abzuweichen: Tragik statt Hysterie, Humor statt Spott, Demut und Maß statt Hochmut und Hybris.

Unser heutiges Dasein ist von Veränderung, Bewegung und Beschleunigung besessen. Wenn es von allem so viel gibt, muss alles um Aufmerksamkeit kämpfen, um dann schnell zu verfallen, um den begrenzten Platz in den Köpfen und auf den Regalen zu räumen. Auch Kunst handelt aus einem sehr schlichten Impetus heraus: „Schau mich bitte an, ich zeige dir noch nie Dagewesenes“.
Verankert in der Konjunktur des Augenblickes, vom Ego des Künstlers überschattet, schauen diese Früchte des Einfalls herablassend auf die Vergangenheit und daher werden sie nie Teil der Zukunft sein – dachte ich mir, als ich mich einst in einem Museum vor einen aus menschlichen Fäkalien geformten Kopf verschlagen fand.
Zugegeben, es war eine starke Emotion und dieser Augenblick ist mir in Erinnerung geblieben, aber war das ein Kunstwerk, oder ein Kunststück, ohne Gebrauchsanweisung ungenießbar?

Die Begegnung mit den Werken von Heinrich Apel im Naumburger Dom versöhnte mich mit der zeitgenössischen Kunst. Seinen Franziskus schloss ich sofort in meine innere Sammlung ein und stellte ihn neben den Franziskus von Giotto di Bondone, dem Alten Großen Meister aus Florenz.

Giotto zeichnete auf Steinen Schafe, die er als Kind hütete, so meisterhaft, dass keiner – auch er selbst nicht – an seine außerordentlichen Begabung zweifelte. Auch Heinrich Apel wusste sofort, was seine Berufung war, als er am Tag der offenen Tür in die Kunsthochschule auf Burg Giebichenstein in Halle kam und sich umsah. Bald darauf folgen die Aufnahmeprüfungen und im Herbst 1953 begann sein Studium. Im ersten Jahr Reliefs, im zweiten Porträts oder baugebundene Kunst und dazu das regelmäßige Aktzeichnen – „das war das A und O, vergleichbar mit dem täglichen Üben eines Klavierspielers“, sagt Heinrich Appel in einem Interview. Wenn er über seine Jahre in der Kunsthochschule spricht, erwähnt er immer dankend die Namen seiner Lehrer und Kollegen, die für seinen Werdegang wichtig waren und ihre Arbeiten stellt Heinrich Apel neben die seinen.

Wenn man durch die Hallen von Schloss Hundisburg geht, spürt man die Verwandtschaft der Zunftbrüder, die der Welt eine Seele zumuten.

Glück im Unglück für den jungen Bildhauer war die Tatsache, dass die deutschen Städte damals noch in Ruinen lagen – die Wiederherstellung der beschädigten Baudenkmäler brauchte Talente. Noch während des Studiums machte Heinrich Apel Praktika in der Dombauhütte am Magdeburger Dom, wo sich auch seine ersten Arbeiten befinden. Nicht nur in Magdeburg, sondern auch die Dome in Quedlinburg, Halberstadt, Stendal und auch Dorfkirchen waren sein Aufgabengebiet. Manches Objekte mussten restauriert werden, die anderen – nach historischen Vorlagen wiederhergestellt und vieles – neu geschaffen: Wasserspeier, kirchliches Gerät, Türklinken.

Was für eine anspruchsvolle Aufgabenstellung für einen Künstler – sich mit den großen Meistern der Vergangenheit zu messen, ohne sie herauszufordern, sie stattdessen zu ergänzen, den Faden ihrer Gedanken aufzugreifen und ihr Erzählen  fortzusetzen.


Fortsetzung folgt…

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