Angela Merkel

Ich weiß noch, wie meine Patentante Waltraud, Oberstudienrätin a.D., voller Verachtung zu meinem Vater sagte: „Die Merkel? Die stellt doch nichts dar.“

Es muss Anfang der Nullerjahre gewesen sein, Helmut Kohl war gerade über die Parteispendenaffäre gestolpert, die nächste Bundestagswahl stand ins Haus, und man unterhielt sich am Rande einer Familienfeier über den bestmöglichen Kanzlerkandidaten der Union. Stoiber war zu ungelenk, verhaspelte sich ständig oder nuschelte, Volker Rühe war zu dröge und außerdem ein Gewährsmann Kohls, dessen Zeit auch in meiner rückwärts gewandten Familie abgelaufen war, Schäuble saß im Rollstuhl, Jürgen Rüttgers war eine rheinländische Kopie Stoibers und Christian Wulff einfach noch zu jung. Und Angela Merkel, wie gesagt, stellte nichts dar.

  Denn darum geht es in meiner Familie bis heute: ob einer was darstellt. Was hermacht. Sich sehen lassen kann zumindest. Egal, ob er korrupt ist, möglicherweise ausländerfeindlich oder das Arbeitslosengeld kürzt. Hauptsache, er stellt was dar. Ach ja, und von der Union muss er natürlich auch sein. Das ist sogar das Allerwichtigste. Nur so ist es zu erklären, dass Tante Waltraud 2005 dann doch Angela Merkel gewählt hat. Und mein Vater es bis heute tut. Eine Frau aus dem Osten, die ihren Badeanzug zum Trocknen auf den Balkon hängt und zum Wandern in die Berge geht. Aber das hatte Helmut Kohl ja auch schon getan; das mit dem Wandern natürlich nur.

  Als meine Mutter meinen Vater kennenlernte, hatte ihr Vater nur eine einzige Frage: „Ist er katholisch?“ – „Ja“, antwortete meine Mutter. Und damit war alles klar. Nun ist Angela Merkel evangelisch, aber das sei ihr verziehen, schließlich war ihr Vater Pfarrer. Und vor allem ist die CDU noch immer katholisch, zumindest in Westfalen, wo meine Eltern leben.

  Und so haben sie über die Jahre ihren Frieden mit Angela Merkel gemacht. Meine Mutter schimpft manchmal über ihre Kostüme, auch diese komische Merkel-Raute gefällt ihr nicht, und mein Vater meint, nun sei es aber langsam auch mal genug. Ihr gemeinsamer Favorit auf die Merkel-Nachfolge ist übrigens Friedrich Merz. Der stellt was dar. Egal, ob er als Millionär den sozial Schwachen ans Leder will oder die letzten Jahre kein politisches Amt hatte, auch als langer Lulatsch macht er immer noch mehr her als der kleine pummelige Türken-Armin aus Aachen, über den schon seine Frau sagte: Hab halt nichts Besseres gefunden.

  Und selbst ich, der Angela Merkel nie gewählt hat, kann ihrem Politikstil in der Zwischenzeit etwas abgewinnen, vor allem vor dem Hintergrund von selbstverliebten Autokraten, unberechenbaren Selbstdarstellern oder vollmundigen Eintagsfliegen. Die Frau ist unaufgeregt, zäh und gibt einem nicht das Gefühl, sie würde die Hand aufhalten.

  Warum ich das alles aufschreibe? Weil mir in Magdeburg und Umgebung, seitdem ich hier bin, ein regelrechter Merkel-Hass entgegenschlägt. Es scheint nicht zu genügen, ihre Politik abzulehnen, sich einfach nur frisches Blut an der Spitze des Landes zu wünschen oder auch nur mehr Führung und Emotion, nein, man muss sie auch noch hassen. Mir ist dieser Merkel-Hass an den unterschiedlichsten Orten entgegengeschlagen: bei Behördengängen genauso wie auf Demos gegen Corona-Beschränkungen auf dem Alten Markt, in Gesprächen mit Pensionswirten, Friseuren und Gemüsehändlern. Wenn ich Freunden und Bekannten davon erzähle und wir gemeinsam nach den Ursachen forschen, dann landen wir immer wieder bei der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015. Aber ich will mich damit nicht zufrieden geben. Schröder hat Hartz-IV eingeführt und wurde trotzdem nicht gehasst. Empörung, Wut, Entsetzen in den eigenen Reihen, bis hin zur Abspaltung, zur Gründung der Linkspartei, das ja, aber Hass? Helmut Kohl hat man mal mit Eiern beworfen, vor dem Stadthaus in Halle, aber ich war dabei, als er in Leipzig ein letztes Mal Wahlkampf führte, eine Weihestunde, der Atem der Geschichte wehte über den Marktplatz, als die Nationalhymne gesungen wurde und die Deutschland-Fahnen geradezu andächtig im frühen Herbstwind wehten; kein Vergleich mit dem sachlichen Auftritt von Gerhard Schröder ein paar Wochen zuvor auf dem Hallenser Marktplatz, der übrigens nur spärlich besucht war, während Kohl noch immer die Massen anzog. Woher also diese persönliche Konturierung, wenn es um Merkel geht, dieser human factor, den ich vor allem im Osten und in den Monaten meiner Stadtschreiberschaft so oft in Magdeburg spüre? Warum dieses Gefühl, hier werde Politik geradezu persönlich verübelt? Etwa doch, weil sie eine von hier ist, weil sie den Osten verraten, gar vergessen hat, wo sie herkommt? 

  So sitze ich auf einem Rätsel, von dem ich gar nicht weiß, ob ich es lösen möchte. Vielleicht weht mich die Antwort ja noch an, auf meinen Streifzügen durch die Stadt, die mir den Jahren der Merkelschen Kanzlerschaft – 2004 war ich zuletzt hier, da war sie noch nicht mal im Amt – jedenfalls nicht verloren zu haben scheint.

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